China-Boom, Krise der CD und neue MusikfilmeBeobachtungen bei der MIDEM 2008 in Cannes
Zur Strategie der westlichen Konzerne gehört die klare Erwartung, dass mit den Jahren das Copyright-Problem in den Griff zu bekommen ist durch Erziehung, durch Veränderung des Bewusstseins, durch Marketingmaßnahmen und vielleicht auch mit Strafen für Gesetzesverstöße. Wenn es denn funktionierende Gesetze hier einmal geben sollte. An den Erfolg juristischer Drohungen glaubt indes niemand. Man sucht andere Wege, wie zum Beispiel beim Download-Portal „Top 100“, ein Joint Venture zwischen einem chinesischen Basketball-Star und englischen Investoren. Die Musiktitel internationaler Labels kann man hier auf die chinesische Tour herunterladen, und das heißt: gratis. Finanziert wird das Ganze aber durch Werbung. In welchen Dimensionen im Chinageschäft gedacht wird, zeigt auch der Vertrag, den nun die englische Internetfirma Ricall mit dem chinesischen Partnerunternehmen Ocean Butterflies Ozeanschmetterlinge abgeschlossen hat. Auf der Ricall-Website kann man online Lizenzgeschäfte mit 25.000 Copyright-Inhabern abschließen, rund drei Millionen Musiktitel stehen zum Handel bereit. Die Ozeanschmetterlinge machen dieses Angebot nun auf eigenen, lokal angepassten Portalen fernöstlichen Kunden zugänglich, und zwar nicht nur in China, sondern auch in Hong Kong, Singapur, Taiwan und Malaysia, wo rund 1,5 Milliarden Menschen leben. Gegenwärtig verlaufen die Musikgeschäfte mit China noch in einer Einbahnstraße, von West nach Ost. Einen chinesischen Export in westliche Länder gibt es kaum. In Bejing macht man sich denn auch Gedanken über die kulturellen Folgen dieser westlichen Invasion.
Und was die Zukunft der bisher einseitigen musikalischen Kontakte angeht, so kennt Xinjian Zhang klare wirtschaftliche Zielsetzungen:
Im Schatten des marktbeherrschenden Pop werden aber auch bereits gute Geschäfte mit klassischer Musik und Musikpädagogik gemacht. Der Verlag Schott in Mainz zum Beispiel verfügt über exzellente Kontakte zu chinesischen Verlagen. Er bringt nicht nur Editionen mit europäischer Musik und Übersetzungen von Musikbüchern in China auf den Markt, sondern auch neue chinesische Musik bei uns. Das geschieht in enger Zusammenarbeit mit den chinesischen Verlagen. Doch auch im Klassikbereich gibt es gravierende Problem mit Copyright-Verletzungen. Niedergang der CD, Aufstieg des Online-GeschäftsDie spektakulärsten Auswirkungen hat die Musikpiraterie und nicht nur die chinesische noch immer auf das Tonträgergeschäft. Die Verkaufszahlen der CD befinden sich weiterhin auf Talfahrt. Rechtzeitig zu Beginn der MIDEM veröffentlichte die französische Tonträgerindustrie ihre neuesten Verkaufszahlen: Der CD-Verkauf in Frankreich schrumpfte im vergangenen Jahr um weitere 17 Prozent, bei den Singles, die in direkter Konkurrenz zum Internet-Download stehen, sogar um 52 Prozent. Doch von Krise redet kaum noch jemand. Die schleichende Herabstufung der einst marktbeherrschenden CD zu einem Medium unter vielen wird emotionslos hingenommen, und alles wartet auf den großen Durchbruch im Internet mit legalen Downloads. Wenn der kommt und darauf deutet einiges hin so bringen nach Jahren der Dürre die bestehenden Rechte erneuten Gewinn. Übertriebener Optimismus ist zwar nirgendwo erkennbar, aber immerhin ist die Katastrophenstimmung der vergangenen Jahre verflogen. Die Weichen zum Durchbruch im Online-Geschäft werden gerade gestellt. Dazu gehört der schrittweise Verzicht der Majors auf den Kopierschutz per Digital Rights Management; Ende 2007 hat auch Warner, ein marktbestimmender Multi, angekündigt, sich vom verkaufshemmenden DRM zu verabschieden. Und fast gleichzeitig wurde bekannt, dass das Internet-Portal von Amazon zur Download-Plattform ausgebaut werden soll, was eine starke Konkurrenz zum gegenwärtig marktbeherrschenden Unternehmen iTunes bedeutet. Solche Maßnahmen dürften mittelfristig den Weg zum Massenmarkt ebenso ebnen wie die gegenwärtig diskutierte Anpassung des europäischen Urheberrechts. Die Kardinalfrage lautet nach wie vor: Wie lassen sich die riesigen Vorteile des Internets als Vertriebsmedium nutzen, ohne dass es zu einem Copyright-Desaster kommt? Während in den Roundtables in Cannes die Juristen, CEOs und Labelmanager über globale Strategien berieten, wurden im Ausstellungsbereich bereits praktische Lösungen zum individuellen Gebrauch präsentiert. Sie funktionieren außerhalb der schwerfälligen Strukturen der Multis und benötigen einzig eine Software in der Art, wie sie nun das österreichische Miniunternehmen rebeat.com in Cannes vorstellte. Nach Abschluss eines Vertrags kann hier jeder Autor mit ein paar Klicks seine Musiktitel in eine Datenbank einstellen, die wiederum mit den führenden Musikportalen vernetzt ist. Globale Verträge mit deren Betreibern sichern den Rückfluss der Downloadgebühren. Die Provisionen halten sich im Rahmen, das ganze Abrechnungsverfahren ist automatisiert und damit extrem kostengünstig. Der Rundfunk als Produzent: Bedrohliche Konkurrenz für die selbständigen LabelsDie Rechte von Autoren und Interpreten werden nicht nur von den viel gescholtenen Jugendlichen ohne Unrechtsbewusstsein oder den Piratenunternehmen aus Fernost untergraben. Das können auf ganz legale Weise auch ehrenwerte Unternehmen in unserer nächsten Umgebung tun. Darauf wies bei der Preisverleihung des Cannes Classical Award der Inhaber der schwedischen Firma BIS Records hin, als er die Auszeichnung zum „Label des Jahres“ entgegennahm: Die europäischen Rundfunkanstalten diktierten bei ihren Musikproduktionen den Interpreten zunehmend Vertragsbedingungen, die eine vollumfängliche Abtretung der Rechte an der Aufnahme zum Inhalt hätten. Durch den Programmaustausch würden diese Aufnahmen dann beliebig oft und abgeltungsfrei gesendet zum Nachteil nicht nur der Interpreten, sondern auch der um ihr Überleben kämpfenden unabhängigen CD-Labels, die gegen die mächtige Konkurrenz nicht mehr ankämen. Musikfilme im AufwindEine informatives Schaufenster für neue Musikfilme stellt die Neuheitenschau dar, die das IMZ, das Internationale Musik- und Medienzentrum Wien, jährlich im Rahmen der MIDEM durchführt. Die audiovisuelle Klassikproduktion expandiert, auch wenn wegen des schrittweisen Rückzugs der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten aus den altbewährten Koproduktionsmodellen die Finanzierung schwieriger geworden ist. In die Lücke stoßen inzwischen private Investoren, die im Bereich des gehobenen Home Entertainments ein Zukunftspotenzial wittern. Ein Großteil der rund dreihundert Neuerscheinungen, die die im IMZ zusammengeschossenen Produzenten, Vertriebe und Medienunternehmen in Cannes nun wieder vorgestellt haben, erscheint über kurz oder lang auch als DVD. IM Gegensatz zur CD scheint die DVD ihre Zukunft noch vor sich zu haben, zumal mit der Entscheidung der Marktführer für die Blu-Ray-Disc nun auch der Streit um das Nachfolgeformat der DVD geklärt ist. Irgendwann wird wohl auch die DVD respektive Blu-Ray-Disc vom gefräßigen Universalmedium Internet verschluckt werden, aber das könnte noch etwas dauern. Die nötigen Breitbandverbindungen sind noch längst nicht flächendeckend etabliert. Traditionelle Oper und die Ästhetik der neuen MedienEin Kerngebiet der DVD sind noch immer Opernverfilmungen, doch nicht alle sind so gut gelungen wie die wagemutige Produktion von Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ in der Bühnenregie von Martin Kusej, die nun mit dem Cannes Classical Award ausgezeichnet wurde. Erkennbar in den neuen Musikverfilmungen ist eine Tendenz, von der bloßen Abbildfunktion wegzukommen und die Möglichkeiten der ausdiovisuellen Medien erzählerisch zu nutzen mit genuin filmischen Aufnahme- und Schnitttechniken, mit der Einbeziehung von Backstage-Perspektiven oder bei der DVD mit Zusatztracks, die oft auf hohem Niveau Erhellendes zu Werk und Interpretation beitragen. Das alles macht die DVD zu einem eigenständigen kulturellen Informationsträger, der an die ästhetische Neugierde und Intelligenz des Publikums appelliert. Die Lust an der Erzählung zeigt sich besonders deutlich bei den Documentaries, die an Zahl stark zugenommen haben. Die Aufnahmen, die einen Künstler bei der Arbeit zeigen, werden angereichert mit dem Blick in das Privatleben: Karajan zwischen Beethoven und Swimmingpool. Human Touch ist gefragt, gerade auch bei den Stars, deren Karriere immer kürzeren Vermarktungszyklen unterworfen ist. Noch 2007 schien etwa Roberto Villazón im Verein mit Anna Netrebko für dauernden Erfolg im Musikfilmgeschäft zu bürgen; in diesem Jahr wurde auf den öffentlichen Podien bereits wortreich sein Niedergang beklagt. Doch mit dem Enthusiasten Gustavo Dudamel steht schon der nächste Medienliebling auf der Liste, der bei Produzenten wie beim Publikum einhelliges Entzücken auslöst. An die Stelle eines neutralen Off-Kommentars treten in neuen Produktionen häufig prominente Sprecher, so etwa der Popmusiker Sting, der in „Twin Spirits“, einem englischen Film über Robert und Clara Schumann, Roberts Liebesbriefe liest, oder Armin Mueller-Stahl, der als Kommentator durch die exzellente Schostakowitsch-Dokumentation der Münchner Loft Music führt. Als Meister in dieser Disziplin erweist sich einmal mehr Michael Tilson Thomas, wenn er mit seinem Orchester, der San Francisco Symphony, ein Aron Copland-Porträt zeichnet. Trockene Belehrung ist Vergangenheit, die heutigen Musikfilme suchen mit allen Mitteln die Nähe zum Publikum, wobei sich Entertainment und pädagogischer Anspruch auf eigentümliche Weise durchdringen. Doch das ist eine der vielen Charaktereigenschaften des schillernden Mediums DVD. Dafür steht in der Bezeichnung DVD das V: Versatil - vielseitig verwendbar. © Max Nyffeler 2008 (Datum/2001) |