Die Kindersoldaten der LustDer belgische Komponist Benoît Mernier bringt Wedekinds Frühlings Erwachen auf die OpernbühneIn Frühlings Erwachen, der ersten Oper des 43-jährigen Belgiers Benoît Mernier nach Frank Wedekind, gehört die Bühne ausschließlich den Heranwachsenden; die wenigen Erwachsenenrollen werden unsichtbar aus dem Off gesungen. Im Dekor von Vincent Lemaire, das auf kahle, nur von wenigen Farben aufgehellte Räume reduziert wird, entrollt sich über drei Akte hinweg ein Milieudrama, das harmlos beginnt und böse endet. Die Hauptfiguren sind pubertierende Schüler, die, mit dem Erwachen ihrer erotischen Gefühle konfrontiert, durch die lebensfeindliche Moral ihrer eigenen Eltern zugrunde gerichtet werden. Sie enden der Reihe nach in Selbstmord, Abtreibung, Homosexualität und Korrektionsanstalt. Der dreiundvierzigjährige Mernier hat in Lüttich Komposition und Orgel studiert. Seine Partitur hat er dem Opernkomponisten Philippe Boesmans gewidmet, den er zu seinen Mentoren zählt und dessen traditionsgebundener Handwerksbegriff ihm vermutlich einige Orientierungspunkte lieferte. Mit seinem über zwei Stunden dauernden Dreiakter ließ sich der Komponist auf ein durchaus heikles Unterfangen ein. Die verklemmte Sexualmoral mit ihren wirklichkeitsfremden Normen und Kleidervorschriften, die Wedekind in seinem Theaterstück einer ätzenden Kritik aussetzte, ist für das heutige Opernpublikum in weite Ferne gerückt. Das zeigt sich gleich im ersten Bild der Oper. „Ich ziehe mein Prinzesskleidchen wieder an“, singt die vierzehnjährige Wendla, als sie das wadenlange schwarze Tuch anprobiert, das ihr die Mutter zur Verhüllung ihrer entstehenden weiblichen Reize aufgedrängt hat. Auf die ihr unverständlichen Erwachsenengesetze reagiert sie mit kindlich-regressivem Trotz. Wir stehen hier im Grunde genommen vor dem Kopftuchproblem der wilhelminischen Epoche. Es ist zwar, wie man weiß, auch heute noch nicht aus der Welt, nur kennen die sozialen Milieus, in denen es fortbesteht, keine gutbürgerlichen Prinzesskleidchen, und sie eignen sich auch nicht besonders zum gediegenen Opernstoff. Wenn Mernier trotz aller Tücken des Sujets respektabel über die Runden kommt, dann liegt das an der Ernsthaftigkeit, mit der er hinter der fiebrigen Zeitkritik Wedekinds die Abgründe an seelischen Verhärtungen aufdeckt und den diagnostizierten Wertezerfall im Inneren seiner Figuren festmacht. Unterstützt wird er dabei durch das deutschsprachigen Libretto des belgischen Wedekind-Spezialisten Jacques De Decker, der die Vorlage auf rund ein Drittel eindampfte und von allen Nebensächlichkeiten reinigte. Die Autoren vermeiden eine voyeuristische Sicht ebenso wie eine tiefenpsychologische Deutung, die sich zwar aus der zeitlichen Nähe der Vorlage zu Freuds Untersuchungen über Sexualität angeboten, zu Merniers anti-expressionistischer, zur Abrundung tendierender Musiksprache aber kaum gepasst hätte. Sie rücken ihre Figuren auf teilnahmsvolle Distanz, stellen sie dar als hilflose Kindersoldaten auf dem von der Erwachsenenmoral verminten Schlachtfeld der Erotik. Die Musik verleiht ihnen die humane Würde tragisch scheiternder Individuen. Darin liegt ein Problem des Stücks. Die sorgsam ausformulierten Vokallinien und der delikate, unter der Leitung von Jonas Alber zu vorbildlicher Transparenz gebrachte Orchesterklang bringen nicht die Empfindungswelt von Halbwüchsigen, sondern von reifen Erwachsenen zum Ausdruck. Ein Zug zur Stilisierung, auch zur Verallgemeinerung des Ausdrucks ist unüberhörbar, zumal sich in den instrumentalen Gesten ein allzu selbstverständliches Vertrauen in die Wirkung approbierter musiksprachlicher Wendungen verrät. So ist die Musik manchmal gerade dort von besonderer Eindringlichkeit, wo Mernier traditionelle Gesten nicht fortzuschreiben versucht, sondern zum offenen Zitat greift, wie etwa in der exaltierten Knabenfantasie zu Beginn des zweiten Akts, die er mit einer Sequenz aus Cavallis Oper „Heliogabalo“ unterlegt. Die Wirkung dieser Szene verdankte sich freilich auch der darstellerischen Intensität von Michele Angelini in der Nebenrolle des Hänschen. Die jungen, aber nicht jugendlichen Darsteller bemühten sich nach Kräften um den schwierigen Einklang zwischen pubertärer Gefühlslage und elaborierter Gesangskunst, die Hauptrollen waren vorzüglich besetzt: Kerstin Avemo als erotisch neugierige Wendla, Thomas Blondelle als ihr problembeladener Schülerfreund Melchior, der grüblerisch-suizidal veranlagte Moritz von Nikolay Borchev und Gaële Le Roi als virtuos überdrehte Darstellerin der Ilse; diese Figur entwarf Wedekind als eine Art Vorstudie zur Lulu. Das Inszenierungsteam ließ sich so wenig wie die Autoren aufs ästhetische Glatteis führen und vermied eine vordergründige Aktualisierung in der Art einer heutigen Pausenhof-Soap mit Sex and Crime. Das zwischen psychologischem Realismus, Aktionstheater und in der von Wedekind übernommenen Figur des geheimnisvollen Fremden im Schlussbild allegorischer Überhöhung schwankende Geschehen formte der Regisseur Vincent Boussard zu einer Bilderfolge, die das heillos verfahrene Innenleben der Figuren behutsam ausleuchtete und mögliche Peinlichkeiten mit leiser Komik überspielte. Mit seinem figurativ ausdeutenden Duktus lässt der ambitioniert durchkomponierte Orchestersatz der Regie viel Zeit zur Entfaltung. Doch vermag die Musik die Spannung nicht immer zu halten, gerade bei exponierten Zwischenspielen, die fatalerweise die Erinnerung an Alban Berg wachrufen, aber weit hinter deren expressiver Dringlichkeit zurückbleiben. Vor allem gegen Schluss gibt es unüberhörbare Längen. Mit etlichen Strichen könnte dem abgeholfen werden, was die Chancen des Stücks für weitere Aufführungen zweifellos verbessern würde. Die Premiere von Merniers Dreiakter am 15. März bildete den Auftakt zum Brüsseler „Ars Musica“-Festival 2007. Es war zugleich die letzte Uraufführung an der Brüsseler Oper unter Bernard Foccroulle, der während seiner fünfzehnjährigen Intendanz einen starken Schwerpunkt auf die Moderne legte und nun die Leitung des Festivals in Aix übernommen hat. Man darf erwarten, dass er hier das erfolgreiche Modell einer Verbindung von traditionellem Repertoire und mutiger Erneuerung fortsetzen wird. © Max Nyffeler (16.3.2007) |