Diskussionspapiere von der Orchesterbefreiungsfront

Beobachtungen bei den Donaueschinger Musiktagen 2009

Die Versuche, das Sinfonieorchester aus seiner angestammten Rolle als Podiumsorchester zur Frontalbeschallung herauszulösen, haben in Donaueschingen nun schon eine lange Tradition. In einem ausführlichen Programmheft-Essay zu den diesjährigen Musiktagen gab Festivalchef Armin Köhler einen instruktiven Überblick über die Tendenzen in den letzten Jahrzehnten. Und zum Auftakt gab es nun wieder einmal einen solchen Versuch: die vierstündige Komposition „Doppelt bejaht“ von Mathias Spahlinger.

Wenn man die Baar-Sporthalle, einen der Spielorte der Musiktage, betritt, ist das Stück bereits im Gange. Die Musiker des SWR-Sinfonieorchesters sind auf mehrere Podien verteilt, dazwischen wandert das Publikum herum. Oben auf der Galerie sitzt der Komponist und hat als Einziger den Überblick über das Ganze. Die 24 sehr frei notierten Abschnitte, die ohne Dirigent in der Art einer komponierten Improvisation gespielt werden, dauern insgesamt vier Stunden. Doch braucht man sich gar nicht alles anzuhören. Raus und rein ist angesagt. Es wird vom Komponisten sogar ausdrücklich gewünscht, wie beim alten Wandelkonzert um 1970, als durch Aleatorik und offene Form die Musiker vom Diktat der Partitur und die Hörer vom Zwang zum linearen Hören befreit werden sollten.

Vorwärts in die Vergangenheit

Das wirkt heute ziemlich retrospektiv, und Mathias Spahlinger scheint es auch gar nicht groß zu stören, dass er in Sachen Wandelkonzert in den Fußstapfen von Ladislav Kupkovic wandelt. Doch eines muss man dem schlauen Fuchs lassen: Sein Stück ist strategisch genau positioniert. Indem er das überaus routinierte SWR-SO, dem solche Klanggesten und Artikulationsformen in Fleisch und Blut übergegangen sind, seinen Fundus an Spielpraktiken ausbreiten lässt, klingt alles immer perfekt up to date. Was man hört, ist eine Summe dessen, was unter dem Label „Neue Musik“ seit Jahrzehnten firmiert: Allusionen und Stilzitate von Schönbergs Farbenstück op. 16 Nr. 3 über die wohlklingenden Obertonsäulen der Spektralisten bis zu den scheppernden Impulsscharen, wie sie Lachenmann durch das Klopfen von Holzstäben auf die Notenpulte erzeugt hat. Das alles ist sehr gekonnt zu Klangprozessen verschmolzen, mit historischer Reflexion unterfüttert und durchaus anregend zu hören. Doch „auch das ausgefuchsteste Orchesterstück macht zur Zeit den Eindruck als sei es nur eine Variante anderer ausgefuchster Orchesterstücke." Sagte Heiner Goebbels vor bald zwanzig Jahren. (1)

Doppelte Verneinung bedeutet im Endeffekt Bejahung, und „Doppelt bejaht“ enthielte demnach auch eine Verneinung. In solch dialektischen Arithmetik zeigt der Titel seinen Hintersinn. Er signalisiert den Wunsch, die ganze obsolete Produktion von Orchestermusik im Orkus der dialektischen Negation verschwinden zu lassen. Und obsolet ist in den Augen Spahlingers eigentlich alles Komponieren, das nicht der dialektischen Erkenntnisgewinnung dient, wie er es beabsichtigt. Falsches Bewusstsein, soweit das Auge reicht, denn wir leben in der bürgerlichen Gesellschaft, und „unsere Produktion ist keine Produktion des Menschen für den Menschen als Menschen, d. h. keine gesellschaftliche Produktion“. Sagte Karl Marx, den Spahlinger im Programmhaft ausgiebig zitiert.

Die Furie des Verschwindens, die das Stück heraufbeschwört, verschluckt auch gleich noch die Theorien seines Schöpfers. Mit seiner offenen Form serviert es ein kulinarisches Hörangebot à la carte, was die Verbindlichkeit des Komponierten erheblich relativiert. Spahlinger, einer der letzten Kämpen auf dem Feld der adornitischen Moderne, liefert damit ein hübsches Beispiel von postmoderner Beliebigkeit.

Oper nach dem Baukastenprinzip

Der Wandelkonzert-Charakter hatte einen veranstaltungspraktischen Vorteil. Im Multitasking-Verfahren konnte man im Nachbargebäude eine parallel laufende Produktion auch noch gleich mitnehmen: „Batsheba – Eat the History!“, Teil 1, von Manos Tsangaris. Der Kölner Komponist, der eine fruchtbare Vorliebe für musikalisch-szenischen Miniaturismus hat, benutzt für sein Stück als Gattungsbegriff den Neologismus „Installation Opera“. Es war ebenfalls offen strukturiert, das Publikum wurde nach einem genauen Zeitplan in kleinen Gruppen hinein- und wieder hinauskomplimentiert, was ein bisschen an das Herumgeschubse der Passagiere am Flughafen erinnerte. In einem abgedunkelten Raum liefen mehrere Einzelszenen gleichzeitig ab: Frauenfiguren, die mit knappen Handlungsmustern je eine Facette des zeitlosen Themas „Die Frau als Verführerin und Sexobjekt“ illustrierten. Das alles in Greifnähe zum Zuschauer. Die simultanen Stimm- und Instrumentalaktionen summierten sich zu einem Raumklang mit zurückhaltend sinnlichen Reizen.

Tsangaris’ Oper über die alttestamentarische Erzählung um König David von Liebe und Mord, Macht und Eifersucht erstreckte sich als Fortsetzungsgeschichte über zwei Tage und fünf Veranstaltungsorte – ein interessanter Einfall, der leider in der Umsetzung nicht immer zu fesseln vermochte. Das monströse Thema wurde durch die Zerlegung in festivalkompatible Häppchen und die inszenatorische Statik im Grunde genommen verschenkt. Ob die Kreierung des neuen Trendbegriffs „Installation Opera“ den Mangel an musikdramatischer Überzeugungskraft wettmacht, muss der Komponist mit sich selbst ausmachen. Den Musikern des SWR-Sinfonieorchesters, die hier auch solistisch und in kammermusikalischen Gruppen auftreten konnten, machte die Zusammenarbeit mit Tsangaris aber offensichtlich Spaß, und sie verliehen ihm am Schluss der Musiktage den Kompositionspreis des SWR-Sinfonieorchesters.

Wie schlecht geht es dem Orchester?

Auch wenn solche Orchesterexperimente in Donaueschingen mittlerweile Tradition haben – das klassische Orchesterkonzert ist nicht umzubringen. Das Schlusskonzert unter der Leitung von Beat Furrer mit Werken von Salvatore Sciarrino, Rolf Riehm und Furrer zeigte gerade mit den drei extrem unterschiedlichen Stücken, welch konzentrierte Kraft von dieser angeblich überholten Art des Musizierens noch immer ausgeht. Liegt das viel zitierte Problem namens Orchester vielleicht doch gar nicht so sehr am Orchester selbst, sondern eher an den häufig untauglichen Versuchen, es auf irgendeine Weise „umzufunktionieren“? Letzteres, das muss man zugeben, ist gerade im praktischen Scheitern für den schnelllebig gewordenen, auf saisonale Sensationen anspringenden Fachdiskurs allemal attraktiver als die mühselige Auseinandersetzung mit musikalischen Detailfragen in einer Partitur mit Langzeitwirkung. (2) Insofern spielen Konzepte wie dasjenige von Mathias Spahlinger - und weniger auch das von Manos Tsangaris - die Rolle von Diskussionspapieren, um das alte Thema nicht ganz aus dem Blickfeld geraten zu lassen.

Zum Schwerpunkt Orchester gab es neben der traditionellen Jazz-Session am Samstag Abend noch zwei Ensemblekonzerte mit Live-Elektronik, in denen etwas vom freien Musizieren anderer Musiksparten spürbar wurde, was das Programm durchaus belebte. Das Niveau war allerdings sehr unterschiedlich. Ratlos machte die Komposition „Incubus III“, eine kaum verhüllte Vergewaltigungsfantasie des in Kalifornien lebenden Peruaners Jimmy Lopez. Ebenso pausenlos ärmelzupfend, aber viel reflektierter und in der Machart facettenreicher, war „Introduction aux ténèbres“ auf drei Texte aus der Apokalypse von Raphaël Cendo; mit dem Stück riss das Brüsseler Ensemble Ictus das Publikum in der Matinee aus seiner Sonntagsruhe. Der 34-jährige Franzose verwandelte die Weltuntergangsvisionen in reißende Klangstrudel, die in grellen Farben funkelten, dazu kam ein hoch virtuoser Bariton, der mit Zombiestimme die Texte mehr ächzte, krächzte und schrie als rezitierte und sang. Ein Hauch von Gothic Culture wehte durch den Saal und hinterließ einige indignierte Gesichter.

© Max Nyffeler

Anmerkungen

1. WochenZeitung Nr. 44, Zürich, Oktober 1990 ( oben)
2. Auch dieser Text fällt in gewisser Hinsicht darauf herein. Auf die "tradionell komponierten" Werke des Schlusskonzerts soll aber andernorts noch eingegangen werden. ( oben)

Veröffentlicht am 20.10.2009

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