Majors und neue Musik

Wenig Mut zum Wagnis

Eine Reihe interessanter Veröffentlichungen hat in jüngster Zeit den Eindruck erweckt, als ob sich die grossen Plattenlabels auf ihrer Suche nach neuen Hörerschichten vorsichtig der musikalischen Gegenwart öffnen wollten. Oder überlassen sie angesichts der Geschäftsbilanzen die Entdeckung des Neuen vielleicht doch lieber den engagierten Kleinfirmen?

"Who is afraid of 20th century music?" heisst eine CD der Firma EMI mit der Aufzeichnung des letzten Silvesterkonzerts des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter seinem Chefdirigenten Ingo Metzmacher. Mit einem munteren Potpourri der leichten Moderne von Igor Strawinsky bis John Adams empfiehlt sich die Veröffentlichung als eine Art zeitgemässe Alternative zum traditionellen Wiener Neujahrskonzert; ihr Adressat ist der aufgeschlossene Zeitgenosse, der sein Hörvergnügen auch diesseits von Johann Strauss sucht. Wagt hier eine grosse Plattenfirma den längst fälligen Versuch, die neue Musik von ihrem oft unbegründeten Ruf als Publikumsschreck zu befreien? Auch andere Neuerscheinungen in jüngster Zeit machen den Anschein, als würde die grossen Labels nun langsam die Moderne als marktfähige Ergänzung zum Klassikrepertoire entdecken, als würden sie dem Gerede, das Klassikpublikum sei für Musik jenseits der Dur-Moll-Tonalität nicht zu haben, selbst nicht mehr so richtig glauben.

Gerade von den deutschen Niederlassungen der Medienmultis gingen in den letzten zwei Jahren einige bemerkenswerte Initiativen aus. Teldec (Warner Music International) trieb ihre Reihe "New Line" voran, die zuletzt in der Produktion von Luigi Nonos exponiertem Bühnenwerk "Al gran sole carico d’amore" gipfelte. Die Deutsche Grammophon (Vivendi Universal) bündelte zum Jahrhundertwechsel ihre Aktivitäten mit neuer Musik in der Reihe "20/21", in der sie auch extrem aufwändige Opernneuproduktionen wie Messiaens "St. François d’Assise" oder "Drei Schwestern" von Peter Eötvös herausbrachte. Und BMG, die Musiktochter von Bertelsmann, liess sich auf das Abenteuer ein, in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Musikrat die auf 150 CDs geplante Reihe "Musik in Deutschland 1950-2000" zu edieren.

Doch bei näherem Hinsehen ergibt sich ein widersprüchliches Bild, und es lässt sich nicht leicht erkennen, wo es sich um Strohfeuer, wo um Zeichen eines beherzten Aufbruchs in Neuland handelt. Eindeutig scheint die Lage nur bei der Deutschen Grammophon Gesellschaft zu sein, die auch unter dem Dach des Medienmultis Vivendi Universal ein führender Produzent von Klassik inklusive 20. Jahrhundert zu bleiben gedenkt. Ihr Künstlerischer Direktor Martin Engström versichert, der oberste Konzernchef Jean-Marie Messier sei ein grosser Klassikliebhaber, der die Rolle der DGG als kulturelles Flaggschiff innerhalb des Konzerns in jedem Fall beibehalten wolle. Auch die kostenintensive Reihe "20/21" sei unter diesem Aspekt zu sehen: Eine luxuriöse, aber prestigeträchtige Verpflichtung für die Gegenwart mit der Hoffnung auf Ertrag in der Zukunft.

Anderswo lässt der scharfe Blick der Controlling-Abteilung den Mut zum Neuen schnell schrumpfen. Bei der Kölner Filiale der englischen EMI, die nur punktuell neue Musik produziert, will man die Reihe der Silvesterkonzerte mit Metzmacher nicht weiterführen; selbst dieses durchaus populäre Produkt, erklärt Marketing-Chef Andreas von Imhoff, findet nicht den Absatz, der die Konzernvorgaben aus London problemlos erfüllt. Düster sieht es auch bei der Teldec-Serie "New Line" aus: Sie liegt auf Eis, seit Warner im letzten April verlauten liess, Teldec Hamburg und das Pariser Erato-Label würden zusammen gelegt und von London aus gemanagt. Begründung: "Wir reagieren damit auf die neuen ökonomischen Erfordernisse auf dem sich stetig verändernden Klassik-Markt." Der Globalisierungsprozess macht auch vor dem Geschäft mit der klassischen Musik nicht Halt. Zwar heisst es bei Teldec, dass die zeitgenössische Musik unter anderem Reihentitel in London fortgesetzt werden soll. Doch vermutlich werden dann auch die Inhalte den ökonomischen Erfordernissen angepasst, sprich: auf ihre Eignung für internationale Märkte geprüft. Da steht die amerikanische Minimal Music als globale Passepartout-Ästhetik ganz obenan, zumal man sich bei Warner rühmen kann, dass Komponisten wie Adams, Glass und Reich dem Konzern – teils über das Label Nonesuch - seit über zehn Jahren exklusiv verbunden sind. Ein Komponist wie Nono mit seiner europäisch geprägten Intellektualität muss aus dieser Sicht als zweitrangiger Lokalmatador gelten.

Bedeutenden Einfluss auf die Entscheidung der Majors, ob und welche neue Musik produziert werden soll, haben die exklusiv unter Vertrag stehenden Spitzeninterpreten mit Ambitionen fürs Neue. Die Zusammenarbeit mit ihnen, sagt Engström, sei eine eheähnliche Beziehung, man gestehe dem Partner über Jahre hinweg sehr vieles zu. Auch kommerziell Unergiebiges. Bei der DGG brachten früher Musiker wie Abbado und Pollini dezidiert neue Musik in den Katalog, jetzt ist ihnen der Dirigent Pierre Boulez in dieser Rolle nachgefolgt. Die englische EMI sieht sich mit ihrem Exklusivkünstler Simon Rattle nach dessen Ernennung zum Chef der Berliner Philharmoniker plötzlich in einer hochinteressanten Ausgangsposition, muss aber zugleich schlucken, dass der Dirigent die extrem teure Produktion von Schönbergs "Gurreliedern" als Morgengabe auf den Tisch legt. In England nahm EMI auch Rattles Schützling Thomas Adès als Hauskünstler mit Stipendium unter Vertrag. Als Komponist mit gediegener Handschrift, als versierter Dirigent, Pianist, Programmberater und Festivalchef ist der begabte Dreissigjährige im englischen Musikleben bereits fest etabliert, seine internationalen Karriere ist so gut wie gemacht. Für beide Seiten eine todsichere Angelegenheit.

Wo die ökonomischen Zwänge das Programm diktieren, kommt künstlerisch in der Regel bestenfalls Mainstream heraus. Das Wagnis, neue, noch wenig bekannte Namen zu produzieren, überlassen die Majors in der Regel den kleinen Speziallabels. Hier ist noch zu finden, was im Buchbereich "Verleger aus Leidenschaft" genannt wird, der engagierte Kämpfer für seine Produkt. Einer davon, Manfred Eicher, hat sich im Lauf der Jahre durch eine unbeirrte Repertoirepolitik mit seinem Label ECM so gut am Markt positioniert, dass er heute in weitgehend sicheren Gewässern operieren kann. Das ist aber die Ausnahme. Ein Unternehmen wie das Wiener Label "Kairos", das vor zwei Jahren mit viel Optimismus gegründet wurde, rechnet frühestens 2003 mit schwarzen Zahlen. Auch wenn der Vertrieb gesichert ist, so erfordern wie bei allen Kleinen auch hier Marketing und Händlerbetreuung einen enormen Aufwand an Zeit und Mitteln.

Anderswo herrscht zur Zeit weniger Aufbruchsstimmung, zum Beispiel bei Werner Uehlinger, der 1975 die HatHut Records gründete. Er hat resiginiert, was Verlagsrechte oder die massiv teurer gewordenen Lizenzen von deutschen Rundfunkorchestern angeht. Aus seiner Sicht sind solche Produktionen nur noch für die Großen machbar. Sein ambitioniertes Programm hat er ohnehin stets nur durch konsequente Reinvestition der Gewinne und mit Sponsorengeldern durchhalten können. Auch ein anderer Überzeugungstäter, Wulf Weinmann vom Label col legno, erklärt, dass er die Zahl seiner Risikoproduktionen radikal verringern muss. Er sieht die Probleme der Kleinen vor allem beim Vertrieb und bei den langen Zahlungsfristen. Vom Beginn der Produktion bis zum Eingang des ersten Geldes vergeht über ein Jahr, was ohne starke Kapitaldecke kaum durchzuhalten ist.

Die Majors, bei denen alles unter einem Dach ist, hätten es in diesem Punkt leichter, sagt Weinmann, doch fresse ihnen der ungeheure Leerlauf, der innerhalb ihrer weit verzweigten Strukturen herrsche, die Mittel weg. Vielleicht gehört es zur Logik des Wachstums, dass sich der Apparat von einer bestimmten Grösse an vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. Und vielleicht liegt hier ja der tiefere Grund für die Schwierigkeiten der Grossen, einem lebendigen Phänomen wie der neuen Musik die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.

© Max Nyffeler

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(Herbst 2001)

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