Kompetenz als ErfolgsgeheimnisWarum Harmonia Mundi France keine roten Zahlen produziertIst die Krise der Tonträgerindustrie bloss eine Folge der Internet-Piraterie, oder hat sie auch damit zu tun, dass die Plattenindustrie im Zuge der New Economy den kulturellen Aspekt von Musik dem schieren Profitdenken geopfert hat? Dass es auch anders geht, zeigt das international erfolgreiche französische Klassiklabel Harmonia Mundi. Bei ihm ist von Krise keine Rede. Wie verhält sich ein Tonträgerproduzent angesichts des wegbrechenden Marktes? Es gibt zwei gegenteilige Muster. Das eine vertrat im Januar 2003 im Branchenmagazin "Musikmarkt online" der Managing Director von Universal Sales Deutschland, dem Vertriebsteil des Medienmultis Universal Music. Die "kundenindividuelle Repertoirebearbeitung" will er durch "hoch spezialisierte Sales Forces wie der Breaker Force und Special Sales Classics & Jazz" verstärken; Hauptziele seines Kampfes an der Sales Front sind für ihn "Artist Development/Breaking New Acts, die Akquisition neuer Trend-Outlets, das Forcieren von Impulskäufen sowie ein enger Kontakt zu den Opinion-Leadern und Trendsettern." Das andere Verhaltensmuster beschreibt Eva Coutaz, Chefin des zehnköpfigen internationalen Produktionsteams und Directeur général délégué bei der Klassikfirma Harmonia Mundi: "Wir machen die Dinge, die uns interessieren, und wollen das mit andern Menschen teilen." Zwei Firmen, zwei Welten. Und zwei Ertragsrechnungen. Im Gegensatz zu den Multis, die laufend Geld verbrennen und sich zu Tode gesundschrumpfen, schreibt Harmonia Mundi Jahresumsatz weltweit rund 50 Mio. Euro kleine, aber konstante Gewinne. Sie werden nicht ausgeschüttet, sondern reinvestiert: Nachhaltiges Wirtschaften anstelle von Raubbau. Das 1958 vom heutigen Firmenchef Bernhard Coutaz gegründete Unternehmen ist eine GmbH mit wenigen Teilhabern, in der die fürs Geschäft Verantwortlichen zugleich für die künstlerischen Entscheidungen gerade stehen. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu den Aktiengesellschaften der Majors. Deren Produktion wird durch eine Hierarchie von Managern kontrolliert, die hinter dem Shareholder Value her rennen müssen und von kulturellen Dingen meist keine Ahnung haben. Die Entfremdung als Strukturprinzip. Die Erfolgsstory von Harmonia Mundi hingegen zeigt, dass eine kulturelle Arbeit, die auch finanziell erfolgreich sein soll, die lustvolle Nähe zum Produkt voraussetzt. Und das bedeutet: Sachkompetenz der Entscheidungsträger, ein kontinuierlicher, ebenbürtiger Dialog mit den Künstlern und die Möglichkeit langfristiger, gemeinsamer Planung. Firmenkultur als Motor des Wachstums Harmonia Mundi präsentiert sich als das Bilderbuch-Beispiel eines mittelständischen Betriebs, der von einer starken unternehmerischen Persönlichkeit geleitet wird und in dem sich das Engagement der Führung wie von selbst auf die Mitarbeiter überträgt. Das bekommt man auch noch beim Anruf in einer der fünf Auslandsfilialen zu spüren. Die unverwechselbare Firmenkultur hat sich nicht zuletzt in den sorgfältig gestalteten Verkaufsprodukten niedergeschlagen. Die Auswahl der Bilder auf den CD-Hüllen, häufig historische Motive vom Mittelalter bis zu Tiepolo, verrät eine sichere Hand. Eine Strategie der Corporate Identity? "Das ist nur mein persönlicher Geschmack", wiegelt Produktionschefin Coutaz ab. In den bald fünf Jahrzehnten ihres Bestehens ist die Firma langsam, aber kontinuierlich gewachsen. Aus dem anfänglichen Schallplattenklub in Paris, der mit ausführlich dokumentierten Aufnahmen auf historischen Orgeln und mit Interpreten alter Musik wie Alfred Deller ein treues Publikum fand, wurde nach dem Umzug in die Provence nach und nach ein weltweit operierendes Unternehmen mit heute rund 350 Mitarbeitern. Neben dem Hauptsitz in Arles gibt inzwischen Filialen in London, Los Angeles, Heidelberg, Den Haag und Barcelona, und in den letzten zwölf Jahren wurde in Frankreich und neuerdings auch in Spanien ein Vertriebsnetz von 46 firmeneigenen Verkaufsläden aufgebaut. Das Label mit dem Schwerpunkt vorklassische Musik bringt heute pro Jahr rund fünfzig Neuproduktionen heraus, weit mehr als die ächzenden Majors, die sich seit Jahren vorwiegend auf Wiederveröffentlichungen beschränken. Langfristige künstlerische Zusammenarbeit Mit vielen Künstlern arbeitet das Label seit Jahren mehr oder weniger exklusiv zusammen, neue Kooperationen werden auf drei bis fünf Jahre geplant. Mit zwei Grossmeistern der historischen Aufführungspraxis, René Jacobs und Philippe Herreweghe, besteht seit über zwanzig Jahren ein gleichsam symbiotisches Verhältnis. Beide sind gerade wieder mit herausragenden Neuveröffentlichungen in Erscheinung getreten: Jacobs machte Händels "Rinaldo" mit Vivica Genaux in der Titelrolle und dem Freiburger Barockorchester zu einem mitreißenden Hörabenteuer, Herreweghe und das Collegium Vocale Gent legten drei Trinitatis-Kantaten von Johann Sebastian Bach vor. "Die Künstler sehen, dass sie bei uns das machen können, was sie gerne möchten, und was auch ihre Karriere reflektiert", erklärt Eva Coutaz. Besonderer Wert wird auf die Pflege des Backkatalogs gelegt, so dass grosse Teile eines Lebenswerks jederzeit greifbar sind. Die langfristige Zusammenarbeit basiert nicht auf ausgeklügelten Exklusivverträgen mit detaillierten Rechtsansprüchen, Rückzugs- und Entschädigungsklauseln, sondern auf gegenseitigem Vertrauen. Dahinter steht die Überzeugung, dass auch mit juristischen Verpflichtungen keine erspriessliche Zusammenarbeit erzwungen werden kann, wenn ein Künstler unzufrieden ist. Verträge zu den einzelnen Produktionen werden natürlich gemacht. Prominente Überläufer Nach der Schliessung der deutschen Teldec-Niederlassung in Berlin sind einige der dort produzierenden Toningenieure samt ihren Interpreten zu Harmonia Mundi übergelaufen. Andreas Staier, der vielseitige Cembalist und Pianist, gehört dazu, und auch Kent Nagano, dessen Arbeit mit dem Deutschen Sinfonieorchester in Zukunft vom französischen Label dokumentiert wird, wobei Konzert- und Plattenaktivitäten aufeinander abgestimmt werden sollen. Noch in diesem Jahr erscheint als erstes das Oratorium "Christus am Ölberge" von Beethoven, gefolgt 2004 von Bruckners Dritter und der "Jakobsleiter" von Arnold Schönberg. Für das mit alter Musik gross gewordene Label, das bisher nur wenig von Klassik bis Moderne produzierte Ausnahmen sind etwa die Aufnahmen von Herreweghe mit Kurt Weill , bedeutet das auch eine Ausweitung des Repertoires. Schwieriger USA-Markt Die europäischen Produktionen macht Harmonia Mundi hauptsächlich in Deutschland und Frankreich. Eine besondere Rolle spielen die USA, wo die Filiale Los Angeles seit zwei Jahrzehnten mit zahlreichen amerikanischen Künstlern zusammenarbeitet. Das Marketing-Gesetz, dass vor allem gekauft wird, was zuvor im Konzertsaal erklungen ist, hat für den amerikanischen Markt besonderes Gewicht. Einheimische Interpreten verkaufen sich dort besser als europäische was auch umgekehrt gilt. Die auf Mittelalter und Renaissance spezialisierte amerikanische Gruppe "Anonymous 4" hat in den USA von einigen CDs über 200 000 Exemplare verkauft, wogegen sie in Europa, England ausgenommen, weniger bekannt ist. Eigene Verkaufsläden In Frankreich hat Harmonia Mundi mit Erfolg versucht, sich von den grossen Vertriebsfirmen unabhängig zu machen. Als vor Jahren die Medienhandelskette FNAC in allen größeren Städten ihre Filialen aufmachte und Neuerscheinungen mit zwanzig Prozent Rabatt anbot, konnten viele Einzelhändler der Konkurrenz nicht standhalten. Später, als die allgemeine Branchenkrise um sich griff, reduzierten die FNACs ihr Angebot drastisch. Zurück blieb ein verwüsteter Klassik-Markt. Harmonia Mundi entdeckte die Lücke und eröffnete in zahlreichen Städten eigene Verkaufsgeschäfte, wo nun die Hausproduktionen und die achtunddreissig Vertriebslabel angeboten werden. Grosser Wert wird auf kompetente Beratung und zwangloses Wohlbefinden gelegt; auch ohne zu kaufen können die Kunden stundenlang ihre Lieblingsplatten anhören. In den eigenen Läden wird heute ein Viertel des französischen Umsatzes gemacht. Inzwischen hat sich ein neuer Absatzmarkt auf dem Gebiet des Buchhandels erschlossen. Rund hundertzwanzig Buchhändler in ganz Frankreich haben Regale eingerichtet, in denen Harmonia Mundi seine Produkte anbietet. Die nächst wichtigen Absatzmärkte sind Deutschland und die Benelux-Länder. Auch die Schweiz, wo es laut Eva Coutaz noch hervorragende Einzelhändler gibt, ist für Harmonia Mundi ein interessantes Land, obwohl auch hier die Schwierigkeiten wachsen. FNAC-Läden beginnen sich nun auch in der Westschweiz auszubreiten. Wie kaum eine andere Firma ist Harmonia Mundi mit der Bewegung der historischen Aufführungspraxis gewachsen und verwachsen. Das Label ist ein Garant für erstklassige Aufnahmen bekannter und unbekannter Werke von Mittelalter bis Barock, zahllos sind die Auszeichnungen, die es für seine Produktionen erhalten hat. Heute, da die alte Musik nicht mehr nur eine Angelegenheit verschworener Spezialisten ist, hat sich auch das Repertoire von Harmonia Mundi erweitert. Neben den in den USA produzierten "Miracles of Notre-Dame", profanen Marienhymnen aus der Zeit um 1200 mit dem Harp Consort, und neben dem "Altbachischen Archiv", in dem der Cantus Cölln unter Konrad Junghänel Werke von Bachs Vorfahren aufgenommen hat, enthält das neuste Angebot auch späte Klaviersonaten von Franz Schubert mit Paul Lewis, einem englischen Schüler von Alfred Brendel, Beethoven-Lieder mit Dietrich Henschel oder Violinsonaten von Janácek, Lutoslawski und Szymanowski mit Isabelle Faust. Auch technisch sieht man sich um: In diesen Tagen kommen die ersten Aufnahmen in SACD-Qualität auf den Markt. © 2003 Max Nyffeler Oktober 2003 Liste der erwähnten CDs: G. F. Händel: Rinaldo. Vivica Genaux u.a., Freiburger Barockorchester, Ltg. René Jacobs. HMC 901796.98 (3CDs) zurück zu Rezensionen, Labelportraits
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