Ist die Klassik auf dem Weg ins Internet?Bei der MIDEM 2009 in Cannes werden neue Marktstrategien diskutiert / U- und E-Musik suchen neue VertriebskanäleDie Modeboutiquen auf der schicken Rue d’Antibes gewähren in diesem Januar Rabatte bis zu siebzig Prozent, bei der an bester Lage angesiedelten Filiale der isländischen Landsbanki sind die Rollläden heruntergelassen, und unter den vielen Drucksachen, die bei der MIDEM verteilt werden, sticht die Werbebotschaft einer Abfallfirma ins Auge, die sich für eine umweltgerechte Entsorgung der CD-Scheiben empfiehlt. Das wirtschaftliche Umfeld der MIDEM, der weltweit noch immer bedeutendsten Musikmesse, war in diesem Jahr eher trist, was sich auch in einer um fünfzehn Prozent geringeren Besucherzahl gegenüber 2008 niederschlug. Nichtsdestotrotz war in den offiziellen Verlautbarungen ein optimistischer Ton unüberhörbar. Verkündet wurde das Ende der großen Unsicherheit der vergangenen Jahre, als die Musikindustrie auf das Internet wie das Kaninchen auf die Schlange starrte und das musikalische Copyright an den illegalen Tauschbörsen zum wertlosen Wechsel verkam. Dank langsam greifender Vereinbarungen zwischen Rechteinhabern einerseits und Verwertern wie Internetportalen, Telefonanbietern und Geräteherstellern andererseits stabilisiert sich der Markt Schritt um Schritt, so dass aus dem einstigen Killermedium ohne weiteres die Bonanza des nächsten Jahrzehnts werden könnte. Wenn denn nicht die wirtschaftliche Großwetterlage das Geschäft noch gründlich verhagelt. Flexilisierung des Urheberrechts begünstigt MarkterschließungIn das digitale Musikgeschäft ist jedenfalls Bewegung gekommen. Noch machen legale Downloads auf Computern und mobilen Geräten nur etwa 10 Prozent des gesamten Musikmarkts aus, aber im Gegensatz zu den unaufhaltsam schrumpfenden CD-Verkäufen sind hier kräftige Zuwachsraten zu verzeichnen. Der Wegfall der starren Kopierschutzbedingungen, wie es von iTunes vorgemacht worden ist, und die damit verbundene Flexibilisierung des Copyrights schaffen ungeahnte Kaufanreize und eröffnen neue, kontrollierbare Geschäftsfelder. Von den Big Players bis zu den vielen neuen Initiativen im Netz werden eifrig die Chancen getestet. Das aktuelle Stichwort heißt „Mobile music“. Nokia will das bisher auf England beschränkte Angebot, auf seinen Handys zwölf oder achtzehn Monate lang freien Zugang zu einem Katalog von Millionen von Titeln zu gewähren, auf Australien, Singapur und bald auch auf ganz Europa ausdehnen und kündigte nun in Cannes entsprechende Verträge mit den nationalen Urheberrechtsgesellschaften an; Sony Ericsson und Orange wollen nachziehen. Eine ähnliche Initiative startet der Mobilfunkanbieter SFR in Frankreich, und der Musikmulti Universal schmiedet Allianzen mit den europäischen Urherrechtsgesellschaften mit dem Ziel, einheitliche Lizenzierungsregelungen zu schaffen. The Orchard, der weltweit größte digitale Musikvertrieb aus den USA, steigt im lukrativen japanischen Markt ein, und das Microsoft-Internetportal MSN profiliert sich als Musikanbieter. Die Liste der in Cannes bekanntgegebenen Vorhaben ließe sich beliebig verlängern. Mit den digitalen Verteilungskanälen definiert sich auch das Verhältnis zum Kunden neu. Die immer wiederkehrende Frage bei den zahlreichen Roundtables und Referaten lautete: „Wie bringe ich meine Musik ans Ohr des Publikums?“ Brian Message, Co-Manager der Gruppe Radiohead, die 2007 das überaus erfolgreiche Experiment unternahm, ihr neues Album „In Rainbows“ nach dem Zahle-was-du-willst-Prinzip im Internet anzubieten, verwies auf den unschätzbaren Wert der aus dem Direktkontakt entstehenden Fan-Datenbank und den Werbeeffekt für die anschließenden Live-Konzerte. Er machte aber auch klar, dass eine Internet-Präsenz nur funktionieren kann, wenn schon eine treue Anhängerschaft existiert. Die audiovisuellen Reize der KlassikIm Vergleich zur populären Musik bildet die Klassik ein marginales Marktsegment, und die Probleme stellen sich hier anders. Das mobile Hören von Opern und Sinfonien dürfte sich nicht so schnell durchsetzen, und auch wenn manche Marktstrategen den Trend zum Begleit- und Ambientehören kräftig fördern, wird die anspruchsvoll edierte CD beim Klassikpublikum nach wie vor ihre Abnehmer finden. Eine ernsthafte Konkurrenz erwächst ihr aber auf Dauer in der DVD, zumindest wenn es um Musiktheater und Dokumentationen geht. Oper aus dem Lautsprecher, vollends Ballett, ist stets ein Notbehelf. Die Produzenten, Fernsehleute, Medienunternehmer und Vertriebsleute aus aller Welt, die sich bei der MIDEM zu dem vom Internationalen Musik- und Medienzentrum Wien organisierten Screening der neuesten Produktionen treffen, setzen in dieser Hinsicht die Wegmarken für die audiovisuelle Zukunft der Klassik. Die abgefilmte Opernaufführung ist nur noch eine von vielen Möglichkeiten der Darstellung musikalisch-szenischer Inhalte. Die Spannweite reicht heute von der mit Backstage-Einblicken und intelligenten „Special Features“ angereicherten Bühnendokumentation bis zu neuen Genres, die nur im Medium des Fernsehens oder der DVD möglich sind. Die mit einem Midem Classical Award ausgezeichnete Produktion von John Adams’ neuer Oper „Dr. Atomic“ in der Regie von Peter Sellars, ein Porträt des Atombombenbauers Robert Oppenheimer, bezeichnet genau diese Schnittstelle zwischen Bühne, Zeitdokument und medialer Realität, an der die DVD ihre beste Wirkung entfalten kann. Noch einen Schritt weiter geht die bemerkenswerte Aufführung von Verdis „Traviata“ im Hauptbahnhof Zürich vom letzten Herbst, bei der die auf viele Schauplätze verteilte Handlung sich erst auf dem Fernsehschirm zum komplexen Ganzen zusammenfügt. Das Schweizer Fernsehen errang mit der Live-Übertragung zur Prime Time einen Marktanteil von vierunddreißig Prozent; die Produktion bot in Cannes einigen Gesprächsstoff. Von geradezu rührender Biederkeit war dagegen das meiste, was das ZDF an Neuigkeiten anbot: Plácido Domingo tanzt mit Anna Netrebko Walzer bei der Gala auf Schloss Schönbrunn, Roberto Villazón feiert mit vielen lauten Tönen sein Comeback nach der Krise, in die er wegen zu vielen lauten Tönen hineingeraten war, und Thomas Quasthoff verkauft klingende Postkarten mit dem Sujet der roten Sonne, die bei Capri im Meer versinkt. Ein Dokumentarfilm der kleinen Firma Sounding Images porträtiert das bitterarme Kinshasa Symphony Orchestra, dessen Mitglieder die Instrumente selbst geschnitzt, geleimt und geschraubt haben. Auf dem Programm dieser erstaunlichen Getto-Sinfoniker aus dem Kongo stehen Carl Orffs „Carmina burana“. Auf die Frage, warum sie mitmache, antwortet eine Sängerin: „Das Singen hilft mir beim Denken.“ Den Satz sollte sich das ZDF bei seiner nächsten prächtigen Musikshow als Leitspruch über die Bühne hängen. © 2009 Max Nyffeler Siehe auch: Musik im Netz (Beckmesser-Kolumne März 2009) |