Portrait Jörg Widmann

Kreativität im Spannungsfeld von Komponieren und Klarinettenspiel

Wer den Komponisten Jörg Widmann verstehen will, sollte vorher den Klarinettisten Jörg Widmann gehört haben, am besten mit seinen eigenen Kompositionen. Hier wird er zum Zeugen eines Spiels, das alle Möglichkeiten des Blasinstruments souverän auszunutzen versteht – vom Schönklang, der aus dem Nichts entsteht und im Nichts verschwindet, über subtile farbliche Veränderungen und Eintrübungen des Klangs bis zum prasselnden Perkussionseffekt, zum aufgeregten Schnattern und quasi-elektronischen Geräusch. Als ob die Klarinette sich in ein Schlagzeug, ein Klavier oder einen Synthesizer verwandeln könnte. Der Modifikation des Ausdrucks scheinen keine Grenzen gesetzt, alles scheint sich im permanenten Übergang zu befinden: Klang als Prozess, getragen vom Strom des menschlichen Atems.

Manche Ensemble- und Orchesterkompositionen von Jörg Widmann klingen denn auch wie ein ins Riesenhafte vergrößerter Klarinettenton, dessen vielfältige Registerfarben und changierende Obertonmischungen zu leuchtenden Bläsersätzen, flirrenden Streicherflächen und Schlagzeugeruptionen multipliziert worden sind. Das Eine, das sich aufspaltet — oder in umgekehrter Perspektive: Der Einklang mit seinem Formantreichtum als ideeller Fluchtpunkt der Komposition.

Im kontinuierlichen und dabei stetig sich verändernden Klang findet sich auch der strömende Atem wieder. Die orchestralen Klangprozesse sind dem Prinzip des permanenten Übergangs verpflichtet: Ein klar strukturierter Akkord kann unmerklich in ein gefärbtes Geräusch, eine melodische Figuration in eine Klangfläche übergehen; eine innerlich vibrierende Textur kann sukzessive die Klangfarbe wechseln, während alle andern Parameter gleich bleiben. Auch die disparaten Formteile einer Komposition schließen durch subtil gestaltete Übergänge fugenlos aneinander an. So etwa die zehn Freien Stücke für Ensemble, die auf rein instrumentaler Ebene eine Art Vorstudie zur Oper darstellen und als scharf ausgeprägte Charakterstücke sich dank dieser Verknüpfungstechnik doch zu einem Ganzen fügen.

Assimilationskraft

Jörg Widmann ist ein von stetiger Neugier getriebener Musiker. Er hat sich in der Musik der letzten fünfzig Jahre eingehend umgeschaut und die traditionsbildenden Werke der Moderne gründlich analysiert. Als Komponist und Interpret ist er ein doppelter Partiturenfresser. Seine instrumentale Intelligenz schärft den Blick auf die Notation und treibt ihn an, die vorgefundenen Klangmöglichkeiten kontinuierlich zu verfeinern und zu erweitern. In seinem noch jungen, aber schnell wachsenden Oeuvre, das vom Musiktheater über Orchester- und Ensemblewerke, Kammermusik und Solostücke schon ein breites Spektrum an Werken und Gattungen abdeckt, hat er mit seinen gerade dreißig Jahren die vielfältigsten Anregungen mit einer Assimilationskraft verarbeitet, die nur von einer starken Subjektivität zu leisten ist.

Mit geradezu erschreckender Leichtigkeit vermag er die von der Nachkriegsavantgarde entwickelten Techniken, Sprechweisen und formalen Gesten in seine persönliche Schreibweise zu integrieren. In seinen Partituren finden sich die gepressten Streicherklänge eines Lachenmann und die gehuschten Flötenflageoletts eines Sciarrino, die selbstreflexiven Klangaktionen des Instrumentalen Theaters, Ligetis Mikropolyphonien oder die hart konturierten Einzelsetzungen seines Lehrers Rihm, um nur einiges aus diesem reichhaltigen Erbe zu nennen.

Der Vorwurf des Eklektizismus, in solchen Fällen in der Regel schnell zur Hand, greift hier jedoch nicht. Denn offensichtlich gelingt es dem Komponisten, den vorgefundenen Elementen stets den Duktus seiner eigenen Handschrift aufzuprägen, sie mit großer emotionaler Geste seinem persönlichen Formwillen unterzuordnen und damit auf eigenwillige Weise neu zum Sprechen zu bringen. In diesem Prozess der kreativen Aneignung gerät wie unter dem Vergrößerungsglas ein Stück Traditionsbildung ins Blickfeld.

Harmonik als übergreifende Kraft

Jedes von Widmanns Werken besitzt seine ganz unverwechselbare Physiognomie. Sie ergibt sich nicht zuletzt aus der Übereinstimmung von Material, Verfahrensweise und Formgestalt. Der abschließende Doppelstrich fungiert dabei wie eine Bekräftigung, dass das im Stück formulierte kompositorische Problem nun gelöst ist und ad acta gelegt werden kann. Das nächste Mal sieht dann wieder alles ganz anders aus. Was seinen Werken bei allen Unterschieden gemeinsam erscheint, ist der Anflug von souplesse, mit der Widmann die divergierenden kompositorischen Elemente zu einer schlüssigen Werkgestalt verarbeitet. Dahinter steckt vermutlich wiederum die Sensibilität des Klarinettisten, dessen Klangideal letztlich durch die großen Kammermusikwerke eines Mozart, Schumann und Brahms geprägt wurde.

Vor diesem Erfahrungshintergrund entsteht ein weit gefasstes Konzept von Schönheit, in dem auch noch die dissonanteste Struktur und der komplexeste multiphonic ihren genau bestimmten Stellenwert besitzen. Konsonanz und Dissonanz, sagt Widmann, definieren sich durch den Kontext. Ein Dreiklang kann in einem bestimmten Zusammenhang ebenso dissonant klingen, wie ein Geräuschklang zur Konsonanz mutieren kann. Doch alles ist letztlich aufgehoben in einer umfassenden Harmonie.

Frühe szenische Versuche

Viele der Instrumentalkompositionen besitzen über ihre gestische Prägnanz hinaus eine dramatische Sogwirkung des Klangs, die nach der szenischen Konkretisierung geradezu ruft. Widmann hat denn auch schon mehrfache Vorstöße in das Gebiet des Musiktheaters unternommen. Seine bisherigen Werke können als Studien betrachtet werden, in denen die Formen des Zusammenwirkens von Text, Musik und Szene systematisch erprobt werden. Inhaltlich kreisen sie alle mehr oder wenig deutlich um das Thema der zwischenmenschlichen Kommunikation und ihres Scheiterns.

Die Thematik erscheint schon in seinem Jugendwerk Absences, einer Schuloper, die er 1990 im Alter von siebzehn Jahren im Auftrag von Henzes Münchener Biennale schrieb und die unter Mitwirkung von Schülern des Münchner Pestalozzi-Gymnasiums uraufgeführt wurde. Das alltägliche Klassenzimmer-Chaos wird hier in kleinräumig ineinander verschachtelte Dialoge und Ensembleszenen umgesetzt. Der kleine Einakter Stimmbruch von 1994, ebenfalls eine Biennale-Produktion, verbindet die Sprechproblematik mit der Identitätssuche eines pubertierenden Jungen; er ringt mit dem Widerspruch zwischen Sagen-Wollen und Sagen-Können – mit der Schwierigkeit, aus dem Gefängnis des eigenen Ichs auszubrechen.

Zwei weitere szenische Studien, miteinander verbunden durch ein instrumentales Intermezzo, kamen 2002 unter dem Obertitel Monologe für zwei im Münchner Prinzregententheater zur Aufführung: K(l)eine Morgenstern-Szene (1997) und Das Echo (2000/2001). Auch hier wieder die Problematik der Kommunikationsunfähigkeit und des Gefangenseins in der eigenen Subjektivität. In der Metapher des Echos als trügerische Ich-Verdoppelung könnte man ein Herantasten an die Thematik der Oper Das Gesicht im Spiegel sehen.

Prima la musica

Zugleich bilden beide Stücke eine Art elementarer Versuchsanordnung zur Klärung der Frage: Wie verhalten sich Sprache und Musik zueinander, unter welchen Bedingungen wird aus ihnen so etwas wie ein Musikdrama? In Echo lautet die für Widmanns musiktheatralische Überlegungen aufschlussreiche Antwort: Sprache allein ist auf sich selbst zurückgeworfen und muss als Mittel der menschlichen Verständigung – auch auf der Bühne – zwangläufig scheitern. Zu ihrer "Erlösung" braucht sie die Musik. In dem weitgehend als Melodram konzipierten Stück geschieht der Triumph der Musik über die Sprache in wenigen gesungenen Tönen. Vielleicht ist dies das musiktheatralische Credo des Musikers Jörg Widmann.

Charakteristisch für die Verfahrensweisen in beiden Stücken ist die enge Verzahnung von Musik und Szene. In der Art des Instrumentalen Theaters der fünfziger und sechziger Jahre können die Musiker als Teil der Szene agieren. Textinterpretation geschieht nicht nur durch die Singstimme, sondern wird wesentlich durch die instrumentalen Gesten bestimmt.

Komponieren unter der Bedingung von Freiheit

Jörg Widmann ist in eine historische Situation hineingewachsen, in der die Kämpfe um Schulen, Stilrichtungen und Techniken der Vergangenheit angehören und in ästhetischen Dingen eine Art von prekärer Koexistenz vorherrscht. Als junger Komponist sieht er sich heute auch nicht mehr mit einer dominierenden Vätergeneration konfrontiert, anders als noch vor dreißig Jahren sein Lehrer Rihm, der sich seinen Weg gegen eine Phalanx aus Serialisten und Strukturalisten freikämpfen musste.

Ein junger Komponist muss heute gegen nichts mehr kämpfen, da alles erlaubt ist. Seine Schwierigkeit ist eine andere: Er ist gezwungen, unter den vielen möglichen Wegen denjenigen zu wählen, der seinem inneren Wollen, das ihm vielleicht noch gar nicht richtig bewusst ist, als einziger entspricht. Um dem trügerischen Freiheitsangebot des anything goes zu widerstehen, muss er sich in der Kunst des Weglassens üben. Das setzt ein kritisches Urteilvermögen und einen starken künstlerischen Instinkt voraus.

Jörg Widmann hat gezeigt, dass er beides besitzt. Im großen Materialkaufhaus der jüngsten Musikgeschichte hat er sich gründlich umgesehen. Doch lässt er sich nicht vom Angebot irre machen, sondern eignet sich nur dasjenige an, was seinen künstlerischen Zielen nützlich ist. Dass sich die Entscheidung darüber nicht äußeren Motiven verdankt, sondern im Inneren seiner künstlerischen Subjektivität verankert ist, verleiht seiner Musik ihre Wahrhaftigkeit und macht sie so aufregend für den Zuhörer.

© Max Nyffeler 2003

Bei dem Text handelt es sich um die leicht veränderte Fassung eines Programmheftbeitrags zur Uraufführung der Oper Das Gesicht im Spiegel (München, 17.7.2003).

Komponisten: Portraits
siehe auch: Beckmesser Neue Musik

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