Der Geruch von Blut Salvatore Sciarrinos "Macbeth"Eine eigenständige Neulektüre des Opernstoffs von Verdi/ShakespeareDie Partitur des 2002 in Schwetzingen uraufgeführten Dreiakters Macbeth ist in relativ kurzer Zeit entstanden, doch reicht die Beschäftigung mit Shakespeares Stoff bis ins Jahr 1976 zurück. Damals, so Sciarrino, herrschten in der zeitgenössischen Musik noch Dogmen: „Eines davon war die Weigerung, die eigenen Wurzeln, das eigene Gesicht anzuerkennen. Sich mit den großen Themen und den Meisterwerken der Tradition zu befassen, erschien den meisten als ein elender Betrug.“ Zwar musste sein Macbeth noch fünfundzwanzig Jahre warten, doch schon damals hatte der Einzelgänger Sciarrino keine Angst vor Traditionen, den eigenen und denen, die ihre Wurzeln in anderen Kulturen haben. Seinen frühen Vokalkompositionen liegen Haiku-Texte zugrunde, in der 1974-79 entstandenen Komposition Un immagine di Arpocrate, die sich auf den schweigsamen altägyptischen Kindgott Harpokrates bezieht, vertonte er unter anderem die Schlussverse aus Goethes Faust II, und die Solostücke aus den 1970er Jahren tragen Titel wie Romanza, Rondo oder Capriccio. Schon in diesen Werken zeigt sich, was später auch für Macbeth gelten sollte: Die alten Formen, Stoffe und literarischen Vorlagen verlieren unter seinem künstlerischen Zugriff jede historisierende Aura und offenbaren in neuer Gestalt ihren zeitlos aktuellen Charakter. Das Neue, sagt Sciarrino, kann nur auf dem Boden des Alten entstehen, und ohne Tradition sind wir nichts: „ Wir brauchen sie, sei es, um an sie anzuknüpfen, sei es, um uns von ihr abzusetzen. Ich glaube, ohne ein inniges Verhältnis zur Tradition wäre ich nie zu meiner persönlichen Schreibweise gekommen.“ Jenseits von VerdiAuch in Macbeth findet eine solche Metamorphose statt. Zwei zentnerschwere Vorbilder hängen wie Damoklesschwerter über dem Stoff, zur Warnung an alle, die sich mit ihm einlassen wollen: Shakespeare und Verdi. Doch Sciarrino umgeht die Falle des Klassizismus und erzählt die Geschichte noch einmal auf unverbrauchte und überaus fesselnde Weise. Die Richtung seiner Lesart deutet er mit dem Untertitel „Drei namenlose Akte“ an, und im Vorwort zur Partitur erläutert er, was er mit dieser Anonymisierung meint: „Es sind ruchlose Freveltaten, gewalttätige Morde, die weder Sprache noch Herz zu beschreiben wagen. Man muss sie still im Gedächtnis behalten: Der alte Geruch nach Blut liegt ständig auf der Lauer. ‚Es erheben sich Seufzer und Schreie, die niemand mehr hört. Auch der wildeste Schmerz scheint ein gewöhnliches Gefühl zu sein’, so schrieb Shakespeare.“ Und er schließt: „Bildet sich jemand ein, dass unsere Zeiten besser sind?“ Sciarrino entwirft in Macbeth das Bild eines zeitlosen Tötens, in dem das verbrecherische Protagonistenpaar nur eine menschheitsgeschichtliche Fußnote darstellt: Die Macht und ihre Weitergabe an den nächsten Herrscher erscheint als Kette von Gewalttaten über alle zeitlichen und kulturellen Grenzen hinweg. Ein Mittel, mit dem Sciarrino diesen zeitübergreifenden Aspekt von Gewalt und die Austauschbarkeit derjenigen, die sie ausüben, darstellt, ist die Maskierung der Hauptfiguren. Wenn in der zweiten Szene des ersten Akts Lady Macbeth ihren Gemahl zum Mord an Duncan, dem schottischen König, anstiftet, trägt sie dieselbe Maske wie Macbeth. Und wenn anschließend Macbeth diesen Mord in Gedanken schon einmal durchspielt, reißt er ihm im Geiste die Königsmaske herunter und zieht sie selbst an eine Aktion im Zwielicht von Wunsch und Wirklichkeit, die durch das symbolische Köpfen eines Hahns noch unterstrichen wird. Die Szene wiederholt sich seitenverkehrt in der Schlussszene, wenn Macbeth im Zweikampf von Macduff getötet wird und dieser nun seinerseits sich Macbeths Maske bemächtigt. Das Vibrieren des KlangsNeben solchen szenischen Akzenten ist es aber vor allem die Musik, die ein Klima des überall lauernden Schreckens erzeugt. Sie tut es auf paradoxe Weise, indem sie sich auf einen intimen Tonfall zurückzieht. Aber gerade damit gelingt es ihr, tief in die dunklen Seelenregionen der beiden Hauptfiguren einzudringen. Man könnte von Kammertonfall sprechen, wenn diese Kammer hier nicht ein zwielichtig schillernder, zwischen Wahn und Wirklichkeit angesiedelter Raum wäre. Aus der klanglichen Erforschung dieses Zwischenreichs bezieht das Werk seine suggestive Kraft. Das Klangbild wird bestimmt durch die kurzen, nervösen Figurationen der Singstimmen, die immer wieder durch Momente der Stille unterbrochen werden und in einen Mikrokosmos von instrumentalen Geräuschklängen eingebettet sind. Diese Form von Monodie gehört zu den charakteristischen Stilmerkmalen der Musik Sciarrinos. Ihren Kern bilden, nach seinen eigenen Worten, nicht die vordefinierten Noten, sondern „Intervalle, die durch die Bewegung des Klangs fortlaufend neu generiert werden, lebendige Geometrien, Organismen. Um sie herum kreisen heterogene Bilder ein Feld von kürzesten Impulsen und Klangvibrationen. Diese oszillieren häufig zwischen Atemgeräusch, Klang und Rascheln und sind gleichsam unabhängig von der Instrumentenfamilie, die sie produziert.“ Die in allen Farben funkelnden Geräuschklänge bilden Texturen, die je nach dramaturgischer Notwendigkeit einmal stenogrammartig verkürzt das Geschehen kommentieren, einmal sich zu schier endlosen Wiederholungsschlaufen addieren und damit die Zeit zum Stillstand bringen können. In der nächtlichen Szene zu Beginn des zweiten Akts, wo die gedungenen Mörder dem arglosen Rivalen Banquo auflauern, schaffen die langgezogenen Streicherglissandi und die tierlautähnlichen Signale der Bläser eine Atmosphäre gespenstischer Stille. Oder der Auftritt der geistig umnachteten Lady Macbeth zu Beginn des dritten Akts: Hier stammelt sie im einsamen Duett mit einem Streichinstrument unzählige Male, immer wieder anders ansetzend, die Worte „Ein Fleck. Und noch ein Fleck. Fort, verfluchter, sag’ ich!“ Dazu schaffen einige Instrumente mit wenigen Klangtupfern einen Resonanzraum, der die auf sich selbst zurückgeworfene Lady wie ein Kokon einhüllt. Die Szene, in der sich die Singstimme an den Ton A wie an eine fixe Idee klammert, wächst sich zu einer quälenden Ewigkeit aus. Zurücknahme der Mittel, Konzentration des AusdrucksIn der Zurücknahme der Mittel, verbunden mit einer akribisch ausformulierten, auf die Schärfung der Wahrnehmung gerichteten Mikrostruktur, artikuliert sich eine eingefleischte Skepsis gegenüber jeder Art von expansiver Klangentfaltung und großen Ausdruckgesten. Was in Macbeth bis zur Meisterschaft ausdifferenziert wird, nimmt jedoch schon in den davor entstandenen neun Bühnenwerken auf unterschiedliche Weise Gestalt an. Auch dort ist der künstlerische Wille zur klanglichen Reduktion und zur Konzentration des Ausdrucks in den leisen Registern bereits deutlich erkennbar. Beim Erstlingswerk Amore e Psiche von 1972 ist das Instrumentarium mit teilweise doppelten Bläsern und je zweifach besetzten Streichern noch relativ umfangreich besetzt, es umfasst aber nicht mehr als dreißig Spieler. Danach setzt eine Tendenz zum kammermusikalisch transparenten Klang ein; die Instrumente werden vorwiegend solistisch eingesetzt, das sorgsam dosierte Schlagzeug sorgt in den Pianoregistern für subtile Farbnuancen. Die Reduktion gilt auch für das Bühnenpersonal; es gibt meist nur ein bis zwei Hauptrollen, und wo ein Chor dabei ist, besteht er, darin der Madrigaltradition folgend, aus Solisten. Zu Ende der 1990er Jahre folgt dann mit Luci mie traditrici eine Gegenbewegung, die sich in Macbeth fortsetzt: Die instrumentalen und vokalen Mittel nehmen wieder zu. Damit vergrößert sich das Farbspektrum, aber nicht die Klangmasse, denn auch bei der umfangreicheren Besetzung entpuppt sich Sciarrino als Meister im Aussparen, und die Transparenz des Klangs bleibt erhalten. In Macbeth wird die Transparenz nicht zuletzt durch eine Aufteilung der Musiker in zwei Gruppen garantiert. Die größere Gruppe mit tieferen Bläsern, fünf Streichern, Celesta und Schlagzeug befindet sich im Orchestergraben, die kleinere mit Bläsern, zwei Streichern, Schlagzeug und Klavier im Hintergrund der Bühne. Diese Teilung des Orchesters, die den Gesamtklang durchsichtig und leicht macht, hat 1998 schon Peter Eötvös in seiner Tschechow-Vertonung Drei Schwestern praktiziert. Bei Sciarrino hat sie jedoch mehr als nur eine räumlich-akustische Funktion. Der Klangraum ist für ihn zugleich ein psychologischer Raum. „Die Halluzinationen des Traums und der Wirklichkeit“ (Sciarrino) werden darin zum Leben erweckt es entsteht ein Treibhaus verbrecherischer Sehnsüchte, in dessen Klima der kranke Geist von Macbeth und seiner Lady metastasengleich wuchern kann. Arbeit am LibrettoDas Libretto zu Macbeth hat Sciarrino wie bei den meisten seiner Bühnenwerke selbst verfasst. Als sein eigener Textautor hat er damit alle Freiheiten, es auch während des Kompositionsvorgangs noch zu verändern oder sogar zu erweitern. Bei der Uraufführung von Macbeth machte er das auch noch, als die Arbeit an der Inszenierung schon begonnen hatte: „Mir fehlte plötzlich eine markante Szene, in der die Zuschauer etwas über Macbeth erfahren können, bevor die Geschichte des Bösen ihren Lauf nimmt. So kam ich auf die Idee der einleitenden Schlachtenszene, die dann aus Symmetriegründen am Schluss wiederholt wird. Sie sollte aber nur in der Art des epischen Theaters erzählt, nicht real dargestellt werden.“ Achim Freyer, dem Regisseur der Uraufführung, leuchtete das ein, und die Last-Minute-Änderung wurde in die endgültige Gestalt des Werks aufgenommen. Bei der Ausarbeitung des Librettos hielt sich Sciarrino eng an das Original Shakespeares, doch dampfte er es auf ein Minimum ein. Auch hier also: Reduktion als oberstes Prinzip. Was schon Verdis Librettist Francesco Maria Piave anstrebte die Verdichtung der Erzählung zu einer Folge spotlightartig kurzer Szenen findet sich bei Sciarrino in radikalisierter Form. Der Text wird stenogrammartig verkürzt, die Handlung konzentriert sich auf die Vorgänge in der Innenwelt, und einzelne Handlungsmomente werden manchmal sogar ineinandergeschoben, was den von Sciarrino imaginierten Charakter eines wahnhaften, irrealen Geschehens unterstreicht. Ein Vergleich der Anfangsszenen in den Versionen von Shakespeare, Verdi und Sciarrino liefert dazu interessante Aufschlüsse. Dieser Beginn der Auftritt der Hexen, ihre Prophezeiung an Macbeth und Banquo, die Rückkehr Macbeths in sein Schloss und sein fatales Gespräch mit Lady Macbeth, die ihm den Mord am König suggeriert wird bei Shakespeare schön der Reihe nach in sieben ausführlichen Szenen erzählt. Für den gleichen Handlungsabschnitt benötigt Verdi acht, wenngleich sehr viel kürzere Szenen, die filmschnittartig aneinandergefügt sind. Sciarrino wiederum gliedert die Schlachtenerzählung (die bei Verdi ganz gestrichen ist) aus und stellt sie als die erwähnte Rahmenhandlung an den Anfang. Alles andere wird ausgedünnt, komprimiert und zu einem einzigen Bild verschmolzen: In der Hexenszene tritt Macbeth allein, ohne Banquo auf, und noch während er mit den Hexen spricht, kommt Lady Macbeth hinzu und entwickelt mit ihm den Mordplan. Verschiedene Wirklichkeiten überlagern sich, sukzessive Handlungsmomente fallen zusammen. Solche Verfahren der Reduktion und Kompression bestimmen auch die Großform des Dreiakters. Der zweite Akt, mit rund zwanzig Minuten Dauer der kürzeste, enthält nur zwei Szenen: Die nächtlichen Ermordung Banquos, die rasch und beinahe geräuschlos geschieht, und dann die große Bankettszene im Schloss, in deren Verlauf Macbeth von Visionen und Gewissensbissen heimgesucht wird. Sie markiert die Peripetie des Dramas. Hier werden nicht nur im Zeitraffertempo innere und äußere Wirklichkeiten kunstvoll ineinandergeblendet, sondern im Moment der größten Zuspitzung reißt der ganze Zeithorizont auf: Mit kurz aufblitzenden Zitaten aus Macbeth von Verdi und aus Mozarts Don Giovanni öffnen sich die Gräber der Musik, und die Untoten der abendländischen Kultur mischen sich mit schauerlichen tonalen Klängen in das halluzinatorische Stimmengewirr, das aus Macbeths Gewissen hervorquillt. „In Stücke zerrissen und besudelt, kommen uns unsere Väter entgegen, denen wir täglich zu misstrauen wagen und auch misstrauen müssen. Wer von uns ist mutig genug, sein Ego zu verneinen, um sich mit Macbeth zu identifizieren wenigstens ein bisschen?“ fragt Sciarrino. Damit stellt er nicht nur kritische Fragen zur Haltung des Künstlers, zum Werk und zu den Traditionen, die es verkörpert. Er konfrontiert uns auch auf sehr unangenehme Weise mit uns selbst. © 2011 Max Nyffeler Dossier Salvatore Sciarrino
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