Drei Klavierwerke von Giacinto Scelsi

Text zur CD mit Markus Hinterhäuser (col legno WWE 20068)

Giacinto Scelsi (1905-1988) war eine geheimnisumwitterte Außerseiterfigur der Moderne. Sein Werk wurde von einer breiteren Öffentlichkeit erst spät wahrgenommen, über sein Leben war lange nur Bruchstückhaftes bekannt.

"Eine mittelalterliche Erziehung, ein altes Schloss im Süden Italiens", schrieb er selbst 1984 in autobiografischen Notizen, "Indien / Yoga / Paris / Unterhaltung mit Clochards / in Rom / Klänge / Klänge / Einsiedlerleben / Verneinung dessen, was Menschen trübe macht..."

Die Stichworte verweisen auf Grundeigenschaften seiner Musik. Der aristokratische Solitär verstand Komponieren nicht als planenden Umgang mit Konzepten, Formprinzipien oder Strukturen, sondern als Arbeit an der konkreten Klangerscheinung. Wie ein Plastiker seine räumlichen Gestalten formt, so formte er seine Stücke als prozesshafte Klanggestalten im Medium der Zeit. Meditative Züge sind seiner Musik nicht fremd, und obwohl sie rhythmisch präzis notiert ist, besitzt sie oft einen improvisatorischen Gestus – ein Formverständnis, zu dem er wohl durch seine engen Kontakte mit der Römer Improvisationsgruppe "Nuova Consonanza" angeregt wurde. Kerngedanke ist häufig der Einklang oder ein einfaches Intervall, aus dem sich die Musik mit der Eigengesetzlichkeit organischen Lebens entfaltet. Damit erschloss Scelsi Dimensionen des Hörens, die vor ihm in der europäischen Avantgarde unbekannt waren. Die Wahrnehmung wird nach innen gerichtet in jene "geheimere Welt", der auch der späte Nono seit dem von Hölderlin affizierten Streichquartett auf der Spur war.

Für das Klavier, das für ihn auch ein Improvisationsinstrument war, schrieb Scelsi zwischen 1930 und 1941 vierzehn Werke. Nach längerer Unterbrechung folgten 1952-56 nochmals sieben, zu denen auch die Stücke auf dieser CD gehören. Danach kommt nichts Nennenswertes mehr.

Die Quattro illustrazioni werden im Untertitel als "Illustrations on the Metamorphosis of Vishnu" bezeichnet. Der thematische Bezug auf den Gott Vishnu, der im Hinduismus in seinen zehn irdischen Verkörperungen – den Avataras – verehrt wird, verweist auf Scelsis Erfahrungen mit östlichen Religionen. Vier dieser Verkörperungen werden von ihm musikalisch dargestellt. Im 1. Teil spaltet sich das Kernintervall eines Tritonus sukzessive zu einem weit gefächerten Klang auf, der zum Schluss im dreifachen Piano versinkt. Teil 2 (Varaha-Avatara) beginnt mit dunklen, erdigen Ostinatofiguren, die sich zum mächtigen Klangstrom auswachsen und zum Schluss in die numinose Tiefe zurückkehren. Im dritten Teil (Rama-Avatara) wechseln sich zwei Gedanken ab: eine über vier Oktaven aufgefächerte, helle Figur in freier Deklamation und eine aus der Tiefe aufsteigende Wellenbewegung, deren düstere Melancholie an manche Préludes eines Skrjabin oder Rachmaninoff erinnert. Im Schlussstück (Krishna-Avatara) über den "dunklen" Gott Krishna wird eine statische, zwischen den Tönen E und H pendelnde "Melodie" von undefinierbaren Akkorden getragen, die den Klang eines tiefen Gongs evozieren.

Die Suite Nr. 8 "BOT-BA" nennt Scelsi eine "Evokation Tibets mit seinen Klöstern im Hochgebirge: tibetanische Rituale, Gebete und Tänze". Ein ritueller Charakter ist denn auch allen sechs Sätzen eigen. Im Klaviersatz schlägt sich das als rasendes Vibrieren einer Klangfläche (Nr. 1), als hartnäckiges Festhalten an einzelnen Tonaggregaten und Figuren (Nr. 2), als archaisierende Tonrepetitionen und energetische Entladungen (Nr. 3) nieder. In den Oktav-Attacken und den motorischen Rhythmen schimmert als ferner Bezugspunkt der Klavierstil von Bartóks "Allegro barbaro", auch die athletische Pianistik eines Prokofieff durch. Damit kontrastiert der 5. Satz mit den gehaltenen, gleichsam ihrem eigenen Verklingen nachhorchenden Akkorden. Den hochvirtuosen Abschluss bildet der toccatahafte 6. Satz mit seinen gehämmerten Staccato-Sequenzen.

Die Cinque incantesimi (Fünf Zaubersprüche) sind dem französischen Schriftsteller, Zeichner und Maler Henri Michaux gewidmet. Sie wirken wie ein klingendes Äquivalent zu den nervösen Strichzeichungen, die der mit Meskalin experimentierende Michaux aufs Papier warf. Mit Ausnahme des mit "misterioso, soprannaturale" bezeichneten vierten Stücks, das mit längeren Dauern arbeitet, ist der Zyklus geprägt durch rasende Bewegungsabläufe und Klangexplosionen von beinahe schmerzhafter Intensität. Charakteristisch für die fünf Stücke ist eine Art musikalischer écriture automatique: Eine Figur wird angerissen, bricht nach einigen Takten abrupt ab und wird mechanisch wiederholt, bis ein anderes Bewegungsmuster an ihre Stelle tritt, mit dem ähnlich verfahren wird. Die losgelassenen Klänge, die bis in die extremen Register geführt werden, sprengen den formalen Zusammenhang. Sie resultieren unmittelbar aus der Körperbewegung und folgen den Gesetzen der Diskontinuität, des Bruchs und der Augenblicksentscheidung.

© 2003, Max Nyffeler

Komponisten: Portraits, Dossiers

 

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