Conlon NancarrowPortraitiert von Max Nyffeler
Diese Selbsteinschätzung von Conlon Nancarrow, der 1997 fünfundachtzigjährig starb, findet sich in dem Buch Begegnungen mit Conlon Nancarrow von Jürgen Hocker (Mainz 2002), der bisher umfassendsten und detailliertesten Darstellung von Leben und Werk des in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Komponisten. In der ihm eigenen wortkargen und präzisen Art sprach Nancarrow damit zwei Wesensmerkmale seiner künstlerischen Arbeit an: Reduktion und Intensität. Reduktion insofern, als sich fast sein ganzes Schaffen auf den schmalen Bereich des durch perforierte Papierrollen gesteuerten Selbstspielklaviers oder Player Pianos beschränkte. Intensität, weil er die dazu notwendigen Verfahrensweisen, von der Werkidee über ihre handwerkliche Realisierung bis zum unaufhörlichen Herumtüfteln an den sperrigen Klangerzeugern selbst, in jahrzehntelanger Arbeit dermaßen verfeinerte, dass er mit Produktionsvorgang und Produktionsmitteln gleichsam eins wurde. Die Auseinandersetzung mit der Maschine als materialbezogene Meditation. Nancarrow, der komponierende Ingenieur. Und noch ein Drittes klingt in der Äußerung an: Die völlig uneitle Befriedigung darüber, dass am Schluss seines Lebens sein Werk die ihm gebührende Beachtung erfahren hat. Jahrzehntelang hatte das ganz anders ausgesehen. Nancarrow machte eine ganz untypische Komponistenkarriere und ist darin vielleicht verwandt mit amerikanischen Kollegen wie Charles Ives oder Harry Partch. Geboren wurde er 1912 in einem Middle-Class-Haushalt in Arkansas. Als Kind erhielt er Klavierunterricht, und im Haus seiner Eltern befand sich eines der damals beliebten Player Pianos. Während seines Musikstudiums in Cincinnati lernte er Trompete und spielte Jazz, danach studierte er in Boston Dirigieren sowie Theorie und Komposition bei Walter Piston, Roger Sessions und bei Nicolas Slonimsky, der zu seinen ersten Förderern gehören sollte. Doch dann wird er zum Aussteiger. Er tritt für kurze Zeit der Kommunistischen Partei bei, ist Mitorganisator eines Konzerts zu Lenins zehntem Todestag 1934, wird Musiker in der Bordkapelle eines Überseedampfers und kommt so nach Europa. 1937 schließt er sich den US-amerikanischen Freiwilligen im Spanischen Bürgerkrieg, der Lincoln Brigade, an, kämpft gegen die faschistischen Truppen des Generals Franco und wird verwundet. 1939, beim Zusammenbruch der Republik, flieht er über Frankreich in die USA zurück und wird dort zum politisch Diskriminierten: Er erhält keinen Pass mehr. 1940 übersiedelt er wie manche andere linke Intellektuelle und Künstler nach Mexiko, wo er sich 1951 einbürgern lässt und bis zu seinem Tod lebt. "Desert Plant"In einem Vorort der Millionenstadt Mexiko, im Inkognito eines von idyllischem Garten umgebenen kleinen Hauses mit Werkstatt, entstehen über Jahrzehnte hinweg und völlig unbeachtet seine Studies for Player Piano. In Mexiko wird Nancarrow praktisch ignoriert, in den USA ist er nur Insidern ein Begriff. Nicolas Slonimsky, Elliott Carter, Henry Cowell haben über seine frühen Instrumentalkompositionen geschrieben; John Cage lernt seine Musik kennen und setzt 1960 einige seiner Studies als Tonbandaufnahmen für das Ballett von Merce Cunningham ein. Nancarrow ist eine Desert Plant, ein einsamer Idealist in der Wüste einer geldorientierten Gesellschaft, wie der Komponist Walter Zimmermann in seinem gleichnamigen Buch von 1976 solche US-amerikanischen Einzelgänger nannte; es war das erste Zeugnis eines Europäers über den zurückgezogen lebenden Komponisten und zugleich Startsignal für eine langsam in Gang kommende Rezeption. Zu Nancarrows Wegbereitern in Europa gehörten in der Folge der Pianist Herbert Henck, der zahlreiche Veranstalter auf den Unbekannten aufmerksam machte, die Journalistin Monika Fürst-Heidtmann und der eingangs erwähnte Buchautor Jürgen Hocker, ein musikalischer Laie, aber begeisterter Sammler von mechanischen Musikinstrumenten. Er brachte in den achtziger Jahren das Kunststück fertig, in Belgien ein uraltes Selbstspielklavier auszugraben und zu restaurieren. Seine eigenen Instrumente zum Abspielen der Rollen hätte der Komponist zweifellos nicht auf Weltreise geschickt, hatte er die kostbaren Einzelstücke doch in jahrelanger Arbeit seinen Bedürfnissen angepasst, Druckluftsystem und Mechanik verfeinert und den Klang durch Metallbeschlag der Hämmer heller und härter gemacht. Hocker versuchte Nancarrows Vorgaben so gut wie möglich auf sein Instrument zu übertragen. Auf diese Weise brachte er ab 1987 Nancarrows Werke dem europäischen Publikum auf zahlreichen Festivals live zu Gehör. Ohne seine Initiative wäre diese Musik hierzulande bis heute ein reines Lautsprecherphänomen geblieben. Die breite Rezeption von Nancarrows Werk beginnt erst um 1980, als er bereits auf die Siebzig zugeht. Nancarrow nun zu einer musikalischen Kultfigur. In Berlin, Graz und Bremen erklingen erstmal Bandaufnahmen seiner Studies for Player Piano. Die Musik findet in den USA und in Europa begeisterte Zuhörer. Der Komponist György Ligeti, der zu seinem endgültigen Durchbruch in Deutschland maßgeblich beigetragen hat, schreibt in einem Brief an den Dirigenten Mario di Bonaventura:
Ähnliches äußerte Ligeti mehrfach auch öffentlich, so in jenem Konzert des WDR am 5. November 1982 im Kölnischen Kunstverein, bei dem Ligeti in Anwesenheit des Komponisten die von Tonband vorgestellten Werke kommentierte. Diese Veranstaltung ebnete, nicht zuletzt dank Ligetis Eloquenz, Nancarrows Musik endgültig den Weg in der musikalischen Öffentlichkeit. Der wiederbelebte DinosaurierMan muss Ligetis superlativische Meinung nicht teilen, doch ist es unbestreitbar, dass die neue Musik mit Nancarrow eine einzigartige Bereicherung erfahren hat; einen ähnlichen Beitrag hat es im 20. Jahrhundert nicht wieder gegeben. Ansätze, die aber nicht weiter geführt wurden, gab es allenfalls in der Blütezeit des Selbstspielklaviers, in den zwanziger Jahren. 1927 erklangen bei den Kammermusiktagen in Baden-Baden einige Werke für Selbstspielklavier, u.a. eine Teiltranskription des Ballet mécanique von George Antheil und eine Cappriccio Fuge von Hanns Haass, die bereits mit der Möglichkeit irrwitziger Tempi und polyphoner Strukturen arbeitete, die Nancarrow später systematisch nutzen sollte. Auch Strawinsky fand Gefallen am mechanischen Instrument und schrieb schon 1917 eine Etude pour pianola. Nancarrow verfertigte seine erste Komposition für Player Piano, eine polyrhythmische Komposition mit über zweihundert Taktwechseln, in den Jahren 1949/50. Er begann also für dieses Instrument zu komponieren, als es als heimische Klangquelle längst vom Plattenspieler verdrängt und zum ausgestorbenen Dinosaurier geworden war. Eine ähnliche Zeitverschiebung in der Wahl der musikalischen Mittel kann man auch heute wieder beobachten: In den Avantgarde-Festivals hört man des öfteren sogenannte Turntable-Aktionen zum Zweck der improvisatorischen Geräuschproduktion dies zu einem Zeitpunkt, da der Plattenspieler längst vom CD-Spieler und neuerdings dem Computer abgelöst worden ist. Allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied: Während der turntablism der heutigen Avantgarde-DJs über die Formulierung einer flüchtigen Impression nicht hinauskommt, benutzte Nancarrow die veraltete Technik, um mit der Akribie eines Feinmechanikers, ausgerüstet mit Millimetermaß, Präzisionswerkzeugen und manchmal sogar mit Lupe, musikalische Strukturen von ungeahnter Komplexität auf seine Papierrollen zu bannen. Es sind kunstvoll elaborierte Produkte mit klassischem Werkcharakter. Sie verraten eine staunenswerte Übereinstimmung zwischen Nancarrows raffiniertem strukturell-musikalischem Denken und den spezifischen Möglichkeiten des Instruments, die von ihm, auch durch bauliche Veränderungen, bis zum Äußersten ausgereizt werden. Kontrapunktiker und Ingenieur werden eins. Und wie Franz Liszt, der in seinen Etudes d'exécution transcendante durch Erweiterung der spieltechnischen Möglichkeiten dem individuellen Klavierspiel neue Dimensionen des Klangs und des Ausdrucks erschloss, so entlockte Nancarrow dem mechanischen Instrument ganz neue Klangwelten. Wenn bis zu zweihundert Töne pro Sekunde erklingen, entsteht ein Schwirrgeräusch, das mehr nach elektronisch erzeugter Musik als nach Klavierspiel klingt ein Phänomen, auf das schon Ligeti bei seiner Kölner Präsentation von 1982 hingewiesen hat. Blues und PolytempikDie über fünfzig Werke für Player Piano, die Nancarrow zwischen 1949 und 1993 schuf er arbeitete an manchen über ein Jahr lang , bilden einen unerhört vielfältigen kontrapunktischen Kosmos. Die exakte Maßarbeit am Papierstreifen erlaubte dem Komponisten eine mathematisch genaue Realisierung von Zeitproportionen, die kein lebender Spieler je zustande bringen könnte. Drei charakteristische Beispiele:
In solchen Formdispositionen zeigt sich eine charakteristische Eigenschaft von Nancarrows Musik: die Befreiung des Tempos aus dem festen Zeitraster. Durch die individuelle Tempogestaltung erweitert sich Polyphonie zur Polytempik von übereinander gelagerten Schichten. Bei allem Hang zu Tüftelei und Konstruktion besitzt Nancarrows Musik ausgeprägt kommunikative Züge. Das abstrakt-lineare Denken wird immer wieder eingefärbt durch Klänge und musiksprachliche Gestalten, die gleichsam zum Anfassen sind. Einige der frühen Studies for Player Piano haben unüberhörbare Anklänge an Bluesmelodik, andere wiederum klingen mit ihrem aberwitzigen Tempo wie ein durchgeknallter Boogie Woogie. Auch spanische Folklore schimmert mehrfach durch. In dieser Verwendung von Elementen der musikalischen Umgangssprache liegt vermutlich einer der Gründe, dass Nancarrows Musik trotz extremer Konstruktivität nie unnahbar wirkt, ja vielfach sogar im besten Sinn unterhaltsam ist. Ein anderer Grund ist wohl der, dass die konstruktiven Prinzipien, die jedem Stück zugrunde liegen, sich der Wahrnehmung oft unmittelbar mitteilen. Im Hörer entsteht ein Gefühl lustvoller Erwartung, wobei jedoch diese Erwartung durch zahllose Einfälle und Brechungen immer wieder enttäuscht, der scheinbar vorhersehbare Lauf fintenreich abgelenkt und zu neuen Horizonten geführt wird. Die "prähistorischen Kompositionen"Auf die Frage, wie er dazu gekommen sei, für das Player Piano zu komponieren, antwortete Nancarrow einmal:
In den dreißiger und vierziger Jahren hatte er eine Reihe frustrierender Erfahrungen mit Musikern gemacht. Bei einem der wenigen Konzerte in seiner neuen Heimat Mexiko verweigerte ein Klarinettist seine Mitwirkung mit der Begründung, das Publikum könnte glauben, er spiele falsch. Das dreisätzige Septett von 1939, das er kurz vor seiner Emigration nach Mexiko noch in New York uraufführen wollte, scheiterte mangels Proben im Konzert auf peinlichste Weise. Schon nach wenigen Takten waren die Musiker hoffnungslos auseinander, und das Ganze war nach Nancarrows Worten ein Desaster. Zu den in den dreißiger und vierziger Jahren für Interpreten geschriebenen Werken gehören neben dem Septett auch das Trio No. 1 sowie Sarabande und Scherzo, beide für Klarinette, Fagott und Klavier. Alle diese Stücke wurden von Nancarrow später gering geschätzt. Er nannte sie "prähistorische Stücke" und kümmerte sich nicht mehr um sie. Manche davon so etwa der dritte Satz des Trio No. 1, der bis 1990 verschollen war sind von seinen Freunden in den Papierstapeln in seinem Studio mehr oder weniger zufällig entdeckt und beinahe gegen seinen Willen zur Aufführung gebracht worden. Sie zeigen schon die komplizierten rhythmischen Verhältnisse und polyphonen Strukturen, die dann für seine Studies for Player Piano so charakteristisch werden sollten. Was die damaligen Interpreten offenbar hoffnungslos überforderte, bildet heute eine glanzvolle Herausforderung für engagierte Musiker. Mit ihrer rhythmischen Brillanz und strukturellen Klarheit sind diese Stücke aber auch ein Gewinn für die Hörer. In den achtziger Jahren, als Nancarrows Werke in Umlauf kamen und er zu einer internationalen Berühmtheit aufstieg, wünschten sich viele Interpreten und Veranstalter zudem neue Stücke von ihm. Zu den wenigen Instrumentalwerken, die Nancarrow daraufhin schrieb, gehört das Piece for Small Orchestra No. 2, das von Betty Freeman in Auftrag gegeben und 1986 vom Continuum Ensemble in New York uraufgeführt wurde. Andererseits kam es nun zu Versuchen, teilweise von Nancarrow selbst, das ungeheure Potential der Studies for Player Piano für instrumentale Aufführungen fruchtbar zu machen. Es entstanden Transkriptionen derjenigen Stücke, die von ihrer Anlage her für Instrumentalisten überhaupt realisierbar sind. Geschrieben sind sie für die unterschiedlichsten Besetzungen, vom kleinen Orchester über Kammermusikformationen bis zu Klavier zwei- und vierhändig. Nancarrow selbst fertigte von seiner Study No. 26, einem siebenstimmigen Kanon, eine siebenhändige Klavierversion an. Zu den Bearbeitern seiner Stücke gehören der Pianist und Komponist Ivar Mikhashoff, Nancarrows amerikanischer Komponistenfreund James Tenney, der Deutsche Wolfgang Heisig. Auch wenn die Vorlagen durch die Bearbeitung auf normalmenschliche Dimensionen reduziert worden sind, steckt in ihnen noch immer etwas vom Geist des hypervirtuosen Player Pianos, der von den Spielern das Äußerste an körperlicher und geistiger Behendigkeit verlangt. Das Ensemble Modern, das vor einigen Jahren eine Auswahl der Transkriptionen auf Platte herausgebracht hat, gehört zu den berufensten Interpreten dieser anspruchsvollen Musik. © Max Nyffeler 2003 Die Printversion erschien im Programmheft zum Konzert des Ensemble Modern am 28.8.2003 bei den Salzburger Festspielen. Komponisten: Portraits, Dossiers |