Stimme der Vögel, Klang der Sterne

Zum 100. Geburtstag von Olivier Messiaen

„Ich persönlich glaube weder an die Tonalität noch an die Reihen noch an irgendetwas, das sich klassifizieren lässt. All das sind Erfindungen, die nicht der Realität entsprechen“,

sagte Olivier Messiaen 1982 in einem sehr persönlich gehaltenen Gespräch mit Rudolf Frisius.[1]

„Es gibt nur eine Realität: Die Resonanz. Die harmonische Resonanz und die Korrespondenz zwischen der Farbe und der harmonischen Resonanz, das sind reale Phänomene! Alles andere – das sind Worte, fast schon Trugbilder der Theoretiker!“

Mit der Bedeutung, die er der Klangfarbe einräumte, sah sich Messiaen in der Tradition von Komponisten wie Debussy, Chopin, Berlioz, Mussorgsky und Wagner stehen, und er ließ keinen Zweifel daran, dass er sehr präzise Vorstellungen über die Farbe hatte:

„Wenn die komplexen Klänge eine Farbe haben, dann haben auch die komplexen Rhythmen eine Farbe. Es gibt eine Farbe für die Rhythmen, eine für die Klangfarben, eine für die Tonstärken, ja sogar für die Dauern. All diese Farben beeinflussen sich gegenseitig und bewegen sich im Fluss der Musik. Denn die Musik ist etwas, das sich bewegt. Es gibt hohe und tiefe, schwache und starke, kurze und lange Klänge – und das bewegt sich, ändert sich. Mit den Farben ist es genau so.“

Gegen alle Tendenzen zur abstrakten Konstruktion, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten Überhand nahmen, auch gegen die traditionelle Auffassung von Farbe als bloßes Kolorit setzte Messiaen die Farbe wieder in ihr Recht. Sie war für ihn ein primärer Gegenstand der Wahrnehmung – kein Hilfsmittel und kein ornamentaler Zusatz, der sich von den Tönen ablösen ließe. Für seine großen, kühn konstruierten Klangarchitekturen, die manchmal wie gotische Dome in den Himmel ragen, hatte sie substanzielle Bedeutung.

Mehr noch: Er assoziierte Farben mit Klängen und legte diesem synästhetischen Konzept eine fein abgestufte Skala von Werten zu Grunde. Natürlich waren diese Zuordnungen von Farbe und Klang ganz persönlicher Art und nicht objektiv nachprüfbar. Doch die Bestimmtheit und Präzision, mit der er sie beschrieb, lassen keinen Zweifel, dass er solche Empfindungen tatsächlich hatte.

In der 1964 in Donaueschingen uraufgeführten Komposition Couleurs de la cité céleste – mit der himmlischen Stadt ist hier das mythische Jerusalem gemeint – tauchen im Notentext zehn verschiedene Farbkombination auf: Topasgelb, helles Chrysopasgrün und Kristall, Smaragdgrün, Amethystviolett, Rot, Orange und Gold, Sardonyxrot, blaugeflecktes Rot, Blauviolett, Orange, Gold und Milchweiß, Violett, Smaragdgrün, Saphirblau und Gold, Rosa, Malvenfarben und Grau.

Der Farbenkomponist

Zu den  musikalischen Grundelementen Farbe und Klang, die sich in der Zeit entfalten, tritt bei Messiaen als weitere Dimension der Raum, besonders der Sakralraum. Die Fenster der Sainte-Chapelle in Paris waren für ihn wie eine Farbsymphonie, die den Eintretenden von allen Seiten umgab und einhüllte. Zum Gefühl einer Musik der Farben trat damit ein erhebendes Raumgefühl. In ihrem Zusammenwirken bedeuteten Klang, Farbe und Raum, über alle technischen und psychologischen Belange hinaus, für Messiaen etwas Transzendentes.

An der Pariser Kirche Ste-Trinité bekleidete er über sechs Jahrzehnte lang, von 1930 bis zu seinem Tod, das Amt des Organisten. In den für diesen Raum geschriebenen Werken legte er mit erlesenen Registerfarben die geheimnisvoll-mystische Dimension des Klangs frei. Ein Werk wie die La messe de la pentecôte mit ihren einmal schummerigen, einmal grandios sich entfaltenden linearen Figuren und Akkordkonfigurationen steht exemplarisch für sein Verständnis eines Farb- und Raumklangs, der mehr sein will als bloße Klangerscheinung, nämlich ein Zeichen für Transzendenz.

Farbe und Resonanz waren für Messiaen ein „Symbol der Gottheit“. Zur Bekräftigung dieser Auffassungen berief er sich gern auf die Bibel. In Couleurs de la Cité celeste nimmt er beispielsweise Bezug auf die überquellende Bilderwelt der Offenbarung des Johannes:

„Wenn die Gottheit sich offenbart, dann sagt der Heilige Johannes nicht: ‚Ich sehe Gott’, sondern: ‚Ich sehe einen Regenbogen um den Thron, und dieser Regenbogen ist grün wie ein Smaragd, und der auf dem Thron sitzt, gleicht dem Rot von Jaspis und Sarder.’“

In diesem Werk, sagte Messiaen, gebe es warme und kalte Farben, Komplementärfarben, verblichene Farben, die zum Weiß tendieren, abgedunkelte Farben in Richtung Schwarz. Und: Man könne diese Farbtransformationen mit Personen vergleichen, die auf verschiedenen, übereinander gelagerten Ebenen agieren und gleichzeitig verschiedene Geschichten erzählen würden.

Die Musik und der Rhythmus des Universums

Eine zentrale Rolle in Messiaens musikalischem Kosmos spielt neben der Farbe der Rhythmus. In ihm spiegelt sich die Ewigkeit des Universums. Makro- und Mikrozeit, das unendlich Große und etwas winzig Kleines wie die Sechzehntelnote, sind miteinander verwandt, denn sie sind gleichen Ursprungs. In seinem bei der Brüsseler Weltausstellung 1958 gehaltenen Vortrag entwarf er seine Vision von kosmischer Zeit:

„Stellen wir uns einen einzigen Schlag im ganzen Universum vor. Einen Schlag: Ewigkeit vorher, Ewigkeit nachher. Ein Vorher, ein Nachher: Das ist die Geburt der Zeit. Stellen wir uns einen zweiten Schlag vor, fast sofort danach. Da jeder Schlag sich um die Stille verlängert, die ihm folgt, wird der zweite Schlag länger als der erste sein. Andere Zahl, andere Dauer: Das ist die Geburt des Rhythmus.“[2]

Der 1908 im südfranzösischen Avignon geborene und 1992 in Paris gestorbene Messiaen verstand es, seine visionären Ideen mit genauester Beobachtung der Klangmaterie zu verbinden. Mit seinen Forschungen auf dem Gebiet des Rhythmus erschloss er der Musik des 20. Jahrhunderts neue Dimensionen. In seinem 1944 erschienenen Lehrbuch Technique de mon langage musical widmet er diesem Thema breiten Raum. Der Rhythmus, der für den christlichen Pantheisten Messiaen so etwas wie den Atem des Universums darstellt, wird unter dem präzisen Blick des Komponisten und Analytikers Messiaen zu einer Quelle unerschöpflicher Anregungen.

Vogelgesang und Naturlaut

Zu seinen bevorzugten Studienobjekten gehörten die Musik Strawinskys, besonders der Sacre du printemps, altgriechische Metren, außereuropäische Musik und – der Vogelgesang. Im erwähnten Brüsseler Vortrag gibt es eine längere Passage, die nur eine Aufzählung verschiedener Vogelarten enthält; sie gerät ihm zu einem poetischen Lobgesang auf die Schönheit der Natur und die unendliche Vielfalt ihrer Erscheinungen.

„Die Feldlerche in den Getreidefeldern der Champagne, die Heidelerche nachts auf dem Col du grand bois, die Amsel in den Gärten und Parks, die Singdrossel und die Nachtigall am Rande der Wälder, der Pirol in den Obstgärten, der Teichrohrsänger, der Drosselrohrsänger und die Wasserralle im Schilf der Seen in der Sologne, der Seidenreiher und der Flamingo in der Camargue, die Alpendohle und der Schneefink in den Bergen und Gletschern der Oisans, der Casse Déserte und des Queyras, der große Brachvogel, der Steinwälzer, der Rotschenkel auf der Insel Ouessant im Finistère, die Silbermöve auf der Insel Aute und im See von Sigean, der Mittelmeersteinschmätzer und die Brillengrasmücke in der Wildnis des Roussillon, die Blaumerle und der Trauersteinschmätzer an der Steilküste des Cap Béar, der Waldkauz im Schrecken der Finsternis, die Kurzzehenlerche im Licht und der Hitze der Rhônemündung, der Bluthänfling in den Weinfeldern der Charente, der Steinschmätzer in der Steinwüste des Causse Méjean – und so viele andere Solisten, die ich vergesse...“

In den fünfziger Jahren begann Messiaen, den Gesang der Vögel systematisch zu notieren, um daraus das rhythmisch-melodische Material für seine Kompositionen zu gewinnen. Seither war Vogelgesang aus seinen Werken nicht mehr wegzudenken. Das Orchesterwerk Chronochromie, das bei seiner Uraufführung 1960 in Donaueschinger unter Hans Rosbaud auf das Unverständnis des Publikums stieß, enthält einen streng durchkomponierten Kontrapunkt von Vogelstimmen für achtzehn Streicher.

Anderswo erscheint der Vogelgesang als heiterer und gelöster Naturklang, etwa in dem 1983 an der Pariser Opéra uraufgeführten Bühnenwerk St. François d’Assise. Hier antworten die Vögel auf die Predigt, die ihnen der Heilige Franziskus hält, mit zwei Vogelkonzerten, an denen sich das ganze Orchester beteiligt. 

Réveil des oiseaux, Oiseaux éxotiques und Catalogue des oiseaux heißen  die Titel der ersten Kompositionen, in denen Messiaen seine Beobachtungen des Vogelgesangs auf systematische Weise künstlerisch verwertet hat. Über die gefiederten Wesen und die Anregungen, die er von ihnen erhielt, konnte er mit schwärmerischer Emphase sprechen. Der Cataloge des oiseaux sei den Vögeln Frankreichs gewidmet und stelle eine Huldigung an die französischen Provinzen dar, sagte er im Gespräch mit Rudolf Frisius, und später habe er die Rufe von Vögeln in den USA und in Japan aufgeschrieben.

„Aber zu meiner besten Notation kam ich auf der Insel Kounié in Neukaledonien, mitten im Pazifik. Dort gibt es ganz ungewöhnliche Vögel, die wirklich genial sind und so schön singen wie man es nirgendwo sonst hören kann.“ 

Die mit wissenschaftlicher Genauigkeit betriebene Reproduktion der Naturlaute verbindet sich in Messiaens Vogelstücken mit einer tief empfundenen Freude an der unendliche Vielfalt der Schöpfung. Ein Moment von Ekstase wohnt diesen Stücken inne, in denen das religiöse Weltbild des Komponisten seinen diesseitig-heiteren Ausdruck gefunden hat.

Messiaen im Urteil seines Schülers Pierre Boulez

Pierre Boulez, einer der frühen Schüler Messiaens, der als Interpret und Komponistenkollege das Lebenswerk seines Lehrers stets mit kritischer Aufmerksamkeit begleitet hat, anerkennt an dessen Vogelstücken neidlos den Erfolg, den sie beim breiten Publikum haben. Doch sieht darin auch den Grund für eine verengte Rezeption der Werke:

„Wenn man mit einem Konzerthörer über Messiaen spricht, wird mit Sicherheit als erstes das Vogel-Thema angesprochen. Man denke nur: In seiner Oper über den Heiligen Franziskus gibt es eine ganze Szene von etwa einer halben Stunde, die nur aus Vogelrufen komponiert ist, und das beeindruckt die Leute. Messiaen war selbst ein bisschen verantwortlich für diese einseitige Aufmerksamkeit. Er verstand sich selbst als ‚Rhythmiker und Ornithologe’. Dem kann man auf Dauer nicht entkommen.  Und immer, wenn er nur Zeit hatte, ging er aufs Land und notierte Vogelstimmen. Am Morgen, am Abend bis zum Sonnenuntergang. Es war eine Leidenschaft bei ihm. Und er war zweifellos sehr kenntnisreich.[3]

In seinem Brüsseler Vortrag bekannte Messiaen, dass ihm die Vögel als reine Stimme der Natur stets zu neuen Ideen verhelfen würden, wenn ihn die Inspiration zu verlassen drohe. Pierre Boulez, der kühle Rationalist und Ästhet, kommentiert das mit Skepsis. Dieses Verfahren, Realität abzubilden, behagt ihm nicht.

„Neue Ideen – gut. Das akzeptiere ich. Aber Vögel imitieren? Damit bin ich ganz und gar nicht einverstanden. Schon wenn man die Notation betrachtet... Einmal fragte ich ihn – und da wir uns sehr gut verstanden haben, konnte ich das wagen – ich fragte ihn zwei Dinge, die mich damals beschäftigten. Das eine betraf die Vögel. Ich sagte: Wissen Sie, ich meine, Ihre Vögel, denen ich jetzt aufmerksam zugehört habe, singen nicht mit den Intervallen, die Sie ihnen zugeschrieben haben – überhaupt nicht. Sie singen nicht in großen Septimen, übermäßigen Quarten und Halbtönen usw. Er antwortete: Das ist eine Art künstlerische Umsetzung. Aber ich habe diese künstlerische Umsetzung in seinen kleinen Notizbüchern gesehen. Die Vögel sind in einer Art von Schönberg-Intervallen notiert. Es ist ein Unterschied zwischen dem realen Klang, dem ‚Klang der Natur’, wenn Sie so wollen, und der musikalischen Transposition. Nehmen Sie einen Vogel, der mit tiefen Celli wiedergegeben wird: So einen Vogel kann ich mir nicht vorstellen. Also, ich kann zwar nachvollziehen, wie er diese Klangobjekte als Material benutzt, aber mit der Wirklichkeit hat das ziemlich wenig zu tun.“

Unterricht bei Messiaen: Pierre Boulez und George Benjamin

Boulez war neunzehn Jahre alt, als er, ein Jahr vor Kriegsende, erstmals Kontakt zu Messiaen aufnahm.

„Pierre Boulez mag moderne Musik, möchte Stunden in Harmonielehre etc. bei mir haben“,

notierte Olivier Messiaen unter dem Datum des 28. Juni 1944 in sein Tagebuch.[4] Boulez hatte davor schon ein Stück von ihm im Konzert gehört und wusste, dass Messiaen als Komponist und als Lehrer den geheimnisvollen Ruf eines Außenseiters hatte. Und das weckte sein Interesse. 64 Jahre später erinnert er sich:

„Vielleicht rief ich ihn an, ich weiß nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch genau, dass ich mit dem Fahrrad zu ihm fuhr – um diesen Ort in Paris aufzusuchen, braucht man ziemlich gute Muskeln, es geht steil bergan. Dann kam ich also bei ihm an; er wohnte sehr bescheiden. Ich erinnere mich, dass ich als erstes sein Pedalklavier sah – ein Instrument mit Pedalen wie eine Orgel. Ich brachte ihm einige Kompositionsübungen mit, und er sagte: Das ist interessant, nehmen Sie einige Stunden bei mir, um sich für die Aufnahmeprüfung in meine Klasse am Konservatorium vorzubereiten. Und so trat ich im Oktober in seine Klasse ein.
Doch schon davor lud er mich zu einem Hauskonzert bei Guy Bernard-Delapierre ein. Das war im Juli 1944, etwa einen Monat vor der Befreiung von Paris. Bei diesem Hauskonzert spielte er mit Yvonne Loriod die „Visions de l’Amen“ für zwei Klaviere. Das war das erste Mal, dass ich das Stück hörte. Und kurze Zeit später – da war ich schon sein Student – hörte ich es gleich nochmals, und zwar bei einer Aufnahme im Französischen Rundfunk, wo ich ihm die Seiten wendete. Es war sehr interessant für mich, dem Notentext zu folgen.“

Gleich zu Beginn des Unterrichts bei Messiaen machte Boulez eine prägende Erfahrung. Messiaen analysierte Ma mère l’oie von Maurice Ravel, ein Werk, das – wie Boulez rückblickend feststellt – schon in der damaligen Situation, als Honeggers Musik als das modernste galt, nicht mehr als avantgardistisch bezeichnet werden konnte. Doch die Art, wie Messiaen es machte, blieb dem Neunzehnjährigen im Gedächtnis haften.

„Zuerst analysierte er das Gedicht: Warum Ravel diese Märchenerzählung wählte, welche Art von Kontrast zwischen den Versen bestand, dass sie ursprünglich für Kinder geschrieben wurden etc. Dann analysierte er die Musik selbst, zunächst die vierhändige, dann die Orchesterversion. Und da wurde mir zum ersten Mal bewusst, was Komponieren heißt. Das hat mich sehr beeindruckt. Auch schaute er nie auf die Uhr. Wir wurden um zwei Uhr bestellt, und um sieben war der Unterricht dann zu Ende.“

Pierre Boulez gehörte zur ersten Generation der Schüler Messiaens. Zweiunddreißig Jahre nach ihm, 1976, trat der jüngste und letzte Student in die Kompositionsklasse ein, die mittlerweile in ganz Europa legendär geworden war: der gerade sechzehn Jahre alte Brite George Benjamin. Auch er erinnert sich voller Begeisterung an seinen Unterricht bei Messiaen:

„Es war einfach toll. Die Analyse von Debussys Pelléas dauerte sechs Wochen, 14 Stunden die Woche. Mit einem Feingefühl für jeden Aspekt, und das war bewegend und wirklich unglaublich. Ich war damals sehr jung, und er fühlte wie jemand in meinem Alter. Seine Begeisterung und die Liebe zur Musik waren ansteckend – es war einfach inspirierend. Nicht verschweigen möchte, dass seine Analyse der großen deutschen Musik, Wagner usw., viel weniger interessant war. Er schien nicht richtig unter die Oberfläche gehen und die musikalische Sprache analysieren zu wollen. Doch das alles hatte eine enorme Wirkung auf mich. Im Unterricht herrschte eine große Freude; ich weiß, die fünfziger Jahren waren eine schwierige Zeit in Messiaens Lebens, aber am Ende seines Tätigkeit als Lehrer spürte man, wie sehr er das Unterrichten liebte. Für einen Teenager wie mich war das außergewöhnlich.[5]

Wie schon Pierre Boulez drei Jahrzehnte vor ihm machte auch George Benjamin die Erfahrung, dass Zeit für Messiaen keine Rolle spielte. Dass er nach vier Stunden Unterricht den Eindruck hatte, erst eine sei vergangen, ist für ihn bis heute ein Geheimnis. So etwas, sagt Benjamin, hat er nirgendwo sonst erlebt: „It is very, very strange. I never felt that with any other person.” Benjamin vermutet, dass das vielleicht mit der ruhigen Art Messiaens zu tun haben könnte, und Boulez ergänzt: „Messiaens Großzügigkeit im Umgang mit der Zeit übertrug sich auf die anderen. Man war eine kleine, verschworene Gruppe, die sich als Elite verstand, sich solidarisch fühlte und überzeugt war: „Wir sind etwas Besonderes – We are the exception!”

Die Turangalîla-Sinfonie, ein umstrittenes Meisterwerk

Die Turangalîla-Sinfonie, die Messiaen in den Jahren 1946-48 im Auftrag von Serge Koussevitzki komponierte und die 1949 unter der Leitung von Leonard Bernstein in Boston uraufgeführt wurde, findet bis heute weit mehr Zustimmung unter dem normalen Publikum als unter Fachleuten. Der Überschwang und die Ekstase, die immer wieder durchbrechen, die unverhüllte Klangsinnlichkeit und Melodienseligkeit, die mit den Streichern verschmelzenden Glissandi der „Ondes Martenot“, dazu eine Harmonik, die vor tonalen Anklängen nicht zurückschreckt– all das stößt den eingefleischten Avantgardisten bis heute säuerlich auf. Boulez sagt es klipp und klar:

„Wenn ich dieses Stück höre, werde ich krank. Zu viel Zucker, zu viel Hollywood. Es ist über weite Strecken schlicht vulgär.“

Der um eine Generation jüngere George Benjamin urteilt dagegen differenzierter und mit einem Anflug von Ironie:

„Das war das erste große Stück, das ich von Messiaen hörte, kurz vor meinem Studienbeginn. Ich war damals fünfzehn oder sechzehn. Ich muss gestehen: Es klingt außerordentlich – die Instrumentierung im Zusammenwirken mit Harmonik und Rhythmus. Doch es ist auch nicht mein Lieblingsstück. Beim letzten Satz habe ich auch meine Schwierigkeiten. Aber diese Exzessivität und diese seltsame Abwesenheit von Geschmack berühren mich irgendwie.“ 

Turangalîla, eine Generationenfrage? Vielleicht. Doch noch eine andere Überlegung drängt sich auf: Hätte Messiaen dieses Stück anders komponiert, wenn er es für einen europäischen Konzertsaal und einen europäischen Dirigenten geschrieben hätte? Man kann sich jedenfalls leicht vorstellen, dass Leonard Bernstein, der Uraufführungsdirigent, an diesem Musik großen Gefallen gefunden hat.

Messiaen, der Klangzauberer und Mystiker,  der demütige Gläubige und Naturbewunderer, der brillante Analytiker, Erfinder neuer Rhythmen und Klänge, der  Charismatiker, der in seinen Studenten die Begeisterung für die verborgenen Seiten der Musik entfachte und selbst keine Angst hatte vor ästhetisch extrem unkorrekten Einfällen: Für seine musikalischen Zeitgenossen war er eine widersprüchliche Figur, die sich mit ihrem Facettenreichtum in keine der gängigen avantgardistischen Kategorien einordnen ließ. Ihm selbst, dem großen Einzelgänger in der Musik des 20. Jahrhunderts und katholischen Universalisten, musste diese Unmöglichkeit einer Kategorisierung zweifellos gefallen. Es gehört zu den Geheimnissen seiner Musik, dass sie es bis heute fertig bringt, auch die extremsten Kontraste in einer großen, liebenden Bewegung zu umfassen und damit gleichsam die ganze Welt an ihr Herz zu drücken.

Messiaen war ein visionärer Idealist mit einer fast kindlichen Fähigkeit zu Staunen, wie Boulez und Benjamin im Rückblick übereinstimmend feststellen. Das Wunderbare entdeckte er nicht in abstrakten Höhen, sondern in der konkreten Materie, in Farbe und Resonanz – doch immer mit der Überzeugung, dass die Schönheit des diesseitigen Klangs nur ein Widerschein der Ewigkeit ist.

© 2008, Max Nyffeler
Mit Dank an Rudolf Frisius für die Verwendung der Zitate.
Der Text basiert auf einem Radio-Feature, gesendet am 7.12.2008 im WDR 3.

Anmerkungen

[1] im Veranstaltungskatalog zur Konzertreihe Frankfurt Feste 1984, S. 62.

[2] in: Olivier Messiaen, Musik-Konzepte Bd. 28, München 1982, S. 3.

[3] Gespräch des Autors mit Pierre Boulez und George Benjamin über ihren gemeinsamen Lehrer Messiaen (4.5.2008, London).

[4] zit. nach: Peter Hill und Nigel Simeone, Messiaen, Mainz 2007, S. 149.

[5] Gespräch mit Boulez und Benjamin.

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