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Und immer wieder Abschiede
György Kurtágs Botschaften
Von Peter Bitterli
Was bleibt vom Menschen? Ein Zeichen vielleicht, das er gesetzt, eine Botschaft, die er weitergereicht hat. Was hat er getan Zeit seines Lebens? Er hat Fragmentarisches geschaffen, er hat Spiele gespielt, wenn es hoch kommt, Zeichen und Botschaften hinterlassen. Was bleibt uns angesichts des Todes anderer? Wir können uns an einen Menschen erinnern, können ihm ein Grabmal als Zeichen seiner Existenz setzen, können ihm mit einer nachträglichen Botschaft die Reverenz erweisen.
György Kurtág schafft sein Werk vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit, der Beschränktheit, vielleicht der Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens. Er prägt Zeichen, Münzen als Fährgeld für Charon. Er fixiert die Spuren der eigenen Existenz und derjenigen anderer, Lebender und Toter. "Zeichen, Spiele und Botschaften" heissen seine Werke, "Omaggio a Luigi Nono", "Drei alte Inschriften", "Grabstein für Stephan" oder "Stele". Relativ klein ist sein Oeuvre, ausgesprochen kurz sind zahlreiche seiner Stücke, vorläufig Abgeschlossenes steht neben Fragmentarischem, Offenem, Weiterwucherndem. Unter der Kategorie der Ewigkeit ist ohnehin alles Stückwerk. Die Stücke und Splitter aber bergen eine ungeheure Kraft und gleichzeitig eine ungeschützte Sensibilität. Sie stellen sich nackt zur Schau, sie geben auf kleinstem Raum alles, sie sind die Existenz selbst, sie verweisen auf die fundamentale Tragik der condition humaine: "Ecce Homo".
Krise und Neubeginn
György Kurtág hat im Jahre 1959 nach einer Lebens- und Schaffenskrise mit dem Komponieren von null auf neu begonnen. Vorangegangen war ein noch tonales Frühwerk, das in der Tradition der Spätromantik, Bartóks und teilweise der ungarischen Folklore steht. Kurtágs spezifische Sensibilität aber ist schon da zu spüren. Im "Movement für Viola und Orchester" aus dem Jahre 1954 etwa ist bei aller Ueppigkeit und auftrumpfenden Dramatik der Ton einer verzweifelten, zarten Melancholie unüberhörbar. Die Westeuropareise der Jahre 1957/58 brachte dann Krise, Umschlag und Neubeginn. Kurtág studierte bei Messiaen und Milhaud, hörte Werke von Stockhausen und beschäftigte sich insbesondere mit dem Werk Anton Weberns, des Meisters der kleinen, kompakten Form. Zurück in Budapest schuf der Komponist 1959 ein Streichquartett, dem er programmatisch die Opuszahl 1 gab.
Mit diesem Werk hatte der Dreiunddreissigjährige seinen Personalstil gefunden. Sechs kurze Sätzchen fügen sich zu insgesamt einer Viertelstunde Musik. Teils sind die Stücke schneidend dissonant und zerklüftet, teils aber haben sie eine Affinität zur Tonalität. Es wird ganz bewusst auch mit dem Instrumentalklang, mit dem Parameter Klangfarbe gearbeitet. Die Kürze des Werks verweist wohl auf Webern, doch ist Kurtág stilistisch weniger rigoros und ängstlich. Neben avantgardistischen Techniken findet sich schon in Opus 1 die Erinnerung auch an frühere Musiken. Kurtág sucht und findet für seine Botschaft die jeweils angemessene Grammatik. Die Musik spricht den Hörer unmittelbar an. Sie ist Stimme und Zeichen. Der letzte Satz des Streichquartetts ist eine beklemmend statische Trauermusik, wie Kurtág deren noch viele schreiben wird. Vor allem aber ist im Werk des Neubeginns ein Kurtágsches Charakteristikum bereits voll ausgeprägt: die letzlich unerklärliche Tatsache, dass noch die schärfsten dissonanten Reibungen den Eindruck des Wohlklangs erwecken.
In den nächsten Jahren probiert Kurtág den neugewonnenen komprimierten Stil in verschiedenen Besetzungen aus. Das Bläserquintett op. 2 bietet ebenso expressive Augenblicksmusik von lustvoller Klangsinnlichkeit wie die Klavierstücke op. 3 oder "Zeichen" op. 5 für Viola. Dabei basieren die Einzelnummern dieser Zyklen jeweils auf spärlichem und scheinbar schlichtem Material, auf einem Motiv, einer Bewegungsidee, einer Farbe. Verblüffend und typisch ist immer wieder der volle, quasi orchestrale Klang auch bei kleiner Besetzung. Die Dichte der Verarbeitung garantiert den expressiven Hochdruck. Dass die Zeichensetzung nicht bloss mit verbissenem Ernst, sondern auch spielerisch betrieben wird, zeigen exemplarisch die Acht Duos für Violine und Cimbalom (1960/61). Die Besetzung entspricht einer minimalen ungarischen Kaffeehausmusik. Mit leiser Ironie lässt Kurtág die Violine in schmachtenden Linien schluchzen, in Trillern zwitschern und in Glissandi pfeifen. Dem Geigenschmelz entsprechen die rauschenden Arpeggien und emphatischen Aufschwünge des Cimbaloms.
Barocke Visionen
1968 schrieb Kurtág eines seiner bislang längsten Stücke: Die "Sprüche des Péter Bornemisza" sind eine Kammerkantate für Sopran und Klavier. Mit diesem Werk tritt das Wort und damit eine zweite semantische Ebene in Erscheinung. Die Texte des ungarischen Barockdichters, -mystikers und -predigers handeln zuerst von der schrecklichen Berufung, die dem widerfährt, der Zeugnis abgeben soll vom Zustand der Welt und von teuflischer Versuchung. Das Zeichensetzen, das Transportieren von Botschaften schreckt und brandmarkt denjenigen, der sich dazu berufen fühlt. Im weiteren Verlauf führt der gedankliche Weg von einem unerbittlichen memento mori schliesslich zu einer Hoffnung, die sich an der jährlichen Wiederkehr des Frühlings und am Bestand des Firmamentes entzündet. Die "Sprüche" sind wohl Kurtágs sprödeste, schneidendste, kargste Musik, Klänge von einer hohlwangigen, unerbittlichen, fiebrig erregten Expressivität. Erst am Ende tauchen Feingesponnenes, Tanz und Jubel auf. Aus den Worten des Péter Bornemisza hat Kurtág einen kurzen Merkspruch entnommen, der sich in der Folge durch viele seiner Werke zieht, sei es als Vertonung, als Ueberschrift oder als Motto: "Virág az ember" ("Der Mensch ist nur eine Blume"). Blumen welken, sie blühen aber auch für eine Weile und zeichnen sich so ein in die Welt.
Ab Mitte der siebziger Jahre begann sich Kurtág intensiv mit dem Werk der in Ungarn lebenden russischen Dichterin Rimma Dalos auseinanderzusetzen. Die zurückgenommene Erregung, die gewissermassen eingekerkerte Emotionalität, die Sanftheit, die prägnante Kürze, die Technik des assoziationsreichen Andeutens in den Gedichten von Rimma Dalos decken sich ideal mit den musikalischen Intentionen und dem Stil György Kurtágs. Zwei Hauptwerke basieren auf den russischen Texten der Dichterin: "Botschaften der verblichenen R.V. Trussova" (1980) und "Szenen aus einem Roman" (1981/82).
"Von der ersten Begegnung / bis zur Trennung, / vom Abschied / zum neuen Erwarten / verfloss mein Frauendasein", lautet ein Gedicht in "Szenen", ein anderes, das den Titel "Nackt" trägt: "Ich bedecke meine Seele / mit einem Feigenblatt / und flüchte aus dem Paradies." Die Handlung des im Titel angesprochenen, offenbar hochromantischen Romans bleibt vage. Herausgepickt werden lediglich die lyrisch dichtesten Momente. Die Sopranstimme seufzt, lacht, trällert, jubelt, krächzt und flüstert. Diese Lieder sind diskrete, unrhetorische und gänzlich ungeschützte Gebilde, unheimlich und kraftvoll gerade wegen ihrer Verhaltenheit, zerbrechlich wie fast alles, was Kurtág schreibt.
Botschaften einer Verstorbenen
Das zweite grosse Werk nach Rimma Dalos, "Botschaften der verblichenen R.V. Trussova", verwendet neben dem Sopran ein Kammerorchester mit Cimbalom. Die Stimme steigert sich namentlich im Mittelteil mit dem Titel "Ein bisschen Erotik" in eine wilde Ekstase. Dabei schmiegt sich die Musik den Texten, einzelnen Worten, wechselnden Stimmungen ganz unmittelbar an. "Der Tag fiel wie eine Guillotine", beginnt ein Gedicht, und das Schlagzeug grundiert mit den Geräuschen eines sausenden und treffenden Fallbeils. "Welken von herbstlichen Blumen, / unendliches Fallen des Regens. / So verlässt das Leben die Natur...", heisst es später. Leise fallende chromatische Linien bilden das Hauptmaterial des Stücks. In äusserster Verdichtung und Beschränkung fallen so Klangmalerei, Ausdruck der Empfindung und motivische Arbeit in eins.
Ein zentrales Vokalwerk sind auch die "Kafka-Fragmente". Der 1987 fertiggestellte Zyklus ist wiederum ein kleingliedriges und klein besetztes Werk: 40 Einzelstücke dauern zusammen eine knappe Stunde. Eine Sopranistin singt Textfragmente aus Tagebüchern und Briefen von Franz Kafka, begleitet lediglich von einer Violine. Kafkas Notate sind kleine Beobachtungen, Reflexionen und Wortspiele, die immer wieder in Paradoxien, selbstgestellte Fallen und schonungslose Desillusionierungen führen. Ein Text etwa wie "Geschlafen, aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben", den Kurtág gleich in zwei Versionen komponiert, trägt in der Vertonung den fast schon zynischen Titel "Berceuse". Wiederum muss die Sopranistin alle Register von Flüstern und Sprechen zu Singen und Schreien ziehen, ihre unverstellt exaltierte Stimme dient als unmittelbares Sprachrohr der Seele. Die Violine wird oft klangmalerisch eingesetzt und lotet ihrerseits ein Spektrum zwischen Geräusch, ungewohnten Spielweisen und sattem Geigenton aus. Dabei wird nicht das Prinzip Melodie-Begleitung angewendet, sondern Stimme und Geige spielen gleichberechtigt und schaffen gemeinsam zarte und doch heftige, simple und doch durchdachte Gebilde, eine schmucklose Spinnwebenmusik, deren Schönheit ihrer Wahrhaftigkeit entspringt. Das erste Kafka-Fragment ist fast schon programmatisch für Kurtágs eigenes Schaffen: "Die Guten gehn im gleichen Schritt. Ohne von ihnen zu wissen, tanzen die anderen um sie die Tänze der Zeit." Den unbeirrten Schritt zeichnet das ganze Stück hindurch die Geige mit einer gleichförmig repetierten grossen Sekunde, die von der Singstimme zunächst aufgenommen wird. Dann schert die Sopranistin hektisch aus und ergeht sich in virtuosen Koloraturen mit nervösen Wiederholungen der Worte "tanzen" und "Tänze". Dichter, stimmiger, anschaulicher und schöner geht es wohl nicht.
Spiel mit der Tradition
Neben den grossen Vokalzyklen entsteht in den siebziger Jahren weiterhin aphoristische Kammermusik, wobei eine Tendenz zu stets noch höherer Dichte, noch lapidarerer Kürze, noch grösserer Einfachheit festzustellen ist. Ein zweites Streichquartett mit dem Titel "Hommage à Mihály András - 12 Mikroludien" und ein drittes, "Officium breve in memoriam Andreae Szervánszky", versammeln jeweils zauberhafte Miniaturen mit grosser Lust an Klang und Körperlichkeit, verwenden diverseste Techniken vom verbissen festgehaltenen Einzelton bis zum komplexen Kanon, konsonante Terzen und Quinten ebenso wie Dissonanzen und Geräusche.
Ein Werk, das bezeichnend ist für Kurtágs kreativen und spielerischen Umgang mit der abendländischen Musiktradition, ist "Hommage à R. Sch." von 1990. Die sechs Stücklein haben die seltsame Besetzung Klarinette, Bratsche und Klavier, wie sie Robert Schumann, dem die Verbeugung gilt, in seinen "Märchenerzählungen" verwendet hat. Auf Schumann verweisen auch vier der Stücktitel: "Merkwürdige Pirouetten des Kapellmeisters Johannes Kreisler" spielt auf die Figur von E.T.A. Hoffmann an, die auch durch Schumanns "Kreisleriana" geistert. Hinter den Initialen in "E: der begrenzte Kreis..." und "... und wieder zuckt es F. schmerzlich um die Lippen..." verbergen sich Eusebius und Florestan, Schumanns schreibende und komponierende alter egos, wobei der letztere Titel gleich noch ein Zitat aus dessen "Davidsbündlertänzen" ist. "In der Nacht" beschwört die Atmosphäre von Schumanns Nachtstücken. "Der begrenzte Kreis" und "Ich war eine Wolke" sind Anspielungen auf eigene frühere Werke Kurtágs.
Der sechste und längste Satz heisst "Abschied" wie der sechste, letzte und längste Satz in Gustav Mahlers "Lied von der Erde". Hier wird ein weites Assoziationsfeld aus der Welt der deutschen Romantik aufgerissen, an das Kafka, Kurtág und weitere Dichter und Musiker grenzen. Kurtág komponiert die Nummern 1-5 in den typischen Schumann-Gesten. Kreisler wirbelt grotesk um die eigene Achse, der träumerische Eusebius singt einen versonnenen Kanon ("Kreis"), der feurige Florestan gebärdet sich wild, nächtens kommen die Alpträume. "Abschied" schliesslich ist eines der vielen Kurtág-Stücke, die in Stille münden. Doppelt so lang wie die anderen fünf zusammen beginnt es mit einem langsamen Puls, einem gemessenen Schreiten, in das Naturlaute hereintönen. Auf Steigerung folgt Verebben. Es bleibt das Klavier in tiefster, geräuschhafter Lage, dazu lange Töne und kurze Motivfetzen der anderen Instrumente. Die Musik verlöscht im Stillstand. Der Klarinettist, derjenige also, der sein Instrument mit dem eigenen Atem gespielt hat, macht einen einzigen leisen Schlag auf die grosse Trommel.
Orchesterwerke - Raummusiken
Seit den später siebziger Jahren komponiert György Kurtág auch für grössere Ensembles und Orchester. Dabei verteilt er sein Instrumentarium in den meisten Werken auf verschiedene im Raum verteilte Gruppen. Während schon Kurtágs klein besetzte Kammermusik häufig verblüffend üppig und quasi orchestral klingt, erobert er sich also in den eigentlichen Orchesterwerken zusätzlich die Dimension des Raumes. Das Private weitet sich zum spektakulären Klangerlebnis und lebt doch weiterhin von der typischen, aus Schlichtheit destillierten Expressivität. "Grabstein für Stephan", entstanden zwischen 1978 und 1989, kombiniert eine Sologitarre mit Instrumentalgruppen. Es beginnt und endet mit den leisen Tönen der leeren Gitarrensaiten. Dazwischen entwickelt sich ein ruhiger Trauermarsch im Mahlerschen Trauerzug-Takt mit eingestreuten wütenden Aufschreien. Einen weiteren, formal, stimmungsmässig und klanglich ähnlichen Grabstein setzte Kurtág 1993 mit "Stele".
Auch "...quasi una fantasia..." von 1988 ist eine Raummusik. Der zweite Satz ist überschrieben: "Presto minaccioso e lamentoso. Molto agitato, sempre pppp". In diesem anderthalbminütigen Sätzchen arbeitet Kurtág mit einem Gestus, der sich in zahlreichen seiner Werke findet. Es ist der Gestus einer zurückgebundenen, leisen Aufregung, einer höchsten Gefahr oder bodenlosen Verzweiflung, die aber von weit her, wie durch zahlreiche Schleier hindurch herüberklingt. Das ist Dramatik im Reagenzglas, das sind fast lautlose Implosionen von grösster Gewalt, gefolgt im nächsten Satz von der mächtigen Explosion in Pauken und Blech. "...quasi una fantasia..." endet mit einer volksmusikhaften, zerbrechlichen Aria, die von Mundharmonikas und Blockflöten in ein surreales Klanggewand gehüllt wird.
Ein Werk, das neben vier Instrumentalensembles zusätzlich 5 Singstimmen und eine Rezitatorin in den Raum plaziert, ist "Samuel Beckett - What is the Word" (1990/91). Zugrunde liegt der letzte Text, den Beckett geschrieben hat, ein Kaleidoskop aus bloss 24 immer neu kombinierten Wörtern. Eine Rezitatorin trägt dieses Wort-Amalgam abgehackt und stotternd vor, und ihre Figuren werden in die Instrumente und Stimmen verlängert, welche diese wiederholen, vergrössern und verstärken. Gezeigt wird der mühsame Versuch, Sprache, Klänge, Worte, Artikulation zu finden, im physischen wie im semantischen Sinn. Das ganze Stück ist eine grossbesetzte Unmöglichkeit, sich auszudrücken. Es endet im Röcheln und Stöhnen der Rezitatorin und in trostlosen leeren Quinten der Ensembles. Die Zeichensetzung ist fast unmöglich geworden. Eindeutig Fixiertes ist nicht mehr zu haben.
Work in progress - opera aperta
Dieser Zweifel, diese Unlust am ein für allemal fixierten "Opus" scheinen der Grund dafür zu sein, dass Kurtág in jüngerer Zeit nahezu alle seine Stücke in offenen Werkreihen zusammenstellt, die unabgeschlossen weiterwuchern, sich von Stück zu Stück, von Werkreihe zu Werkreihe untereinander verbinden und in nahezu beliebiger Auswahl aufgeführt werden können. Kurtág schafft Materialsammlungen, aus denen er sich für grössere, "offiziellere" Werke bedient. Scheinbar abgeschlossene Werke werden umgekehrt wieder in Einzelsätze aufgelöst. Die Fäden laufen hin und her, die Fassungen lösen einander ab, die Hommagen verbinden sich zu Erinnerungsnetzen. Das begann bereits 1973 mit den "Spielen" ("Játékok") für Klavier, von denen es mittlerweile 8 Bände mit zwei- und vierhändigen Stücken gibt. Seit den achtziger Jahren entstehen "Zeichen, Spiele und Botschaften" für Streicher und "Zeichen und Botschaften" für Bläser. Dazu kommen eine anwachsende Reihe von Einzelliedern sowie die "Botschaften", op. 34 für Orchester, die aus kürzeren Stücken zum sinfonischen Bilderbogen heranreifen.
Eine Auswahl aus "Játékok" pflegt Kurtág selbst gemeinsam mit seiner Frau Márta in Konzertprogrammen zu spielen, untermischt mit Klavierarrangements von Werken J.S. Bachs. Zur Integration von Stücken anderer Komponisten meint Kurtág, dass er "manchmal an Stellen, wo ich etwas brauche, beispielsweise etwas Komplexes, das mir bei Bach oder anderen einleuchtender erscheint, als ich es selbst schreiben könnte, es in meine Programme übernehme. Es erhält und erfüllt dann eine Funktion im Zusammenhang mit dem Eigenen." "Játékok" enthält unterschiedlichste Einzelstücke: schlichte, üppige, abstrakte, klangmalerische, folkloristische, schwere und leichte. Gelegentlich wird dieselbe Komposition mehrmals variiert vorgestellt. Spürbar ist vor allem die spontane Freude an allen Facetten des Klavierklangs. Nicht zu unterschätzen ist auch der szenischer Aspekt des vierhändigen Klavierspiels. Das Stücklein "Virág az ember" besteht lediglich aus sieben weit über die Tastatur verteilten Einzeltönen. Das könnte auch ein Solist mühelos bewältigen. Beim Vierhandspiel aber überkreuzen sich die Arme in vielfältiger Weise. Zwei Menschen-Blumen verschränken sich.
Glühende Schriftzeichen
György Kurtágs Musik stellt sich bekenntnishaft und schonungslos der Oeffentlichkeit. Sie ist privat und gerade darum von Belang. Oftmals wird eine Geste, ein Moment, ein Gefühl auf der Basis von wenig Material erschöpfend dargestellt. Manches erinnert entfernt an den "Legendenton", den der Romantiker Schumann zu treffen suchte. Immer wieder taucht die ungestützte und ungeschützte, aber aufgeladene Einzellinie auf, der einsame Schriftzug, das Notat, wie in den "Neun Stücken für Viola solo", die Teil der Streicher-Botschaften sind. Ein Individuum hinterlässt Spuren seiner selbst und versucht, die Spuren anderer für eine Weile zu bewahren.
Hartmut Lück, ein Kenner von György Kurtágs Schaffen, schreibt über dessen Musik: "Sie ist zerbrechlich, schutzlos, wie unbeholfen tastend durchs Weglose, schwankend zum Rand des Verstummens hin - aber dabei glühend von emotionaler Intensität."
Text: © Peter Bitterli Fotos: © János Darvas mit freundlichen Genehmigung (aus dem Dokumentarfilm "Die Töne müssen im Gedächtnis bleiben")
(27.9.2001)
Komponisten: Portraits
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