Bill Hopkins wurde 1943 in Cheshire, England, geboren und begann schon in der Schulzeit zu komponieren und serielle Techniken auszuprobieren. In seiner Jugende besuchte er in England die Dartington Summer School und nahm Kurse bei Luigi Nono. Dann studierte er in Oxford bei Egon Wellesz, der in den 40er Jahren als Emigrant dorthin gekommen war, und beim englischen Komponisten Edmund Rubbra. Aus jener Zeit stammen die Three Movements für Geige und Klavier und ein Streichquartett, beides frühe serielle Kompositionen.
Im Herbst 1964 ging Bill Hopkins mit einem Stipendium nach Paris, wo er als Hörer in die Klasse von Messiaen aufgenommen wurde und, in der ersten Jahreshälfte 1965, privat bei Jean Barraqué studierte. Von Barraqué erhielt er wesentliche Impulse für sein späteres Komponieren. In Paris lernte er auch Heinz-Klaus Metzger kennen, der mit ihm Gespräche über neue Musik führte und sein Interesse an Beckett weckte. Zurück in England verdiente Hopkins sein Geld mit Musikkritiken, literarischen Arbeiten und Übersetzungen. Er komponierte und lebte zurückgezogen in Cornwall und auf der Isle of Man. 1977 wurde er Dozent an der Universität Birmingham, 1979 an der Universität Newcastle. 1981 starb er auf offener Straße an einem Herzschlag im 38. Lebensjahr.
Bill Hopkins hinterließ nur wenige Kompositionen. Nach den Werken aus der Jugend- und Studienzeit, die er nicht veröffentlichte, war sein erstes gültiges Werk das Klavierstück Sous-Structures, komponiert 1964, als er nach Paris umzog. Es wurde am 29. April 1965 in Paris uraufgeführt. In Paris entstanden das rund halbstündige, bisher unaufgeführte Orchesterstück Musique de l'Indifférence sowie Two Pomes (Text: James Joyce) und Sensation (Text: Arthur Rimbaud und Samuel Beckett), beide Werke für Sopran und vier Instrumente. Nach seiner Rückkehr nach England komponierte Hopkins dann die Etudes en série. Sie entstanden 1965-72 und bilden, wenn man von der noch unbekannten Musique de l'Indifférence einmal absieht, zweifellos den Schwerpunkt seines Schaffens. Parallel dazu schrieb er das Solo-Violinstück Pendant. Dann folgten noch zwei Werke: 1974 die Nouvelle étude hors série für Orgel solo, in der er nicht benutztes Material seiner Klavieretüden auswertete, und 1976-77 En Attendant für Flöte, Oboe, Cello und Cembalo. Dazwischen, 1975, schrieb er eine Orchesterversion von Debussys Stück für zwei Klaviere Lindaraja.
Soweit die zahlenmäßig bescheidene, von den Werken her aber hochinteressante Produktion von Bill Hopkins, dessen letzte Lebensjahre von einer langen Schaffenspause geprägt waren, aus denen nur Skizzen und Projekte überliefert sind.
Der kompositorische und schriftliche Nachlass befindet sich in der Universitätsbibliothek in Cambridge. Eine Bill Hopkins Society in London bemüht sich um die Aufarbeitung des Nachlasses und Propagierung des Werks. Treibende Kraft in der BHS ist der Pianist Nicolas Hodges, der soeben beim Label col legno eine CD mit den Etudes en série herausgebracht hat. Verlegt werden die Werke von Hopkins in London bei Schott und Universal. Informationen über den Komponisten gibt es im Internet auf einer Unterseite von www.hopkinsnet.com. Der Zeitpunkt scheint heute gekommen, daß Hopkins, fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod, endlich entdeckt und seinem künstlerischen Rang entsprechend gewürdigt wird.
Der Titel ist in der Partitur auch in Englisch angegeben: Studies, Row-wise. Auf Deutsch wäre das etwa 'Etüden in Reihenform' oder 'Aneinandergereihte Etüden'. Der Titel spielt weniger auf die im Hintergrund stehenden seriellen Verfahren an, sondern verweist auf die Idee einer übergreifenden Form, zu der die einzelnen Teile zusammengefaßt sind. Vielleicht ist auch ein ironischer Unterton enthalten: 'Reihenweise Etüden', wie 'sackweise' oder 'tonnenweise' Etüden. Bei der spielerischen Haltung, die hinter der künstlerischen Ernsthaftigkeit von Hopkins immer wieder hervorschaut, könnte man so etwas annehmen. Obwohl zusammenhangstiftende Momente in den neun Stücken nicht ohne weiteres ersichtlich sind, handelt es sich doch um ein zyklisches Werk, also um mehr als eine lockere Sammlung von Einzelwerken.
Die neun sehr unterschiedlich langen Etüden sind in drei Büchern zusammengefaßt: Buch 1: Etüden 1-4; Buch 2: Etüden 5 und 6; Buch 3: Etüden 7-9. Im dritten Buch finden sich von der Dauer her die Extreme: die ganz kurze, preludeähnliche 7. Etüde (ca. 1'20") und die epilogartige 9. Etüde von 3 Minuten Dauer rahmen das Hauptstück der gesamten Sammlung ein, die 8. Etüde mit einer Dauer von über 13 Minuten.
Schon der Umfang dieses rund dreiviertelstündigen Zyklus und ein erster Blick in die komplexe Partitur verraten den hohen Anspruch, den Hopkins hier verfolgte. Der Vergleich mit den großen Zyklen in der Klaviermusik von Chopin bis Debussy ist wohl nicht zu weit hergeholt. Auch hier geht es, wie in Liszts Etudes d'exécution transcendante um ein Transzendieren der klaviertechnischen Gegebenheiten. Die hochgradige, konsequent durchgehaltene strukturelle Polyphonie und die facettenreiche Syntax, der dichte Klaviersatz voller Sprünge, weiter Griffe, rascher Figurationen und Arabesken und dazu eine Klangsinnlichkeit, die alle Farben und Schattierungen kennt: das alles erfordert eine Gestaltungskraft und eine Virtuosität von ganz neuer Beschaffenheit. Schnell spielen können reicht da nicht. Gefordert ist nicht nur eine manuelle, sondern auch eine hoch entwickelte geistige Beweglichkeit eine neue musikalische Intelligenz.
Gewiß ist das alles in den Grundzügen schon in den Prototypen der seriellen Klaviermusik, in den frühen Klavierstücken von Stockhausen, in den Structures und der dritten Sonate von Boulez sowie in der epochalen Sonate von Barraqué, modellhaft vorgeformt worden. Doch hat sich bei Hopkins etwas gewandelt im Verhältnis des Komponisten zum Material. Sichtbar und hörbar wird ein neuer Umgang mit dem im Serialismus entwickelten musikalischen Vokabular. Das Strukturdenken beschränkt sich nicht mehr auf die abstrakten Parameter, sondern bezieht in das Gesamtkonzept auch die Klangoberfläche mit ein. In das strukturelle Gesamtkonzept eingebaut werden Triller, Figurationen, Vorschlagsketten bis hin zu Glissandi; sie verlieren ihre bloße Funktion als Akzidens des Satzes. Und andererseits geht die strenge Polyphonie oft in eine transparente und fluktuierende, im Tonraum wellenförmig sich ausbreitende Bewegung über. Er erhält etwas Leichtes, stellenweise sogar Tänzerisches. Zugespitzt könnte man sagen: Struktur wird Arabeske und umgekehrt. Das geschieht oft mit flüchtiger Eleganz und einer hochentwickelten Sensibilität für die Wandelbarkeit des Klavierklangs. In Hopkins' Etüden ist das Klavier nicht mehr bloß jene temperierte, zur Abstraktion fähige Tastenmaschine, die dazu dient, serielle Materialdispositionen möglichst "objektiv" darzustellen. Mit der spezifischen Nutzung der Register, der Obertonspektren und der akkordischen Resonanzen bringt Hopkins den Klavierklang in einer Weise zur Entfaltung, die auf die Ursprünge der modernen französischen Klaviermusik bei Debussy und Ravel verweist.
Eine Reihenanalyse der Etudes en série muß erst noch geleistet werden. Die folgenden Bemerkungen beschränken sich auf die Beschreibung einiger satztechnischer Merkmale.
Hopkins setzt oft Rahmentöne, die den Ambitus einer Struktur unten und oben klar erkennbar begrenzen. Der musikalische Satz erscheint dann wie 'aufgehängt' an den eine Zeitlang gleichbleibenden Spitzentönen. Ein Beispiel aus der neunten Etüde: Das Gerüst, das Harmonik und Klangraum bestimmt, besteht im Ausschnitt ab T.14 zuerst (von oben nach unten) aus den chromatisch benachbarten Tönen h-b-a, gespreizt auf übermäßige Oktaven, also h3, b2 und a1. Das Baßfundament wird gebildet durch ein großes D. In diesem 3 3/4 Oktaven umfassenden Tonraum spielt sich das musikalische Geschehen ab. Dann verändert sich diese Struktur. Der Baßton geht über fis und f aufs Kontra-Es hinunter und verharrt nun (T. 21-28) auf diesem Limit, während in der Höhe die übermäßigen Oktaven sich nach d-cis-c verlagern, mit d4 als Spitzenton. Durch diese Fixierung der Ecktöne einer Struktur entstehen ein stabilisierendes harmonisches Feld und ein flächiger, zur Statik neigender Klang, der zwar im Innern bewegt ist, aber als Ganzes keine Zielgerichtetheit kennt.
Noch etwas anderes zeichnet diese letzte, neunte Etüde aus: Der Interpret muß hier gleichsam ein Duett mit sich selbst spielen. Sie ist notiert auf zwei Doppelsystemen, die je ihre eigene Artikulation und Lautstärke haben. Für das obere System schreibt Hopkins vor: "Toucher dur, cassant dans les p". Diese beiden Stimmen sind vorwiegend im Forte-Bereich angesiedelt. Für das untere System schreibt er vor: "Toucher doux, ouaté dans les f." Diese beiden Stimmen sind vorwiegend in in den piano-Registern gehalten. Der Spieler steht nun vor der fast unlösbaren Aufgabe, zwei doppelte Schichten mit unterschiedlicher Charakteristik gleichzeitig darzustellen, wobei aufgrund der konstant weiten Sprünge die beiden Schichten sich unentwirrbar durchdringen. Bei der Komposition dieser Etüde ließ sich Hopkins wohl durch eine Vorstellung von Utopie leiten. Er gab ihr den Untertitel 'Portal', womit nach einem Hinweis von Nicolas Hodges der Durchgang zu neuen, noch unerschlossenen musikalischen Dimensionen gemeint ist.
Die sechste Etüde könnte man als 'Triller-Etüde' bezeichnen. Der strenge dreistimmige Satz wird immer wieder aufgelöst in Trillerketten und Figurationen, die durch alle Lagen wandern und von den andern beiden Stimmen kontrapunktisch umspielt werden. Vom langen Rallentando im letzten Abschnitt geht eine deutliche Schlußwirkung aus.igt, ihre Dichte kontinuierlich verringert und schließlich in höchster Lage verklingt. Eine klare Narration ist hier erkennbar. Die Stufen dieser Elevation im Diskant sind h3 - es3 - g3 - a3, dann folgt (T.10) ein Ruck nach e4 - b4 - e4. Die Grenztöne am unteren Rand dieses Klangprozesses sind d - e - g - des - a - e - und dann auch hier in T.10 ein Ruck nach d1 - cis2. Dann folgt in dieser tiefsten Schicht nichts mehr. Es gibt drei Schichten; nacheinander fallen die tiefe und die mittlere Schicht weg, am Schluß bleibt nur die obere, die sich in der viergestrichenen Oktave verliert.
Die dritte Etüde ist zweistimmig und wie alle neun Stücke geprägt durch extrem weite Intervalle und damit fortlaufende Stimmkreuzungen. Die Linearität der beiden Stimmen verdichtet sich immer wieder zu akkordischen Passagen. So entsteht ein dichter virtuoser Satz. Am Schluß mündet er in eine effektvolle Stretta in enger Mittellage. Durch die Reduktion des zuvor weiten Tonraums auf einen sehr engen Umfang bei gleichzeitigem Accelerando und Crescendo klingt die Musik hier, als ob sie implodiere.
Dieser Schluß weist auf einen Charakterzug von Bill Hopkins' Kompositionsweise hin. Hopkins zwingt das seriell geordnete Material zu musiksprachlichen Gesten von großer Prägnanz und schafft damit Elemente einer formalen Dramaturgie, die man in dieser Ausprägung zwar aus der tonalen Musik, kaum jedoch aus der Musik der seriellen Epoche kennt.
Bill Hopkins war ein Spätankömmling in einer Musikrichtung, dem Serialismus, als ihre Kraft schon verpuffte und ihr Einfluß schwand. Doch wie alle Spätgeborenen, die über genügend schöpferische Energien verfügen, um dem Epigonentum zu entkommen, konnte auch Hopkins das zuvor Entwickelte noch einmal und auf neue Weise fruchtbar machen und Werke von unverwechselbarer Individualität und ganz persönlichem Zuschnitt schreiben. Das Vorgefundene verwarf er nicht wie viele andere, sondern er nahm es an, vertiefte und verfeinerte es zu einem Spätstil von großer Reinheit. Zugleich entwickelte er im Inneren des Materials Merkmale eines neuen Denkens: eine klangliche Sensibilität und eine Sprachfähigkeit, die in Verbindung mit komplexen strukturellen Verfahren wie dem Serialismus dieser Art bis dahin nicht zu vernehmen waren. Wäre ihm Zeit geblieben, seine Ideen reifen zu lassen, hätte Hopkins zur Entwicklung der neuen Musik in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich einen bedeutenden Beitrag leisten können.
© 2000 by Max Nyffeler
(Der Text basiert auf einem Einführungsreferat zum Konzert von Nicolas Hodges mit den Etudes en série von Hopkins vom 15.7.2000 in Darmstadt)
Complete Piano Music (Sous-Structures, Etudes en série, Ebauches). Nicolas Hodges, Klavier. Col
legno, Best.-Nr. WWE 1CD 20042
Kammermusik: En attendant, Two Pomes, Pendant,
Sensation (zusammen mit einem Werk von Anthony Gilbert). Music Projects/London,
Alison Wells (Sopran), Alexander Balanescu (Violine), Richard Bernas (Ltg.)
NMC
Recordings, Best.-Nr. D014
31.7.2000
Komponisten: Portraits, Dossiers