Paul Dessaus Leonce und Lena: Weltniveau vom Scheitel bis zur SohleZur westdeutsche Erstaufführung in Freiburg am 2.1.1980Die Freiburger Oper hat sich in den letzten Jahren mutig dem zeitgenössischen Musiktheater geöffnet, wobei sie mit Aufführungen von Paul Dessau, und Fritz Geißler einen Schwerpunkt auf neue Werke aus der DDR setzte. Nun bot sie Dessaus fünfte und letzte Oper Leonce und Lena als bundesdeutsche Erstaufführung. Das einstündige Stück, Anfang 1978 vollendet, wurde vor einem Monat in Ost-Berlin (Regie: Ruth Berghaus) postum uraufgeführt. Dessau starb im letzten Juni. Das Textbuch von Thomas Körner basiert auf dem gleichnamigen Lustspiel von Georg Büchner. Von wenigen Hinzufügungen abgesehen, hält es sich an das Textmaterial der Vorlage, krempelt diese allerdings völlig um. Das Ganze ist stark gekürzt, die Szenen in der Reihenfolge vertauscht. Büchners polemische Anspielungen auf die idealistische Philosophie, die heute ohnehin nur noch von historischem Interesse sind, wurden ausgeblendet, die sozialkritischen Züge und die latenten Zynismen in den Dialogen vor allem des Königssohns Leonce dagegen in manchmal vergröbernder Weise akzentuiert. Die Inszenierung von Heinz Lukas-Kindermann verstärkte diese Tendenz. Leonce und Lena, das im Sumpf der Langeweile versinkende Liebespaar (Dieter Bundschuh und Gisela Büchner), stellt sich am Schluss als gleich korrupt heraus wie seine Umgebung. Zu den letzten Takten der Musik senkt sich von oben eine zuvor schon halb sichtbare Stacheldrahtwand herab, die die Besitzlosen von den Besitzenden trennt. Unterdrückung hüben und Luxus drüben gehen weiter wie bisher, nur unter verschärften Bedingungen gesellschaftlicher Leerlauf mit erhöhter Tourenzahl. Neben solchen drastischen Bühnenwirkungen griff man in Freiburg auf zusätzliche Beschriftungen und Bebilderungen zurück, um das sozialkritische Potential von Büchners Text zu verdeutlichen. Im Foyer mischten sich Plakatträger mit der Losung des Königs Peter von Pipi, "Der Mensch muss denken", unter die Besucher, auf dem Vorhang waren politische Äußerungen Büchners zu lesen. Sinnfällig illustrierten Bühne und Kostüme von Hans-Georg Schäfer die Getto-Existenz der Luxusgesellschaft am Königshof. Eine Wand aus halbtransparenten Zerrspiegeln schloss den Bühnenraum rückwärts ab. Durch entsprechende Beleuchtung gaben sie den Blick auf die dahinter schimärenhaft aufblitzenden Traum- und Wunschvisionen der Hauptfiguren frei. Für seinen kurzen Zweiakter ohne Pause schrieb Dessau eine kammermusikalisch aufgelichtete, faserig-spröde Musik,die nur wenige Ruhepunkte kennt. Gekonnt griff er die Errungenschaften der Wiener Schule und ihrer Nachfolger auf und verarbeitete sie auf sehr persönliche, den Zuhörer jedoch nie aus dem Blickfeld verlierende Weise. Selbstbewusst wird das Dienstbarmachen spätbürgerlicher Errungenschaften für den sozialistischen Gebrauch demonstriert: Weltniveau vom Scheitel bis zur Sohle. Verfehlte IronieNur, bei allem Respekt vor Werk und Person Dessaus: Ob sich hier nicht gerade ein anderer Begriff von "Meisterschaft" hätte bewähren müssen? Nicht das selbstbewusste Vorzeigen E-musikalischer Ausstattungskünste, sondern gerade der kritisch-ironische Verzicht auf sie durch ein unverhülltes Bekenntnis zur Trivialsphäre? Die Ironie durchdringt Büchners Theaterstück bis in die sozialkritischen Momente hinein. Das alles bestimmende Lebensgefühl ist die Langeweile des "déjà vu", immer wieder zugespitzt zum Weltekel. Es rückt das 1835 entstandene Stück mehr in die Nähe von Baudelaire als von Karl Marx. Die unaufhörlich aktive, von ihrer ungebrochenen Aussagekraft blind überzeugte Musik Dessaus versucht dies kommentierend zu verdeutlichen, doch wirkt sie meist wie ein Gestikulieren im leeren Raum. Die Distanz Büchners zu seinen Figuren, die diesem "Lustspiel" seine beklemmende Eindringlichkeit verleiht, wird damit wieder aufgehoben, seine Abgründe werden mit dem Schotter einer dem rationalistischen Aufzeige-Gestus verpflichteten Musik zugeschüttet. Auf der Strecke bleiben die ironischen Mehrdeutigkeiten, das Spielerische und Schwebende in Büchners Sprache. Überzeugend kann Dessaus letztes Werk nicht unbedingt genannt werden Meisterschaft hat eben ihre eigene Dialektik. © Max Nyffeler Diese Rezension ist erschienen im Kölner Stadt-Anzeiger vom 4.1.1980 Dossier Paul Dessau
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