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Dezember 2011 / Januar 2012
Entschleunigung
Der Schriftsteller Matthias Politycki hat kürzlich in der „Zeit“ zu einem heftigen Rundumschlag über die Zustände im Literaturbetrieb und im Kulturbetrieb ganz allgemein ausgeholt. Da ist die Rede von der globalen kulturellen Fußgängerzone, in der jede Kreativität erstickt werde. Der Schriftsteller müsse sich als Marke am Markt etablieren und diesen entsprechend beliefern, um existieren zu können, die Kritik sei verlottert und fungiere zunehmend als Medienzensur, der verunsicherte Leser werde von allen Seiten indoktriniert.
Die verheerende Bilanz mündet in einen Appell zum Umdenken, und er konstatiert ein Bedürfnis nach Innehalten, Rückbesinnung und Entschleunigung. Als Hoffnungsschimmer, wie der globalen Verblödungsmaschinerie namens Kultur vielleicht zu entkommen wäre, erwähnt er Italien, wo im Schatten der Big Player eine Unzahl äußert reger Kleinverlage existierten. Als Zukunftsmöglichkeit sieht er eine kulturelle Zweiteilung: Hier Fast Food für die Masse, dort regionale Küche für die Feinschmecker.
Nun unterscheidet sich der Betrieb der zeitgenössischen Musik vom übrigen Kulturbetrieb dadurch, dass er dank seinem hohen Subventionsanteil den Marktkräften nicht ungeschützt ausgeliefert und damit für das marodierende Medienkapital von relativ geringem Interesse ist. Es gibt aber durchaus einige gemeinsame Symptome, etwa die zunehmende Standardisierung des Angebots, eine Folge der ökonomischen Zwänge: Was gut läuft, darf weiter laufen Erfolg bringt Erfolg. Das begünstigt die Konzentration des Angebots auf ein halbes Dutzend führender Ensembles, die aufgrund ihrer unbestreitbaren Qualität den Markt beherrschen und bei einem halben Dutzend führender Veranstalter Dauerabos haben, um ein halbes Dutzend führender Komponisten aufzuführen, was dann publizistisch flächendeckend abgefeiert wird. Dabei wird alles andere weggewalzt.
Diesen Zwängen können weder Veranstalter noch Interpreten, Komponisten und Journalisten einfach entfliehen. Doch das ist kein unumstößliches Gesetz. Gerade der Musikbereich könnte noch aus sich selbst heraus Alternativen entwickeln, denn viele Verantwortliche sind offen für neue Erfahrungen. Ergäben sich damit Chancen für eine „regionale Küche für Feinschmecker“? Man sollte nicht von einer Kulturwende sprechen, denn die ließe sich noch viel schlechter planen als die ominöse Energiewende. Doch nachzudenken, wie den unguten Zwängen des heutigen organisatorisch-publizistischen Mainstreams zu entkommen wäre, ohne in sterilen Nischen zu landen, würde sich jedenfalls lohnen.
Eine Bereitschaft dazu ist vielerorts zu spüren. Etwa beim Symposium „Musik wozu“, das nun gerade an der Dresdner Musikhochschule stattfand. Zwischen der mitleidslosen Diagnose des Ist-Zustands und der Forderung nach kommerzfreien Räumen, die die Kreativität zur Entfaltung braucht, stand die optimistische, weil realisierbare Vision eines Außenstehenden. Stefan Kraus, Leiter des Kölner Kolumba-Museums, zeigte am Beispiel der eigenen Praxis Wege auf, wie Kunstwahrnehmung wieder zu einem Erlebnis werden kann: Kein Überangebot, kein Zeitstress, dafür aber eine auratische Umgebung, die dem Betrachter die Konzentration auf das Einzelphänomen ermöglicht und ihn über die Kunst zu sich selbst kommen lässt.
Wir warten auf das Festival für neue Musik, das so etwas ausprobiert.
© 2011 Max Nyffeler. Der Text darf ohne Erlaubnis des Autors nicht weiter verwertet werden.
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