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Oktober 2008

Was nun?

Periodische Standortbestimmungen mit kritischer Zustandsanalyse, der Beschreibung von Handlungsoptionen und Zukunftsperspektiven gehören zur neuen Musik wie Konjunkturberichte zur Wirtschaft. Eine solche Zwischenbilanz ist nun auch zum Auftakt der diesjährigen Donaueschinger Musiktage wieder einmal angesagt. „100 Jahre Neue Musik – was nun?“ heißt eine Diskussionsrunde, die am Vorabend der Musiktage live im Radio übertragen wird.

Der Titel klingt provokant, suggeriert er doch, dass die Neue Musik mit großem N museumsreif geworden ist und eine gewisse Ratlosigkeit herrscht. Man könnte die Frage auch umformulieren zu „Was tun?“ Damit stellte Lenin einst die Organisationsfrage. Aber diese Aufgabe sollte man wohl besser dessen legitimem Erben Lafontaine überlassen. In der Kunst ist Revolution nicht planbar.

Die hundert Jahre beziehen sich auf die Uraufführung von Schönbergs zweitem Streichquartett mit Sopranstimme im Jahr 1908. Im berühmten Text von Stefan George, „Ich fühle Luft von anderem Planeten“, verbunden mit dem Abschied von der Tonalität, hat man stets eine unbestimmte Ahnung des Neuen und eine utopische Sehnsucht nach Überwindung des schlechten Bestehenden gesehen. Solche Erwartungen sind seither programmatisch für die neue Musik. Schönberg hat diese Erwartungen später datiert, als er verkündete, seine Erfindung der Zwölftontechnik sei dazu beschaffen, der deutschen Musik die Herrschaft für die nächsten hundert Jahre zu sichern. Aus der Utopie wurde ein naiv formuliertes kulturpolitisches Postulat.

Mit den Zukunftserwartungen in der Kunst ist es so eine Sache, zumal wenn Techniken mit Herrschaftsansprüchen gekoppelt werden. Die Dodekaphonie hat längst abgewirtschaftet und ihre Folgeerscheinungen sind verblasst, wenn auch die disziplinierende Wirkung des Reihendenkens nicht gering geschätzt werden darf; daran muss sich auch das Lust-und-Laune-Prinzip mancher heutiger Komponisten noch messen lassen.

An wen richtet sich die Frage „Was nun?“ An die Komponisten, Veranstalter, Kritiker, ans Publikum? Ans Publikum sicher nicht, denn dieses möchte Antworten ja gerade von den Künstlern hören. An die Kritiker? Lieber nicht. Wenn Sekundärdenker den Autoren Empfehlungen geben, wird’s finster. Und die Zeit, da die Theoretiker in Darmstadt von Adorno bis Dahlhaus als Ton-Angeber und letztinstanzliche Kunstrichter fungierten, ist zum Glück vorbei.

Also an die Veranstalter? Sie sind tatsächlich ständig mit dieser Frage konfrontiert, müssen sie doch auswählen: Welche Komponisten, welche Richtung berücksichtige ich, welche nicht? Die Gefahr besteht, dass man sich da zum Potentaten aufspielt, der über Schicksale entscheidet, Trendsetter spielt und sich als eine Art Überkomponist versteht, der das kompositorische „Angebot“ zum Programmdesign nach eigenem Gusto missbraucht.

Bleiben die Komponisten. Doch die denken nicht primär in historischen Kategorien. Sie komponieren weder Musikgeschichte noch künftige Wirkungen, sondern ihre ganz subjektiven Empfindungen und Reflexionen, was natürlich Rückbezüge auf Bestehendes nicht ausschließt. Zukunftsplanung ist nur im persönlichen Bereich möglich, alles andere wäre Orakelspruch.

„Was nun?“ Die Frage nach dem nächsten Schritt (dem dubiosen Fort-Schritt?) ist keine Frage musikalischer Techniken und Stile und schon gar nicht ästhetischer Leitlinien. Dahinter steht die Frage nach der Zukunft unserer ganzen Kultur, eine ziemlich diffuse Angelegenheit. Und nicht zu vergessen: Für die Vorherrschaft der nächsten hundert Jahre gibt es neue Anwärter, und die kommen nicht mehr aus Europa.

© 2008 Max Nyffeler. Der Text darf ohne Erlaubnis des Autors nicht weiter verwertet werden.

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