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Februar 2008

Blankes Entsetzen

Es gibt immer wieder Vokabeln, die so lange nachgeplappert werden, bis sie eine Medienkarriere machen und erst wieder verschwinden, wenn sie durch ihren inflationären Gebrauch endlich abgenutzt sind. Bis dahin dauert es leider oft sehr lange. Noch immer unangefochten beherrscht zum Beispiel der Ausdruck „der eine oder andere“ die Medien. Es ist raffinierter Politikerspeech. Wenn einer sagt: „Der eine oder andere wird dem Beschluss vielleicht noch widersprechen“, so will er damit nicht nur ein existierendes Problem herunterspielen, sondern auch einen Konsens suggerieren, der so noch gar nicht besteht. Er macht seine Gegner herunter, indem er sie als Ansammlung versprengter Individuen darstellt, die noch nicht zum Weg der Vernunft gefunden haben.

Einer ähnlichen Karriere erfreut sich in jüngster Zeit auch das Wort „Entsetzen“ samt seiner Derivate „entsetzt sein“, „sich entsetzt zeigen“ etc. Früher war Entsetzen noch gleichbedeutend mit einem existenziellen Erschrecken wie etwa in Gellerts Gedicht vom Schäfer und der Sirene: „Doch welch Entsetzen! Seine Schöne, Sein Liebling, war halb Mensch, halb Fisch“. Und zur Charakterisierung der zerstörerischen Kräfte im Menschen heißt es bei Schiller: „Da werden Weiber zu Hyänen und treiben mit Entsetzen Scherz.“ (Wir sind über Schillers Sexismus entsetzt.)

Heute versucht ein alarmistischer Journalismus mit Entsetzen Politik zu treiben. Politisch diskutable Fakten und Meinungen werden von erregten Andersmeinenden im Nu auf die Ebene der Inhumanität gehoben, wobei als einzig adäquate Reaktion auf das „menschenverachtende Verhalten“ natürlich nur noch das Entsetzen übrig bleiben kann. Ob  es sich um eine besonders dumme Äußerung, ein unbequemes Politikum oder tatsächlich um einen Skandal handelt – der Unterschied ficht diese Erregungsschreiber nicht an. Sie machen aus allem gleich die ultimative Panikattacke.

Als Fundgrube für entsprechende Beispiele erweist sich die TAZ. Wenn der Unternehmensberater Roland Berger das Lohndumping bei der Konkurrenz des neu gegründeten Unternehmens AldiConsulting beklagt (es unterbietet den bescheidenen branchenüblichen Mindestlohn von 3000 Euro/Tag), dann heißt es: „Roland Berger reagiert entsetzt“. Wenn die deutsche Autobranche in Brüssel ihre Abgasnormen durchdrückt, lautet das Echo: „Umweltverbände äußerten sich entsetzt.“ Und wenn Berlins Innensenator Körting (SPD) die Richter zu mehr Härte gegen jugendliche Kriminelle ermahnt, darf Klaus Lederer (Linke) in der TAZ sagen: „Wir waren entsetzt, als wir davon gelesen haben.“

Aber auch andere Zeitungen treiben mit Entsetzen Scherz. „Opern-Absetzung entsetzt bundesweit“, dichtete die Berliner Zeitung 2006, als irgendeine verquere Neuenfels-Inszenierung vor lauter politischer Hysterie vorübergehend abgesetzt wurde. Und die Frankfurter Rundschau weiß ganz genau: „ Nach dem Klimagipfel ist Washington über das eigene Nachgeben entsetzt.“ Eine Steigerung gelingt nur noch dem Rhetoriker Westerwelle. Er ist wegen der Mindestlohnbeschlüsse "enttäuscht und entsetzt von der Union“, was auch noch schlechtes Zeitungsdeutsch ist. Laut FR sind aber auch die Wiesbadener Jusos entsetzt, wenn auch wegen der Tatsache, dass die Stadt keine legalen Graffiti-Projekte mehr unterstützen will. In der FAZ wiederum spekuliert ein Sportjournalist, ob die Mutter des aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammenden brasilianischen Fußballers Kaká nicht etwa entsetzt gewesen sein könnte, als sie vom Berufswunsch des Sohnes erfuhr.

In der Regel sind es aber nicht Mütter und namentlich genannte Politiker, die sich entsetzt zeigen, sondern anonyme Kollektive wie Verbände, Institutionen und sogenannte Kreise: Washington, die Jusos, irgendwelche Sprecher von Minderheiten, die Öffentlichkeit als solche. Oder gleich die ganze Welt: „Bhutto-Mord: Die Welt ist entsetzt“, lässt „Spiegel Online“ Henryk Broder im Katastrophenton verkünden. Die Welt, wir alle, du und ich – sind wir entsetzt? Müssen wir es sein, wenn ein Journalist das gebieterisch suggeriert, um für seine eigene Sicht und die seiner Klientel zu werben?

Aufdringliche Meinungsmache breitet sich unter dem Deckmantel der aktuellen Berichterstattung auch in den sogenannt seriösen Zeitungen immer mehr aus, indem die Berichte mit erprobten Aufregervokabeln garniert werden. Was ist der Zweck dieses auswendig gelernten Anklage- und Betroffenheitspathos? Der viel bemühten Aufklärung wird es schwerlich dienen, vielmehr der Selbstbestätigung – die Katastrophe sind immer die anderen. Auf die Sterilität dieser Art von Auseinandersetzung trifft der Spruch des alten Nietzsche zu: „Alles gackert, aber niemand will Eier legen.“

© 2008 Max Nyffeler. Weiterverwertung nur mit Erlaubnis des Autors.

Dieser Text wurde von der "Neuen Musikzeitung" nicht veröffentlicht.

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