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November 2007

Kunst-Richter 

Zwei Kunst-Urteile haben in jüngster Zeit Diskussionen entfacht. Wohl verstanden, es geht nicht um Urteile von Kritikern, sondern ganz unmetaphorisch um Gerichtsurteile. Sie rufen in Erinnerung, dass auch künstlerische Äußerungen und das Sprechen über Kunst sich nicht im rechtsfreien Raum bewegen. Der erste Fall rührt an einen ganz heiklen Punkt, nämlich den Begriff der Kunstfreiheit. Der zweite Fall ist harmloserer Art; er betrifft Verwaltungsvorgänge im Subventionsbetrieb und besitzt auch einige unbeabsichtigt heitere Aspekte.

Die Frage der künstlerischen Freiheit stand ganz direkt zur Debatte im Fall des Romans „Esra“ von Maxim Biller. Der Erste Senat des Bundesgerichts bestätigte nun das Verbot des Buches und dokumentierte damit, dass es das Persönlichkeitsrecht über das Recht auf freie Kunstäußerung stellt. Verletzt würden die Rechte von Billers ehemaliger Freundin, denn in dem Buch, das intimste Details in der Liebesbeziehung des Ich-Erzählers mit der Titelfigur schildere, sei sie eindeutig als "Esra" erkennbar. Das Gericht stellt fest: "Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts."

Dass das Urteil mit der knappen Mehrheit von fünf gegen drei Stimmen fiel, ist ein Indiz, dass es den Richtern nicht ganz geheuer war, in künstlerische Sachverhalte mit juristischen Mitteln einzugreifen. Andererseits handelt es sich hier um eine klassische Güterabwägung, und da gaben sie dem Recht des Individuums auf seine Privatsphäre den Vorrang.

Das heißt nicht, dass künftig nur noch politisch korrekte, jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen vermeidende Kunst gemacht werden darf. Doch kann man – auch wenn das Gericht das keinesfalls beabsichtigte – das Urteil auch als literaturkritischen Denkanstoß nehmen: Ein Künstler macht es sich zu leicht, wenn er sich auf die Skandalträchtigkeit der Indiskretion verlässt, statt sich ästhetisch zu exponieren. Das nicht eingegangene künstlerische Risiko kehrt durch die juristische Hintertür zurück.

Der zweite Fall ist unspektakulärer. Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht rügte die mit staatlichen Geldern arbeitende Kulturstiftung Pro Helvetia, weil sie Gesuche um Ausrichtung von Fördergeldern routinemäßig mit der Begründung abgewiesen hatte, mit ihren begrenzten Mitteln könne sie nur künstlerisch innovative und qualitativ hochstehende Projekte fördern. Ein Gesuchsteller, dessen Antrag durchgefallen war, hatte dagegen geklagt und Recht bekommen.

Indem das Gericht Kriterien einforderte, nach denen etwas als künstlerisch innovativ eingestuft wird, machte es ein Riesenfass auf. Worüber sich Kritiker schon nicht einigen können, das soll nun eine staatliche Stiftung erforschen und rechtsverbindlich festlegen? Vermutlich wollten die Richter aber den Angestellten der Stiftung nur signalisieren: Hände weg von künstlerischen Urteilen, diese sind Sache der Künstler selbst und der professionellen Kritik.

Insofern wäre das Urteil als durchaus kunstfreundlich zu bezeichnen. Und für die symbolischen Kunst-Richter in den Feuilletons wäre es ein Ansporn, einmal nachzudenken, was gern benutzte Worthülsen wie Innovation  und Qualität denn nun eigentlich bedeuten. Was Denkgenauigkeit angeht, ließe sich von den Juristen sicher noch einiges lernen.

© 2007 Max Nyffeler. Der Text darf ohne Erlaubnis des Autors nicht weiter verwertet werden.

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