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Dezember 2006 / Januar 2007

DVD und Kulturkritik

Es wird wieder einmal aufgerüstet: Die DVD ist tot, es lebe Blue-Ray beziehungsweise High Definition-DVD. Nun haben wir uns gerade an den neuen Tonbildträger gewöhnt und neben der üblichen Dutzendware viele hervorragende Opernfilme, Künstlerporträts und Werkdokumentationen kennen gelernt, und da kommt  schon das nächste Format: Fünfmal mehr Speicherplatz und damit verbunden eine bisher unerreichte Bildauflösung, Tonqualität und Werkdauer. Und nebenbei muss man sich ein neues Abspielgerät und einen hochauflösenden Bildschirm kaufen, will man des Fortschritts teilhaftig werden.

Die Erschließung des Markts wird sich sicher verzögern, weil zunächst der Ausgang des Hahnenkampfs zwischen Blue-Ray und HD-DVD abgewartet werden muss – die beiden Formate konkurrenzieren sich nämlich. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich auch dieser technische Fortschritt durchgesetzt hat. Der Marktbereich des sogenannten Home Entertainments, also der Konsum von Filmen, Musik und Videospielen mit dem ganzen technischen Drum und Dran, wird zunehmend zum Schauplatz der Auseinandersetzung mit Kultur in allen ihren Schattierungen.

Das spüren nicht nur die Multiplex-Kinos, denen die Kunden davonlaufen, sondern auch Radio und Fernsehen. Der selbstbewusste Konsument richtet sich nicht mehr nach Wochenspielplänen und Sendezeiten. Er kauft den Bildtonträger seiner Wahl im Laden oder schnappt ihn sich im Internet und schaut ihn zu Hause an, wann, wie und mit wem es ihm passt. Der Kulturkonsum wird radikal individualisiert, jeder Kunde ist sein eigener König. Kein Sitznachbar stört ihn mit Geschnaufe oder blöden Kommentaren, Ton und Bild sind brillanter als in jedem Kino. Popcorn kann er sich notfalls bei Aldi besorgen.

Kultur, aktiv oder passiv erfahren, war in allen Gesellschaften bisher wesentlich an ein Gemeinschaftserlebnis gebunden. Wenn sich nun auf Grund des technischen Fortschritts die Rezeptionsgewohnheiten wieder einmal verändern, bietet sich eine neue Strophe des kulturkritischen Lamentos vom Niedergang des Subjekts an. Die Leitmelodie sang 1968 einst Adorno vor: Musik im Fernsehen, bestätigte er in einem „Spiegel“-Interview, sei Brimborium, die Massen kämen gar nicht mehr in Berührung mit der Sache selbst, sondern nur mit einem klischeehaften Produkt der Kulturindustrie. Im Klartext: Der Konsument wird verschaukelt, und er merkt es nicht einmal.

Es scheint, dass sich da einer aufrichtig Sorge um das Bewusstsein der irregeleiteten Massen gemacht habe. Doch aus seinem Hohn über den Kleinbürger, der sich seinen Figaro im Fernsehen anschaue, wie er sich seine Raffael-Madonna ins Schlafzimmer hänge, lässt sich auch ein weniger altruistischer Zug herauslesen: Die Angst des großbürgerlichen Intellektuellen vor dem Verlust seiner Deutungshoheit. Wo kämen wir denn hin, wenn plötzlich jeder Fernseh-Figaro-Gucker im Diskurs der Kenner mitreden wollte! Demokratie hat leider auch ihre unangenehmen Seiten.

Was der beredte Kulturkritiker damals nicht ahnen konnte: Die technischen und ästhetischen Standards der kulturellen Dokumentation auf DVD sind inzwischen so hoch, dass aus der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk ein Produkt entstehen kann, das mit eindimensionaler Abbildung und Versimpelung des Gehalts nicht mehr zu tun hat. Auch ist der Konsument solcher Erzeugnisse ein anderer, als es sich professionelle Kulturpessimisten vorstellen. Es ist nicht die tumbe Masse, die sich „Les Paladins“ von Rameau in der Inszenierung von José Montalvo, Händels „Rinaldo“ von David Alden oder den „Figaro“ von Christoph Marthaler auf DVD anschaut. Es sind zum Teil die gleichen Leute, die unter Umständen einen weiten Weg auf sich nehmen, um solche Dinge auch im Opernhaus zu sehen. Opernhaus und technisches Medium konkurrenzieren sich nicht, sondern ergänzen sich. Der Kulturkonsum ist vielschichtiger und anspruchsvoller geworden.

Um solche und andere Einsichten ging es in einer Diskussionsrunde zwischen Musikkritikern und Filmproduzenten, die im November in Berlin im Zusammenhang mit der Verleihung der Jahrespreise der deutschen Schallplattenkritik stattfand. Offenbar besteht bei der Musikkritik noch eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber der DVD. Denn anders lässt sich kaum erklären, dass im Publikum zwar Spezialisten für Alte Musik und Bühnenregisseure, aber  erstaunlich wenige Fachkollegen saßen. Für manche von ihnen ist wohl die DVD ein sekundäres Unterhaltungsmedium, das die Auseinandersetzung nicht lohnt. Oder die neuartige Synthese von Kunst, Technik und Markt bei der Digital Versatile Disc, der vielseitig verwendbaren Scheibe, ist ihnen noch nicht ganz geheuer.

Doch der technische Fortschritt geht weiter, und mit ihm erweitern sich auch die Möglichkeiten anspruchsvoller Kulturdokumentation. Der produktiven Auseinandersetzung mit dem Medium DVD wird die Kritik auf Dauer nicht ausweichen können, will sie den Anschluss an die Wirklichkeit nicht verlieren.

© 2006 Max Nyffeler. Der Text darf ohne Erlaubnis des Autors nicht weiter verwertet werden.

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