NMZ Logo

Juli/August 2004

D-Day, medial

Eines der bedeutendsten Medienereignisse der jüngsten Zeit war am Nachmittag des 6. Juni im ZDF zu verfolgen: Die Live-Übertragung der 60-Jahrfeier des D-Day aus Arromanches in der Normandie. Hier hatte 1944 die alliierte Landung die endgültige Niederlage des Dritten Reichs eingeleitet und die historischen Weichen für das heutige Europa gestellt. Zwei Stunden lang zeigten die weltweit übertragenen Bilder einen perfekt inszenierten historisch-politischen Event, angefangen vom Aufmarsch der internationalen Politprominenz über die Parade der Kriegsveteranen bis zu einem Multimedia-Spektakel, das noch einmal die Stationen dieses finsteren Abschnitts der europäischen Geschichte bis zur Befreiung in Erinnerung rief.

Die Übertragung war in vielfacher Hinsicht bemerkenswert. Sicher nicht wegen des aktuellen Versöhnungsgedudels am Rande, das die fernsehgewandten Politdarsteller nach dem Fiasko des Irakkriegs nun anstimmen; ihre Theatergesten wirkten seltsam klein und unbedeutend angesichts des historischen Ereignisses, das nun noch einmal mit den Mitteln der neuesten Medientechnologie an Millionen Zuschauer herangetragen wurde. Was sonst nur für Fußball, Olympia und eingebettete Kriegsberichterstattung gilt, diente hier ausnahmsweise einmal einem aufklärerischen politischen Zweck. Es wurde nicht nur ein schrecklicher Krieg nochmals vergegenwärtigt, sondern auch unmissverständlich die notwendige Konsequenz, nämlich Frieden zu schaffen und zu bewahren, beschworen.

So etwas kann schnell in eine Propagandashow ausarten. Dass dem nicht so war, lag zum einen am inhaltlichen Konsens, der Überzeugungsarbeit nicht nötig machte. Zum andern lag es an der Inszenierung selbst, die eine geschickte Balance schuf zwischen Erinnerungspathos und protokollarischen Rücksichten, Massenszenen und individuellen Gesichtern, Leid und Freiheitsappell.

Ein dramatischer Moment war der Einzug der vielleicht hundert noch lebenden, über achtzigjährigen Veteranen. Viele von ihnen kamen in Uniform und mit Orden behangen, einige wurden im Rollstuhl geschoben. Es war ein bestürzendes Bild der in vielen Reden gefeierten Helden. Schon nicht mehr ganz von dieser Welt und trotzdem noch selbstbewusst und aufrecht, defilierten sie in schütterem Schritt und Tritt vor den versammelten Staatsoberhäuptern, Monarchen, Generälen und Diplomaten, die dezent applaudierten. Die einzige, die sich der Inszenierung verweigerte und nicht klatschte, war Königin Elisabeth. Der englische Adel ist manchmal eben doch klüger.

Natürlich lag dem Ganzen die altbekannte "Durch Nacht zum Licht"-Dramaturgie zu Grunde, und folgerichtig endete es mit Beethovens Freudenhymne. Aber gerade dadurch kam eine Idee von neuem Europa ins Spiel. Dass in diesem hochpolitischen Zusammenhang gerade ein deutscher Komponist die Zukunftsvision musikalisch formulieren durfte, war ein dramaturgisches Wagnis und vom üblichen Europahymnen-Klischee weit entfernt.

Noch ein zweites Geschenk machten die Franzosen den Deutschen: Als Begleitung zu einer Videosequenz über die Naziverbrechen sang ein Chor französischer Studenten vor der Weltöffentlichkeit das Moorsoldatenlied. Peinlich, dass da die Kommentatoren vom ZDF nur vage etwas von einer europäischen Hymne gegen den Krieg murmelten und dann noch schnell Auschwitz erwähnten – das passt ja immer irgendwie. Von der Weitergabe des historischen Wissens an die Jungen war in dieser Sendung öfters die Rede. Aber jenes authentische Dokument aus dem KZ Börgermoor, das schon in den dreißiger Jahren als Symbol des deutschen antifaschistischen Widerstands europaweit gesungen wurde, war den graumelierten Herren aus Mainz offensichtlich unbekannt. Und das Publikum wird dumm gehalten.

Das Fernsehspektakel war ein politisch-ästhetischer Akt von hoher Symbolkraft und dürfte für eine Fernsehdramaturgie des 21. Jahrhunderts modellhaft sein: Eine für die Kameras geschaffene Mega-Choreografie, bestehend aus riesigen digitalen Bildprojektionen, Musik, Gesang, Aufmarsch von Militär samt Überflug von Flugzeugstaffeln und Aufkreuzen von Kriegsschiffen, garniert mit Gedenkreden und das Ganze durch die Anwesenheit der Mächtigen der Welt mit höheren Weihen versehen.

Der schwächste Punkt dieser gigantischen Ereigniskette war für deutsche Zuschauer das Endglied, die lokale Kommentierung im ZDF-Studio. Trotzdem: man wurde Zeuge des vielleicht umfassendsten multimedialen Gesamtkunstwerks, das mit heutiger Technik denkbar ist. Die Inszenierung stand diesmal für einen guten Zweck, doch leicht ließe sich dieses Dispositiv auch zur Demagogie zu nutzen. Warten wir ein paar Jahre ab.

Durch die Fernsehregie konnte man das Geschehen aus allen denkbaren Perspektiven betrachten. Die Kameras begaben sich auch auf die Tribüne, wo die versammelten Weltherrscher zwei Stunden lang stillsitzen, zuschauen und zuhören mussten. Sie wirkten plötzlich ganz privat, und der Fernsehzuschauer konnte sich als Sitznachbar von Jacques, George W., Wladimir oder Elisabeth fühlen – oder von Gerhard, der still in der zweiten Reihe neben Freund Tony saß und sich klugerweise ganz klein machte. Auch das ist die moderne Fernsehdemokratie: Virtuell sind alle Menschen gleich.

Max Nyffeler

© 2004 Max Nyffeler. Der Text darf ohne Erlaubnis des Autors nicht weiter verwertet werden.

Zur Themenliste

 

Home Neue Musikzeitung NMZ