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Oktober 2001 

Tilt!

"Weiter so!" hieß die Beckmesser-Kolumne vom September, in der vermutet wurde, dass der allgemeine Betrieb wohl noch lange auf immer gleiche Weise weiter klappere. Seit dem 11. September ist das anders. Der Kreis des Leerlaufs hat sich geöffnet, die Routine ist unterbrochen, Angst und ein Blick ins Ungewisse sind an ihre Stelle getreten. Was gestern noch selbstverständlich war und worauf man sich gedankenlos verlassen konnte, ist heute in Frage gestellt. Jeder ahnt, dass eine grundsätzliche Neuorientierung in Gesellschaft und Kultur bevorsteht, doch die Richtung kennt keiner. Darüber kann auch der Aktionismus der Militärs nicht hinwegtäuschen, die zum Zeitpunkt, da diese Kolumne entsteht, im Rest-Pentagon vermutlich gerade beschließen, wie viele Tonnen Bomben sie auf Afghanistan und wie viele sie auf den Irak abwerfen werden.

Das Ziel der Terroranschläge war - neben der Tötung von Menschen und der materiellen Zerstörung - vor allem symbolischer Art. King Kong vom 11.9.2001Sie trafen nicht nur zwei bedeutungsträchtige Institutionen, sondern holten auch die modernen Angstfantasien, vor denen das kollektive Halbbewusstsein überquillt und die von der Medienindustrie gnadenlos geschürt und ausgebeutet werden, auf brutale Weise ins Licht der realen Erfahrung. Eine Aufklärung ganz besonderer Art. Kingkong über Manhattan und Einstürzende Neubauten: Solche Visionen waren bislang ins Reich ästhetisierender und ironisierender Gruselvorstellungen verbannt. Nun sind sie Wirklichkeit geworden. Überraschen sollte das eigentlich nicht. Gehört es doch beispielsweise zu den Gemeinplätzen der neueren Musikgeschichte, dass die Atonalität der frühen Wiener Schule oder die entfesselte Ritualität von Strawinskys "Sacre" eine genaue Vorahnung der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und des Endes einer kulturellen Epoche darstellten. Warum sollte der Horrorproduktion Hollywoods dieses Wahrheitsmoment abgesprochen werden?

Unter dem Schock vom 11. September ist ohnehin ein Aspekt noch gar nicht richtig ins Bewusstsein gedrungen: Hat irgend jemand im Ernst je geglaubt, die Türme Manhattans seien für die Ewigkeit gebaut? Es bedarf keines Babylon-Mythos, um sich darüber klar zu werden, sondern nur eines kleinen Blicks auf die bunten Postkarten mit den vielen pittoresken Ruinen, die wir an die Wand vor unserem Arbeitsplatz pinnen. Doch es gibt einen Unterschied zu Rom, Athen und Mexico, und der liegt in dem, was für die Nachwelt übrigbleibt. Anders als die heutigen Urlauber, die im T-Shirt durch die noch immer stabilen Steingewölbe des Colosseums flanieren, werden die Touristen der nachamerikanischen Epoche die bizarren Trümmerlandschaften Manhattans dereinst in luftdichten Gefährten durchqueren, weil die immensen Ablagerungen von Asbest, Dioxin & Co. auf Jahrhunderte hinaus alles vergiften werden.

Natürlich sind wir noch nicht so weit, und die zwei Fragen, die uns vorerst noch lange beschäftigen werden, lauten: Welches sind die Ursachen, und was kann man dagegen tun? Einfach machen es sich die pragmatischen Scharfmacher, die jetzt den historischen Moment gekommen sehen, um abzurechnen mit allem, was den eigenen kulturellen Schablonen und machtpolitischen Strategien zuwider läuft. Doch die Sachlage ist komplizierter, und die Widersprüche beginnen schon bei ihrer Einschätzung. Der Terroranschlag auf das WTC sei ein Angriff auf das, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhalte, war in den Medien alsbald zu hören. Das muss, mit Verlaub, doch ein bisschen relativiert werden: Die Kraft, die unsere Gesellschaft trotz aller Konflikte bisher noch zusammen gehalten hat, ist nicht die in den drei Buchstaben symbolisierte Macht der Wirtschaft und auch nicht das Pentagon, sondern ein Wertesystem, das bereits etwas älter ist und immerhin auf eine rund zweitausendjährige Tradition zurück blicken kann.

Vielleicht braucht es heute Machtdispositive wie die Doppeltürme und Fünfecke, um diese Tradition zu retten, doch darüber mögen sich Wirtschaftsethiker und Moraltheologen streiten. Was uns alle aber ein bisschen mehr angehen sollte, ist die Frage nach der Priorität. Die Attentäter haben es begriffen und auf perverse Weise umgesetzt: Es kommt nicht auf die Zahl der Raketen oder die Schlagkraft der Unternehmen an, sondern auf die Idee und auf die Überzeugung, mit der diese Idee vertreten wird. So lange das der "Westen" nicht kapiert, wird er dem zerstörerischen Fanatismus nichts entgegen setzen können. Mit dem Projekt der genetischen Manipulation von Lebewesen oder der computergesteuerten Verteilung der Finanzströme über die ganze Welt lässt sich weder dem oberbayerischen Bauern noch dem koreanischen Büroangestellten etwas vormachen. Die Menschen sind nicht so blöd, wie diejenigen meinen, die sich das alles ausdenken. Sie warten auf substanzielle Vorschläge seitens der großmächtigen Lenker und Vordenker aller Sorten. Bisher leider vergeblich.

Den hellhörigen Künstlern wächst in dieser Situation wieder eine neue Rolle zu. In Zukunft wird Musik wohl wieder mehr darauf hin befragt werden, mit welchen Deutungen, Perspektiven und Antwortversuchen sie auf die geistigen Probleme der Gegenwart, die nun ersichtlich globale Dimensionen annehmen, zu reagieren vermag. Das Immer Mehr und Immer Origineller des kleineuropäischen Festivalzirkus, die beschleunigte Halbwertszeit der uraufgeführten Werke, der stets raffiniertere Einsatz der Elektronik, das gekonnte Klangraumdesign, der letzte intellektuelle Kick der Dekonstruktion: All das, was den heutigen Neue-Musik-Betrieb zu einem so unterhaltsamen Gewusel von kleinen und großen Interessen, von Witz, Spielerei, Forscherdrang und künstlerischem Ernst macht, muss sich wieder vermehrt der Frage nach dem Wozu aussetzen. Es ist eine Frage, die an die große Musik der Vergangenheit, zumindest bis Alban Berg und Charles Ives, immer gestellt wurde und die Adorno - mit produktiver Wirkung - auch noch 1954 an die Serialisten stellte.

Technischer Fortschritt, Experiment und Materialkritik sind keine autonomen Größen. Verlieren sie ihren Bezug zum tradierten Wertekanon, so verliert das Kunstwerk seine gesellschaftliche Verbindlichkeit. Zur Klonmusik ist es dann auch nicht mehr weit.

© Max Nyffeler

Der Text darf ohne Erlaubnis des Autors nicht weiter verwertet werden.

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