Das Interpretenportrait

Egidius Streiff, Geiger und Violaspieler

Vor einem Jahr hat Egidius Streiff offene Darmsaiten auf seine Geige aufgezogen, und seither weiß er: Das ist der Klang, den ich gesucht habe. Nicht nur, dass damit das Problem der scharf klingenden E-Saite ein für allemal gelöst, die klangliche Homogenität im Zusammenspiel mit tieferen Instrumenten der Streicherfamilie besser gewährleistet ist. Die Geige spricht auch schneller an, das Spiel wird leichter. Und was für die neue Musik wichtig ist: Auf Darmsaiten, sagt Streiff, kommt der ganze Reichtum der Artikulationsarten von der geräuschhaften Attacke bis zum gehauchten Flageolett viel besser zur Darstellung. Das Spiel wird differenzierter, die Körperlichkeit des Klangs kommt besser zur Geltung.

Er kritisiert, dass die traditionelle Streicherausbildung stets darauf ausgerichtet ist, am Geigenklang alles zu eliminieren, was nicht dem Ideal des schlackenfreien "schönen Tons" entspricht. Doch gerade auf die konkrete, ungeschönte Materialität des Klangs kommt es ihm besonders an. Er liebt die "unhöflichen Klänge" und meint damit eine Direktheit und Geradlinigkeit des Spiels, die unmittelbar von der Körperbewegung und von der Art der Geige abhängen.

Egidius Streiff spielt ein Instrument, dem die Darmsaiten sozusagen angeboren sind: Eine frühe Guarneri von 1702, gebaut von Pietro Guarneri in Mantua. Sie ist die klingende Falsifizierung der banalen Fortschrittsthese, dass die technisch hoch entwickelte neue Musik nur auf technisch hoch entwickelten neuen Instrumenten gespielt werden könne. Anders als etwa bei den Klavieren sind bei den Geigen die alten Instrumente noch immer unübertroffen, was klangliche und spieltechnische Qualitäten angeht; Fortschritt hat nicht stattgefunden, das Alte ist nicht auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Ob Streiff nun Bachs Chaconne oder Cages Freeman Etudes spielt: Die Guarneri ist für beides "richtig". Und wenn etwas nicht instrumentengemäß komponiert ist, wenn also zum Beispiel das Holz, das ja ausschließlich Resonanzkörperfunktion hat, zum Ort der Klangerzeugung selbst umfunktioniert wird, nimmt er eine moderne Geige.

Egidius Streiff, geboren 1967 in der Schweiz, begann 1984 mit dem Unterricht bei Hansheinz Schneeberger in Basel; er studierte auch in London und Paris, nahm Kurse bei u.a. bei Nathan Milstein und Ruggiero Ricci und machte 1994 das Solistendiplom. Spätestens von da an gehört er zu den führenden Interpreten neuer Musik, und zwar gleich auf zwei Streichinstrumenten, denn neben der Geige spielt auch Viola. Den Einstieg in die neue Musik machte er mit achtzehn, als er Schönbergs Fantasie op. 47 in den Unterricht zu Schneeberger brachte. Mit Walter Levin, dem ehemaligen Primgeiger des LaSalle Quartetts, studierte er dann in Basel die Kammermusikwerke der Wiener Schule und machte mit ihm "Lecture Recitals" mit Beethovens Großer Fuge.

Levin weckte, ausgehend von Rudolf Kolischs Beethoven-Studie, in ihm das Verständnis für den Zusammenhang von Tempo und Charakter eines Musikstücks. Auch für das Gleichgewicht von Konstruktion und Ausdruck: "Ich habe gelernt, in einem strengen formalen Gerüst die verborgenen Schätze zu erkennen und darzustellen. Die Charaktere müssen vollkommen erfasst sein. Wenn bei Webern ein Wiener Walzer durchschimmert, muss er entsprechend herausgearbeitet werden, aber ohne dass man ihn zelebriert." Eine distanzierte Haltung, die das Ganze stets im Auge behält, verbunden mit Sorgfalt im Detail, kennzeichnet dieser Art von interpretatorischer Disziplin.

Podiumserfahrung sammelte Streiff in zahlreichen Kammermusikformationen, auch als Konzertmeister des Ensemble 13 in Karlsruhe, der Musikfabrik Düsseldorf und der Opera Factory Zürich sowie als Gast beim SWR-Sinfonieorchester. Noch während des Studiums gründete er mit der polnischen Schlagzeugerin Sylwia Zytynska ein Duo. Die stets prekäre Mischung von gestrichenen und geschlagenen Klängen regte zahlreiche Komponisten an, für das Duo zu schreiben.

Am Elektronischen Studio der Musikakademie Basel, wo Thomas Kessler und Wolfgang Heiniger arbeiteten, avancierte das Duo bald zu einer Art Hausensemble; die beiden stellten sich praktisch allen Komponisten, die hier arbeiteten, für Experimente zur Verfügung. Den Umgang mit Live-Elektronik vertiefte Streiff in eigenen Projekten im multimedialen Bereich mit zum Teil improvisatorischem Charakter. Heute ist das für ihn eine unverzichtbare Erfahrung: "Man wird analytischer im Hören und Spielen und lernt, ähnlich wie ein Dirigent, sich gleichsam von außen zu hören."

Gegenwärtig arbeitet Egidius Streiff vor allem mit zwei Ensembles: mit dem Ensemble Antipodes, einer Schubert-Oktett-Besetzung, und dem Streiff Trio, einem klassischen Streichtrio, bestehend aus ihm, seiner Frau Mariana Doughty (Viola) und Alfredo Persichilli (Cello). Mit den beiden Gruppen, aber auch als Solist und mit andern Formationen, hat Streiff inzwischen die ganze Welt bereist. In jüngster Zeit vor allem Asien – Japan, Korea, China und neuerdings auch die Mongolei, wo er beim Festival "Roaring Hooves" in Ulan Bator als Solist und Pädagoge mitwirkte.

Während das Oktett mehr ein experimentelles Spielfeld darstellt, verleugnet die Streichtrioformation die klassische Verwurzelung nicht. Das Repertoire besteht einerseits aus den großen traditionsbildenden Werken von Mozarts Divertimento in Es-Dur bis zu Schönbergs Opus 45. Andererseits beabsichtigt Streiff, durch Auftragswerke das Gegenwartsschaffen zu fördern, wobei erst einmal interessante Komponistinnen und Komponisten aus dem Schweizer Umfeld auf der Liste stehen: Heidi Baader Nobs, Rudolf Kelterborn, Franz Furrer-Münch, Bettina Skrzypczak.

Die Aktivitäten des Streiff Trios sind auf bisher drei CDs des Labels en avant dokumentiert. Die neueste bietet unter dem Fast-Palindrom-Titel Not12Ton eine absolut originelle Werkauswahl: die Trios von Jefim Golyscheff, Erich Itor Kahn und Goffredo Petrassi sowie das späte Schönberg-Trio. Vier Kompositionen, die in die schulmäßige Vorstellung von Zwölftonmusik nicht hineinpassen.

In der Zusammenstellung von Konzert- und CD-Programmen zeigt sich die Hand des historisch bewussten Interpreten. Streiff liebt Themenzusammenstellungen quer durch die Jahrhunderte. Unter dem Titel Short Stories stehen auf seiner ersten Trio-CD Webern und Kelterborn neben Schubert. Die zweite, betitelt mit Teutonic, vereint Werke von Richard Strauss, Reger, Hindemith und Bernd Alois Zimmermann. Und seine erste Solo-CD von 1996 heißt Papa Bach. Sie enthält Stücke von Béla Bartók, Sandor Veress, Isang Yun und wiederum Zimmermann, die alle einen direkten Bezug zu Bach aufweisen. Ergänzt wird die Auswahl durch Streiffs eigene Violin-Transkription der Chromatischen Fantasie BWV 903, original für Cembalo komponiert.

Bernd Alois Zimmermann ist einer der Komponisten, zu denen sich Egidius Streiff besonders hingezogen fühlt. Als erstes Stück spielte er seine Violinsonate, dann das mit ihr verwandte Violinkonzert und später die andern Geigenwerke Zimmermanns. Auch das Klaviertrio Présences, das er als hölzern und schwierig bezeichnet: "Ein bitteres Stück, in dem er ein Verballhornung von Prokofieff und Stockhausen unternimmt. Eine Abrechnung." Ein anderer Komponist, dessen Musik er besonders mag, ist György Kurtág. Er ist ihm in Basel zum ersten Mal begegnet, als er in den Sieben Liedern auf Gedichte von Dezsö Tandori die Geige spielte. Später arbeitete er mit ihm in England zusammen. Er sieht in Kurtág einen Komponisten, der die Musik zum Sprechen zu bringen vermag, der die Grundproblematik: "Wie kommt man von einem Ton zum nächsten?" in seiner Musik auf überzeugende Weise löst.

In Streiffs Augen ist das eine zentrale Problematik für jeden Interpreten. Sie berührt die Frage der Melodiebildung, des Energieflusses und überhaupt der ganzen Physis eines Musikstücks. Eine Antwort kann für ihn vor allem die Körpergeste geben. Musik, ob alte oder neue, ist für Streiff in erster Linie Gestus, und um Struktur und Ausdruck eines Stücks richtig darzustellen, muss die adäquate Bewegung gefunden werden. Deshalb probiert er bei einem neuen Stück erst einmal die dazu passenden Gesten aus. Umso interessanter ist für ihn eine Musik, die diesen körpergesteuerten Zusammenhang von einem Ton zum andern bewusst unterbindet, zum Beispiel bei Cage: "Das ist für mich wie Ferien – eine Konzentrationsübung, in die man sich richtig versenken kann."

© 2002 Max Nyffeler.
Der Text ist erschienen in der Zeitschrift Positionen Nr. 52/2002

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