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Das Interpretenportrait
Die Flötistin Carin Levine
Das erste, was Carin Levine tat, als sie 1974 ihr Studium an der Freiburger Musikhochschule begann, war, sich am Institut für neue Musik anzumelden. Sie hatte zuvor in Cincinnati Flöte studiert, hatte im Kammermusikunterricht bei Peter Kamnitzer vom LaSalle Quartett Werke von Debussy bis Elliott Carter einstudiert und als Soloflötistin im universitätseigenen Ensemble für neue Musik mitgewirkt. In Freiburg erhielt sie nun Gelegenheit, diese Erfahrungen zu vertiefen.
Die Voraussetzungen waren günstig. Klaus Huber leitete das Institut, sein Assistent war der junge Brian Ferneyhough, und mit ihrem Flötenlehrer Aurèle Nicolet konnte sie ganz selbstverständlich die allerneuesten Partituren studieren. Sie freundete sich mit der ebenfalls frisch angereisten Younghi Pagh-Paan an und brachte deren erstes in Deutschland komponiertes Stück, das Flötensolo "Dreisam-Nore", zur Uraufführung. "Es war komisch", erinnert sie sich an die Zusammenarbeit, "wir konnten beide so gut wie kein Deutsch und haben uns mit Händen und Füßen unterhalten."
Die intensive Zusammenarbeit mit Komponisten und mit andern Interpreten ist für Carin Levine auch heute noch der wohl wichtigste Ansporn für ihre nun drei Jahrzehnte dauernde Auseinandersetzung mit neuer Musik. Sie hat erfahren, dass diese Zusammenarbeit eine wesentliche Quelle für das Neue darstellt: Eine experimentelle Interaktion, aus der neue kompositorische Ideen, neue Spieltechniken und neue klangliche Resultate hervorgehen können. Was zuvor unmöglich erschien oder schlicht undenkbar war, erweist sich plötzlich als denkbar und vor allem auch machbar. Eine Arbeit im Experimentierlabor, die unbekannte Potenziale freisetzt und den Horizont laufend erweitert. Wer von beiden gibt und wer nimmt, lässt sich dann nicht mehr so genau unterscheiden. Die Interpretin hat von den Komponisten viel gelernt, und andererseits gibt es in manchen Stücken besonders interessant klingende Stellen, von denen sie sich heimlich sagen kann: "Das stammt von mir."
Im Lauf der Jahre hat sie mit den unterschiedlichsten Komponisten zusammen gearbeitet, die Erfahrungen waren höchst unterschiedlich. Mit Luigi Nono, der sich nach einem möglichen Ersatz für Roberto Fabbriciani umsah, übte sie im Freiburger Experimentalstudio die Flötenparts seiner späten Werke ein und lernte so seine quasi improvisatorische Denkweise kennen. Mauricio Kagel lieferte sie im Aufnahmestudio gleichsam "Klänge auf Bestellung" zu, die er dann verarbeitete und in sein Orwell-Hörspiel und das Bühnenstück "Umzug" einbaute. Mit Giacinto Scelsi vertiefte sie sich vor allem in die Arbeit an der Klangfarbe; sie überzeugte ihn auch, dass die Komposition Quays, die er ihr 1985 schenkte, auf der Altflöte besser klingt als auf der normalen Flöte. In der Arbeit mit Dieter Schnebel spielte die Frage der Atembeimischungen zum Ton eine wichtige Rolle, während bei Brian Ferneyhough naturgemäß der Aspekt der psychisch-physischen Reaktionsfähigkeit im Zentrum stand.
Die Zusammenarbeit mit einem Komponisten noch während der Entstehung eines Werks hat Carin Levine der Einstudierung bereits fertiger Stücke stets vorgezogen. Auf diese Weise sind zum Beispiel die auf der CD The Flute Experience versammelten Stücke entstanden; sie stammen von so unterschiedlichen Komponisten wie Laurie Schwartz, Georg Hajdu, Dieter Schnebel, Georg Bönn und Hanna Kulenty.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Carin Levine dem Versuch einer Klassifizierung und Quantifizierung der Geräuschklänge. Ein nachgerade hoffnungsloses Unterfangen angesichts des real existierenden Geräusche-Dschungels, den die Flöte mit den heute ihr zur Verfügung stehenden Techniken zu erschaffen in der Lage ist. Das Spektrum von Artikulationsmöglichkeiten reicht vom geräuschhaft eingefärbten Ton über das perkussive Klappen- und Lippenpizzicato bis zum Breitspektrum-Atemgeräusch als quasi weißem Rauschen. Es hat sich noch erweitert durch die heute übliche Praxis in der neuen Musik, alle fünf Instrumente der Flötenfamilie zu spielen: Piccolo, C-Flöte, Alt-, Bass- und Kontrabassflöte.
Der Schwierigkeiten, Schneisen der gliedernden Vernunft in diesen Wildwuchs der Klangmöglichkeiten zu schlagen, ist sich Carin Levine bewusst. Doch sie hat sich nicht davon abbringen lassen, Methoden von Klassifizierung zu entwickeln, die letztlich auch, und das ist das Entscheidende, eine eindeutige Notation ermöglichen. Dazu gehört beispielsweise das simpel erscheinende, aber effiziente Verfahren, das Klang-Luftverhältnis in einem Ton oder einer Phrase mit Prozentzahlen zu beschreiben: 40 % Luft, 60 % Klang, usw. Es ermöglicht relativ präzise Annäherungswerte. Mit Betonung auf "relativ": Natürlich weiß sie, dass das alles auch abhängt vom Charakter des Werks, vom Instrument, von interpretatorischen Entscheidungen, von Psychologie und nicht zuletzt von der persönlichen Konstitution von dem, was man allgemein den "Grundton" eines Interpreten nennen könnte. Bei einem Blasinstrument, wo die Verbindung zum Körper das Apriori jeder Klangerzeugung ist, sind solche Aspekte stark individuell gefärbt.
Doch irgendwo kommt für Carin Levine der Punkt, wo die Notation geregelt, wo der Versuch unternommen werden muss, allgemein verbindliche Quantifizierungsmethoden und entsprechende Zeichen zu finden. Das ist ein Hauptziel ihres Buches The Techniques of Flute Playing, an dem sie mehrere Jahre arbeitete. Es ist bei Bärenreiter erschienen, wo sie bereits ihre Reihe "Zeitgenössische Musik für Flöte" herausgibt. Das Ziel dieser Publikation war nicht nur, die Techniken vorzustellen, die in den letzten fünfzig Jahren - seit Severino Gazzelloni das Flötenspiel revolutionierte - zum allgemeinen Repertoire der neuen Musik gehören; das haben mehrere Autoren schon recht erfolgreich getan. Sie wollte diesen Ansatz vertiefen und die Darstellung der Techniken durch Übehinweise und vor allem auch durch eine möglichst eindeutige Kodifizierung aller Spielweisen ergänzen. Komponisten und Interpreten sollten dadurch eine verlässliche Anleitung bekommen, wie bestimme Klangphänomene notiert werden und umgekehrt, welche Klänge aus eine bestimmten Notationsweise resultieren.
Erste Anstöße zu diesem Buchprojekt erhielt sie noch während ihres Studiums in Amerika, als sie das damals weit verbreitete Lehrbuch über die Erzeugung von Mehrklängen von Bruno Bartolozzi (2) in die Hände bekam. Zwar öffnete Bartolozzi damals mit seinen Vorschlägen zur Erzeugung von Mehrklängen den Holzbläsern ganz neue Perspektiven, doch seine Grifftabellen strotzten von Irrtümern; trotzdem geisterten sie noch jahrelang durch praxisfremde Komponistenhirne und machten deren Partituren unspielbar. Carin Levine merkte schnell, dass das meiste daran theoretische Spekulation war und mit der Wirklichkeit des Instruments überhaupt nicht übereinstimmte. Darum verfasste sie ein Tabelle mit Ersatzgriffen, die sie von da an immer benutzte. Ihr Buch, in das diese Erfahrungen eingeflossen sind, wird mit dem Bartolozzi-Erbe vermutlich endgültig aufräumen, so wie es das Lehrbuch von Veale/Mahnkopf für den Bereich der Oboe bereits getan hat.
Mit dem Plan ihres Lehrbuchs demonstriert Carin Levine, dass sie aus ihren profunden Instrumentalkenntnissen keine Geheimwissenschaft machen will. Ein Monopolanspruch auf die Interpretation der Werke bestimmter Komponisten, wie ihn manche ihrer Kollegen erheben, ist ihr in jeder Hinsicht fremd. Neben ihrer Tätigkeit als Interpretin beim 2001 aufgelösten Ensemble Köln, wo sie 1980 zu den Gründungsmitgliedern gehörte, im Duo mit dem Geiger David Alberman und als vielseitige Solistin widmet sie sich denn auch ausgiebig pädagogischen Aufgaben. Sie unterrichtete viele Jahre an den Musikhochschulen in Detmold und Bremen, gibt Meisterkursen für neue Flötenmusik im In- und Ausland und wirkt seit 1996 als Dozentin bei den Darmstädter Ferienkursen mit. Darin teilt sich die gleiche Überzeugung mit, die auch ihre Kooperation mit den Komponisten prägt: dass Neues nicht im stillen Kämmerlein, sondern nur im lebendigen Austausch, in der gemeinsamen Anstrengung mit Gleichgesinnten entstehen kann.
© 2002 Max Nyffeler.
Der Text erschien in der April-Nummer 2002 der Zeitschrift "Positionen".
Anmerkungen
The Flute Experience, Musicaphon 55712. Weitere solistische CDs: Flöten ohne Grenzen, Musicaphon 55710. Giacinto Scelsi (mit Peter Veale, Kristi Becker und Edith Salmen), cpo 999 340 oben
Bruno Bartolozzi: New Sounds for Woodwind. London, New York, Toronto 1973 oben
Peter Veale / Claus-Steffen Mahnkopf: Die Spieltechnik der Oboe. Bärenreiter Kassel 1994 oben
© 2002 Max Nyffeler.
Der Text ist erschienen in der Zeitschrift Positionen Nr. 50/2002
Website Carin Levine
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