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Das Interpretenportrait
Arditti Streichquartett
Irvine Arditti im Gespräch mit Max Nyffeler
English Version
Wie kam es, daß Sie ein Streichquartett ausschließlich
für Musik des 20. Jahrhunderts gründeten?
Das war kurz nach meinen Studien am Royal College of Music. Wir sollten ein Konzert mit Penderecki geben, der eingeladen worden war, um einen Ehrentitel in Empfang zu nehmen. Da begannen wir sein 2. Streichquartett einzustudieren. Er war in London und probte mit uns, und so praktizierten wir gleich von Anfang an die Arbeitsweise, der wir seither immer treu geblieben sind: Ein neues Werk wird in Anwesenheit des Komponisten einstudiert, so daß er Gelegenheit hat, die Interpretation mitzugestalten. Das war also unser erstes Konzert. Außerdem hatte ich schon Konzerte mit dem LaSalle Quartett und Ensembles vom Kontinent gehört, und all das bestärkte mich in der Absicht, ein englisches Quartett zu gründen, das sich ausschließlich der neuen Musik widmen sollte. Wann begannen Sie sich für neue Musik zu interessieren?
Die ersten Impulse erhielt ich schon als Schüler. Ich komponierte
ein bisschen, und mit fünfzehn ging ich nach Darmstadt, wo ich Musik
von Stockhausen, Ligeti und anderen hörte. Damals war auch Boulez
in London und dirigierte neue Werke. So lernte ich alle Arten von neuer
europäischer Musik kennen und war davon fasziniert. Meine Anregungen
bezog ich wirklich von der Avantgarde der sechziger Jahre.
Wie ging es nach dem ersten Konzert für das Quartett weiter?
Das zweite Konzert, das ziemlich bald danach kam, war im Grunde genommen
ein LaSalle-Programm. Wir spielten Berios "Sincronie", das Quartett von
Lutoslawski und ein Prelude von Mayazumi, ebenfalls ein Stück aus
dem Repertoire der LaSalles. Damals gab es noch nicht so viele Quartette
zu spielen. In den nächsten Jahren taten wir uns dann mit Henze und
Ligeti zusammen; wir führten alle ihre Quartette auf und machten Aufnahmen.
Das alles vor dem Ende der siebziger Jahre.
War das LaSalle Quartett für Sie eine Art Vorbild?
Ja, ich denke schon. Dieses Quartett faszinierte mich mehr als alle
andern wegen seinem Engagement für die neue Musik und für die
Zweite Wiener Schule, die für mich natürlich auch sehr wichtig
war. Ich glaube, in unserem dritten Konzert spielten wir bereits die Werke
von Anton Webern für Streichquartett. So versuchten wir gleich von
Anfang an, die Musik der Gegenwart in einen Traditionszusammenhang des
20. Jahrhunderts zu stellen. Auch Bartók war für uns wichtig.
Auf einer unserer ersten Tourneen spielten wir sein drittes Quartett.
Wie arbeitet das Arditti Quartett? Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine
neue Partitur erhalten haben?
Zuerst studiert sie jeder für sich. Wir lesen sie in der Art, wie
etwa ein Dirigent eine neue Orchesterpartitur studiert, und markieren wichtige
Einzelheiten in den Stimmen. So weiß jeder schon bei der ersten Probe,
was die andern tun. Dieses Ensemblebewußtsein ist notwendig, denn
bei neuer Musik kann man sich nicht einfach hinsetzen und zu spielen beginnen.
Zuerst weiß man oft nicht, wo es langgeht. Die individuelle
Vorbereitung machen wir also, um die Probenarbeit zu beschleunigen. Dann
treffen wir uns und erarbeiten uns das Stück bis zu einem bestimmten
Grad, bevor wir den Komponisten einladen. Es ist immer besser, ihn möglichst
früh dabei zu haben, denn Änderungen sollten nicht allzu spät
vorgenommen werden.
Wie funktioniert diese Zusammenarbeit mit dem Komponisten? Kommt
er stets zur Probe, oder haben Sie mit ihm auch übers Telefon oder
per Brief Kontakt?
Es ist oft eine Mischung von alledem. Er kann uns anrufen und
uns auf bestimmte Dinge mündlich hinweisen. Üblicher ist, daß
er einen Brief schreibt. Am besten finde ich aber, wenn er persönlich
erscheint, mit der realen Klanggestalt seines Werks konfrontiert wird und
dazu seine Kommentare abgibt. Wenn wir an einem Stück mit einer wenig
geläufigen musikalischen Sprache arbeiten, etwa einem von Lachenmann,
kann es notwendig sein, sich bereits vorher mit dem Komponisten zu verständigen,
damit man die Notation versteht. Bei "normal" notierten Stücken machen
wir diese Vorarbeit allein. Und wenn dann der Komponist zur Probe kommt,
was manchmal erst in letzter Minute passiert, sagt er, was er von unserer
Interpretation hält. Manchmal ist er vollkommen einverstanden damit,
manchmal macht er kleine Bemerkungen, manchmal macht er eine Menge von
Änderungsvorschlägen. Es gibt Komponisten, die kommen von der
Praxis her; sie sind selbst Instrumentalisten und haben eine genaue Vorstellung,
wie ihr Stück klingen soll, so daß sie uns präzise Anweisungen
geben können. Das heißt nicht, daß man es genau so spielen
muß, wie es der Komponist haben will. Aber man hat seine Ratschläge
gehört und behält sie im Hinterkopf. Manchmal geschieht auch
das Gegenteil: Der Komponist hält sich mit Kommentaren bewußt
zurück. Er korrigiert dann bestenfalls einige Details, die ein fünftes
Paar Ohren besser hören kann, doch ansonsten legt er Wert darauf,
daß es unsere Interpretation ist, in der sein Stück erklingt,
und nicht die seine.
Kommt es vor, daß ein Komponist seine Notation nach dem Probenbesuch
ändert?
Die Notation wird selten geändert, gelegentlich jedoch das Timing
der Musik, indem die Klangereignisse mehr gerafft oder auseinandergezogen
werden. Die Zeitdimension ist oft schwierig zu gestalten. In rhythmisch
strukturierter Musik ist das sicher kein großes Problem, in einer
Musik voller Pausen aber schon. In solchen Fällen gibt es dann größere
oder kleinere Änderungen. Doch daran sind wir gewöhnt, wir können
uns gut anpassen.
Was sich zwischen dem Komponisten und dem Ensemble beim Einstudieren
abspielt, ist also offenbar ebenso wichtig wie der Prozeß im Ensemble
selbst.
Ich denke schon. Das ist einer der unschätzbaren Pluspunkte beim
Spielen neuer Musik. Das kann man mit alter Musik nicht haben.
Sie haben hunderte von Uraufführungen gespielt. Was ist das
Besondere an der Tätigkeit eines Uraufführungs-Ensembles?
Wir sind vor die Aufgabe gestellt, gleich bei der ersten Aufführung
eines Stücks eine gültige Interpretation abzuliefern. Wir spielen
viel bei Festivals, und Festivals sind auf Uraufführungen aus. Wir
hingegen sind interessiert an einer zweiten, dritten, vierten, zwanzigsten
Aufführung. Die Festivals haben, wie man gerade in Deutschland
sehen kann, ein großes Publikum, sie machen wie etwa in Witten oder
Donaueschingen Radioaufnahmen von der Uraufführung und produzieren
daraus eine CD. Ein Streichquartett, das das traditionelle Repertoire spielt,
probiert ein neues Stück normalerweise zuerst in kleinen Orten und
vor halbprivatem Publikum aus. Bei uns ist das anders. Gleich unsere ersten
Konzerte in London mit Henze und Ligeti wurden von der BBC live übertragen,
und so geht es seither ununterbrochen. Was wir machen, muß stets
auf Anhieb vorzeigbar sein. Das bedeutet: Wir haben gelernt, ein Stück
rasch einzuschätzen und etwas aus ihm zu machen. Es reicht nicht,
zu sagen: "Sorry, das ist das erste Mal, daß wir dieses Stück
spielen", oder: "Leider konnten wir es nur eine Woche proben." Solche Ausreden
sind nicht möglich. Das Publikum erwartet von uns gültige Resultate.
Also dies ist ein riesiger Unterschied zu den Interpreten klassischer Musik.
Alle Ensembles für neue Musik kennen dieses Problem ? das Ensemble
Modern, das InterContemporain, die London Sinfonietta usw. Aber bei uns
gibt es noch einen zusätzlichen Unterschied: Wir sind ein homogenes
Quartettensemble und es gibt keinen außenstehenden Leiter oder Dirigenten,
der uns die Verantwortung abnehmen könnte und sagen würde: So
muß es gemacht werden und so nicht, und dies klingt besser als jenes.
Wir allein müssen entscheiden, wir sind allein verantwortlich. Was
wir da tun auf dem Gebiet des Streichquartetts, ist im Grunde genommen
verrückt. Es ist eine riesige Menge Arbeit damit verbunden.
Was ist für Sie ein gutes Werk, oder anders gefragt: Nach welcher
Art von Musik hält das Arditti Quartett Ausschau?
Nun, das Arditti Quartett wird oft in eine Schublade gesteckt. Es heißt,
wir würden nur Musik spielen, die technisch extrem anspruchsvoll und
so komplex sei, daß andere Ensembles sie nicht spielen können
oder wollen. Aber ich möchte doch bemerken, daß unser Repertoire
inzwischen viel breiter geworden ist. Und obwohl wir in der Lage sind,
Werke von welcher Komplexität auch immer zu spielen, können wir
genauso auch andere Musik spielen. Es gibt viele verschiedene Arten von
Musik, die uns interessieren. Ich denke, das Hauptkriterium ist, ob ein
Stück gut ist oder nicht.
Was heißt das?
Ja, was ist ein gutes Stück? Ein gutes Stück ist in der Lage,
für die Zeit seines Erklingens das Interesse des Hörers wachzuhalten.
Vielleicht ist das eine brauchbare Definition.
Die ersten Hörer beziehungsweise Leser sind erst einmal Sie,
das Quartett.
Ja. Aber es ist gefährlich, sich gleich von Anfang an Gedanken
zu machen über die Wirkung eines Stücks auf die Hörer, denn
man kann seine Meinung ändern. Wenn man in den Arbeitsprozeß
eingebunden ist und im Ensemble spielt, hört man seine eigene Stimme
immer lauter als die andern. Natürlich habe ich meine Auffassung von
einem Stück. Aber ich erhalte den besseren Eindruck, wenn ich es von
außerhalb wahrnehmen kann, wenn ich nachher die Aufnahme vom Band
oder auf der CD höre. Eine Interpretation ist ein langer Gestaltungsprozeß.
Wenn man ein Werk zu proben beginnt und es erst einmal Schritt für
Schritt erkundet, kapiert man vielleicht noch gar nicht richtig, was da
musikalisch vorgeht. Deshalb haben wir aus jahrelanger Erfahrung gelernt,
mit einem Stück erst einige Zeit zu leben, bevor wir über seine
Qualität urteilen. Das Publikum in den verschiedenen Ländern
ist höchst unterschiedlich, und auch darum muß man einem Stück
Zeit lassen ? Zeit, gehört zu werden, sich zu entwickeln. Auch die
Interpretation braucht Zeit zu wachsen, ebenso die Bereitschaft des Publikums,
sich mit immer wieder neuen Dingen auseinanderzusetzen. Wir konfrontieren
die Leute damit. Und Konfrontation gehört zum Wesen der neuen Musik
? die Idee, daß jedes Werk etwas anderes sagt, etwas Neues, was den
Hörer anzuregen vermag. Das ist für mich das Interessante am
Konzept der neuen Musik.
Wie verändert sich für Sie ein Werk im Lauf seiner Interpretationsgeschichte?
In der zeitgenössischen Musik gibt es eine Menge Details, die bei
den ersten Proben schwierig aufzunehmen sind. Doch nach einiger Zeit bekommt
man ein Gespür für den Raum, den ein Material zur Entfaltung
braucht, ein Gespür, wie es klingt, wie es in die ablaufende Zeit
hineinfällt. Das ist Erfahrungssache, das muß entwickelt und
immer wieder ausprobiert werden. Für mich liegt hier der Hauptgrund,
weshalb neue Musik nie langweilig wird. Es ist ein andauernder Prozeß:
Was können wir mit diesem Stück tun, in welche Richtung geht
es, gibt es einen Punkt, über den wir nicht hinausgelangen können?
Sogar das 2. Streichquartett von Ligeti, das wir seit den späten siebziger
Jahren wahrscheinlich hunderte Male gespielt haben ? ich habe nie gezählt
? und das wir zweimal aufgenommen haben: selbst dieses Stück hat mich
nie gelangweilt, wenn ich es im Konzert spielte. Nie. Weil wir unablässig
unterwegs sind und immer etwas Neues versuchen, wenn wir den Begriff Interpretation
ernstnehmen.
Kam es vor, daß Sie sich nach der Uraufführung eines neuen
Stücks sagten: "Das war's wohl nicht, das ging daneben."?
Ja.
Und Sie verraten nicht, bei welchem Stück das passierte.
Natürlich nicht. - Es gibt immer wieder Stücke, die man nicht
gleich hinkriegt. Man kann sie bis zu einem gewissen Grad bewältigen,
aber ihre Anforderungen sind einfach zu hoch. Der Weg bis zu einer wirklich
befriedigenden Aufführung ist dann sehr lang. Die Gründe dafür
können im technischen oder musikalischen Bereich liegen.
Beethoven soll einmal zum Leiter des Schuppanzigh-Quartetts gesagt
haben, als dieser sich über die extremen Schwierigkeiten in seiner
Stimme beklagte: "Glaubt Er, daß ich an seine elende Geige denke,
wenn der Geist zu mir spricht?" Haben Sie eine solche Situation auch schon
erlebt? Sind für das Arditti Quartett schon Werke geschrieben worden,
denen es technisch nicht gewachsen war?
Vor einigen Jahren machte ich eine Bemerkung, die zwar nicht so berühmt
ist wie die von Beethovens, die sich aber doch ein wenig herumgesprochen
hat: "Nichts ist unmöglich, wenn man lange genug daran arbeitet."
Ich bezog mich dabei auf das zweite Streichquartett von Brian Ferneyhough,
das uns zum ersten Mal mit einer extrem komplizierten Materie konfrontiert
hatte. Das konnten wir nicht einfach auf den Notenständer stellen
und spielen. Wir erarbeiteten es nicht Takt für Takt, sondern Schlag
für Schlag, und ich glaube, damals, 1980, investierten wir etwa sechzig
Stunden in dieses knapp zwölfminütige Stück. Aber es gibt
nichts, was nicht gespielt werden kann, außer es ist schlecht geschrieben.
War das die komplexeste Musik, die Sie je spielten?
Ich denke, die drei Quartette, die Ferneyhough für uns geschrieben
hat, das zweite, dritte und vierte, waren ein Gipfelpunkt dieser Art von
rhythmischer Komplexität. Es gibt selbstverständlich unterschiedliche
Arten von Komplexität. Xenakis ist auf ganz andere Weise komplex,
ebenso die Musik von Elliott Carter, auch wenn sie vielleicht eine mehr
klassische Ausrichtung hat. Das Etikett "komplexe Musik" kann vielen Werken
aufgeklebt werden, und mit dieser Art von Musik sind wir bekannt geworden.
Doch heute hat sich die Situation ziemlich verändert. Es gibt mehr
Musiker, die zeitgenössische Musik aufführen. Vielleicht liegt
es daran, daß heute eine viel größere stilistische Vielfalt
vorhanden ist, so daß klassische Musiker leicht Zugang zu ganz unterschiedlichen
Arten von zeitgenössischer Musik finden können, ohne sich gleich
auf die komplexesten Dinge einlassen zu müssen.
Sie sagten, daß im Grunde genommen alles, was geschrieben wird,
auch gespielt werden kann. Heißt das, das Streichquartett oder das
einzelne Streichinstrument ist erforscht, und es gibt technisch nichts
mehr zu entdecken?
Das kann ich nicht beantworten. Man stellt mit diese Frage oft: "Gibt
es nichts Neues mehr zu entdecken?" Oder: "Welche Art von Musik wird man
im
Jahr 2000 schreiben?" Ich kann nicht für die Zukunft antworten. Als
wir begannen, hätte ich auch nicht voraussagen können, was heute
passiert. Vor 25 Jahren gab es einige wenige Schreibweisen, die sich spiralförmig
in einer Richtung weiterbewegten. Heute ist es wie ein Feuerwerk. Alle
bewegen sich in alle Richtungen, vorwärts, seitwärts, rückwärts.
In den sechziger Jahren gab es einen gewaltigen Schub in der Entwicklung
der Instrumentaltechnik und Klangproduktion, und dies scheint doch für
den Moment vorbei zu sein.
Eine Erweiterung der technischen Möglichkeiten garantiert noch
keine gute Musik. Ich glaube, wir müssen in der Lage sein, sehr verschiedene
Dinge zu spielen, und was sich den extremen Anforderungen verweigert, sollten
wir nicht ausschließen. Man kann mit sehr einfachen und mit sehr
komplexen Mitteln Musik machen, und so erweitert sich die Sprache gesamthaft.
Das Interessante heute ist doch, daß wir eine Vielfalt von Sprachen
haben und daß die Leute alle Arten von Musik hören wollen.
In der Zeit der Klassik und Romantik gab es noch einen verbindlichen
Epochenstil und innerhalb dieses Stils gab es unterschiedliche persönliche
Ausformungen. Heute fehlt diese Allgemeinverbindlichkeit, und fast jeder
Komponist hat seine eigene Sprache und Technik.
Ja, dies ist heute erstmals in der Geschichte der Fall. Im 20. Jahrhundert gab es zwar noch einige kompositorische Methoden, die bestimmten vogegebenen Richtungen folgen wollten, doch es scheint, daß sie scheiterten. Das Fantastische heute ist doch: Es gibt nicht mehr nur ein oder zwei Wege einzuschlagen. Nicht daß es in der seriellen und postseriellen Phase eine Menge fabelhafter Werke gegeben hätte; das ist eine Musik, die mich wirklich fasziniert, seit ich begonnen habe, neue Musik zu hören. Doch es war falsch anzunehmen, das sei der einzig mögliche Weg. Jetzt ist es viel interessanter: Die Situation ist offen und man legt seiner Imagination keine Zügel an. Denn wie könnten wir die Imagination zügeln? Haben Sie als Interpret noch eine Übersicht über dieses
riesige Feld der Möglichkeiten?
Ich denke, das ist nicht wichtig. Es ist nicht unsere Aufgabe, einen
Überblick zu haben. Das ist Ihre Aufgabe. Deshalb sind wir verschieden,
und diese Verschiedenheit ist wichtig. Unsere Aufgabe ist es, Komponisten
und Publikum mit einfallsreichen Interpretationen anzuregen und sie zu
ermutigen, ihre Phantasie zu gebrauchen. Wir sollten die Komponisten nicht
sie einengen, mit Vorschriften gängeln und in Fächer einordnen.
In der Interpretation gibt es keine Einbahnstraße, auch nicht für
eine einzelne Gruppe. Man kann sein musikalisches Konzept ändern.
Das gehörte schon immer zur Idee aller neuen Musik. Ich bin der Meinung,
Komponisten sind ständig erfinderisch und überraschen immer wieder
mit neuen Ideen. Manchmal ertappe ich mich übrigens dabei, daß
ich mit konditioniertem Ohr höre und nicht gleich aufnahmefähig
bin für all die neuen Ideen. Dann höre ich die jungen Leute,
die so alt sind wie ich vor zwanzig Jahren, im Geist sagen: "Warum verstehen
die das nicht, warum mögen die es nicht?" In unserer Tätigkeit
müssen wir extrem aufnahmebereit für alle Arten von Musik sein.
Hat sich an der Arbeit des Quartetts grundsätzlich etwas verändert
im Lauf der Zeit?
Mein Interesse war von Anfang an auf Ausweitung ausgerichtet, und insofern
haben sich die Grundsätze unseres Quartetts nicht geändert. Wir
waren von Anfang an offen für Neues und sind es bis heute geblieben.
Aber heute, da die musikalische Entwicklung in alle Richtungen geht, erfordert
das eine größere Aufnahmefähigkeit als früher. Unsere
Sicht auf die neue Musik hat sich damit natürlich geändert. Es
gibt heute Dinge, die vor 25 Jahren undenkbar gewesen wären, und man
kann nicht mehr einzelne Erscheinungen als maßgeblich betrachten.
Doch wir haben uns nie an einen einzigen Komponisten oder an eine bestimmte
Kompositionsrichtung gehängt. Es gibt viele Gesichtspunkte, und der
wichtigste Aspekt ist: Es geht weiter. Wir haben jetzt diesen Preis bekommen,
der, wie man uns gesagt hat, für eine Lebensleistung verliehen wird.
Darüber bin ich hocherfreut, doch ich möchte anfügen: Einen
Moment mal bitte, ich bin noch nicht fertig!
Das Streichquartett, entstanden in der Zeit der Wiener Klassik, ist
vielleicht die "europäischste" aller Gattungen. Sie geben heute Konzerte
in der ganzen Welt und mit Kompositionen aus allen möglichen Ländern.
Ist das Streichquartett heute noch genuin europäisch oder ist es sozusagen
international geworden?
Ich denke, es ist international geworden. Seine Wurzeln liegen gewiß
in Europa, und von hier kommen vielleicht auch heute noch die meisten Impulse
für seine Weiterentwicklung. Aber es wäre unsinnig zu behaupten,
es sei eine rein europäische Gattung geblieben, denn die Komponisten
kommen heute von überall her. Man muß die Tradition kennen,
das ist sehr wichtig, und unsere Tätgkeit ist der Versuch, diese kompositorische
Tradition aufrechtzuerhalten. Auch wenn wir nicht Schubert spielen: Er
ist Teil unseres Bewußtseins, genauso wie der späte Beethoven,
Bartók, die Zweite Wiener Schule. Die Evolution des Streichquartetts
kann sich nur auf dieser Grundlage abspielen. Und mit diesem Wissen im
Hinterkopf suchen wir uns vielleicht auch die Komponisten aus, die wir
spielen. Das heißt nicht, daß sie Werke wie die großen
Meister schreiben sollen. Aber sie sollen sich der Tradition bewußt
sein, in der sie stehen, wir haben das auch immer so gehalten. Wir wenden
uns nicht an Komponisten, denen diese Musiktradition fremd ist, also nicht
an Komponisten aus Bereichen wie Jazz, Pop und Crossover. So etwas interessiert
mich überhaupt nicht.
Unterrichten Sie gern mit dem Quartett?
Nun, Unterrichten impliziert verschiedene Dinge: Unterricht für
Instrumentalisten, die neue Musik spielen wollen, und Unterricht für
Komponisten, die lernen wollen, wie etwas niedergeschrieben wird. Interpreten
können vielleicht durch Zuhören von uns lernen, wie ich es mit
dem LaSalle Quartet machte, und manche fragen uns um Rat. Doch ich habe
den Eindruck, unsere Tätigkeit richtet sich eher an die Komponisten.
Es ist für junge Komponisten äußerst wichtig, daß
sie mit dem klingenden Resultat ihrer Arbeit konfrontiert werden, daß
sie es sauber und exakt vorgespielt bekommen, daß sie es einschätzen
und verbessern können. Das machten wir viele Jahre lang bei den Darmstädter
Ferienkursen. Wissen Sie, auf internationalen Podien Konzerte zu geben
ist nicht besonders schwierig. Die Leute wollen die besten Stücke
hören, und Sie spielen ihnen dann eben die "Meisterwerke" vor. Aber
Darmstadt, das war ein Ort, wo junge Leute aus aller Welt mit einer ungeheuren
Kommunikationsbereitschaft und mit unterschiedlichen Ideen zusammenkamen.
Sie hörten zu, sie mochten es oder mochten es nicht, sie verstanden
es oder verstanden es nicht. Aber man hatte den Kontakt mit allen und konnte
jungen Komponisten die Möglichkeiten einer Aufführung vor einem
breiten Publikum geben. Das war ein enorm wichtiger Aspekt unserer Arbeit.
Was wäre für Sie die ideale Situation zum Unterrichten
an einem festen Ort?
Die Studenten sollten sich von uns gleichsam ernähren können,
uns wie Insekten behandeln, unter die Glasglocke stellen und beobachten,
was wir dann tun. Vom Standpunkt der Interpretation aus wäre es interessant,
mit jungen Ensembles zu arbeiten, sie zu trainieren und ihnen zu zeigen,
wie wir selbst das Lernen neuer Musik anpacken. Dazu müßten
junge Komponisten Stücke schreiben, so daß alle Teilnehmer in
einen gemeinsamen Arbeitsprozeß integriert würden. So etwas
tun wir gelegentlich, aber nur als Gastdozenten.
Gibt es denn heute bereits einen Nachwuchs an Streichquartetten,
die neue Musik spielen?
Da ist vieles in Bewegung, und wir unterstützen jede Initiative
vorbehaltlos. Früher gab es kaum Gruppen, die jünger waren als
wir und unsere Arbeit fortsetzten. Aber jetzt gibt es eine ganze Anzahl
klassischer Gruppen, die das eine oder andere unserer Repertoirestücke
im Konzert spielen. Das finde ich sehr erfreulich, und vielleicht haben
wir damit dem Streichquartett der Gegenwart in gewisser Weise unseren Stempel
aufgeprägt. Ich zitiere gerne einen Ausspruch von Pierre Boulez, den
er glaube ich in den siebziger Jahren getan hat. Er sagte damals, das Streichquartett
sei tot. Wenn er sich später korrigieren mußte, so liegt das
gewiß auch an unserer Arbeit. Ich denke manchmal, wenn das Streichquartett
heute nicht mehr tot ist, dann hat das damit zu tun, daß wir so viele
Komponisten ermutigt haben, Werke für diese Gattung zu schreiben.
Wenn Sie auf das vergangene Vierteljahrhundert zurückblicken:
was ist in Ihren Augen das Wichtigste, was Sie gelernt haben?
Wir haben gelernt, unsere Phantasie spielen zu lassen. Und wir haben
gelernt, uns auf Gebiete vorzuwagen, die noch nicht vermessen sind, und
Dinge zu tun, für die es keine Gebrauchsanweisung gibt. Zum Beispiel
ein Konzert zu geben vor großem Publikum, mit Live-Elektronik und
all den Unwägbarkeiten, die mit dem ersten Mal verbunden sind und
dabei das schöne Gefühl zu haben: Das was hier zustandekommt,
passiert durch deine Initiative. Das ist doch letztlich das Besondere an
der Beschäftigung mit neuer Musik: Man hat seine Technik in den Fingern,
man verfügt über alle möglichen Mittel, und ganz am Schluß,
wenn es darauf ankommt, bleibt einem dann doch nur die Imagination, von
der man sich leiten läßt, und deren Richtung von den Partituren
vorgegeben wird.
Das Arditti Quartett ist ein englisches Ensemble, doch es gibt seine
Konzerte meist im Ausland.
Nun, es ist ganz schön hier in London zu leben, und vielleicht
sollte man Beruf und privates Vergnügen nicht vermischen. Hier führe
ich ein glückliches Leben, doch dummerweise wird es durch die Probenarbeit
gestört. So gesehen wir spielen eigentlich viel mehr in England als
anderswo, denn wir proben immer hier. ? Doch ernsthaft: Über die Jahre
hinweg hatte England für uns seine Höhen und Tiefen, und es stimmt
nicht, daß wir hier nie aufgetreten wären. Das Huddersfield
Contemporary Music Festival hat uns immer mit der Leidenschaft eines europäischen
Festivals unterstützt, und ich bin glücklich, daß wir zu
unserem fünfundzwanzigjährigen Bestehen im nächsten November
dort wieder eingeladen sind. In London ist es für uns nicht so einfach.
Es gab hier bisher wenige Leute, die hinter uns standen. Früher waren
wir beim Almeida Festival regelmäßig zu Konzerten eingeladen,
aber das ist lange her. Mit dem Auftreten neuer Persönlichkeiten im
Veranstaltungsbereich, vielleicht nicht unbedingt nur Engländern,
kann sich das möglicherweise ändern, so daß wir hier eines
Tages auf ein ähnliches Interesse stoßen wie anderswo in Europa.
Doch vielleicht liegt das Problem ja doch an den Engländern. Wie sagte
schon Sir Thomas Beecham: "Die Engländer lieben eigentlich die Musik
nicht, aber sie bewundern durchaus den Lärm, den sie verursacht."
Könnte die mangelnde Resonanz in England damit zu tun haben,
daß Sie nicht so viele Werke englischer Komponisten im Repertoire
haben?
Ich glaube, das gilt für die frühen Jahre des Arditti Quartetts,
aber nicht mehr heute. Gut, wir spielen Ferneyhough, dessen Musik ist ja
nicht gerade das ist, was man sich unter englischer Musik vorstellt; zudem
ist er ein Emigrant. Aber wir spielen eine beträchtliche Zahl anderer
Komponisten. Birtwistle schrieb für uns ein bedeutendes Stück,
und wir spielen regelmäßig die Musik von James Dillon, Jonathan
Harvey und seit kurzem auch von Thomas Adès. Andere werden folgen.
Es liegt also nicht etwa daran, daß wir keine englischen Komponisten
auffordern würden, Stücke für uns zu schreiben. Das Problem
liegt woanders.
© 1999 Max Nyffeler
Das Interview wurde im Auftrag der Siemens-Stiftung am 5.4.1999 in London in englischer Sprache geführt.
English Version
25 Jahre Arditti Quartett
Interpreten Übersicht

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