Frederic Rzewski's Variationen über El pueblo unido

Pianistische Höhenflüge und politisches Bekenntnis

frederic rzewski coverBei der deutschen Erstaufführung 1977 in Köln hatte das großformatige Klavieropus einiges Befremden ausgelöst, zumal die WDR-Veranstaltungsreihe, in der es erklang, unter dem Motto „Neue Einfachheit“ stand. Eine Variationenfolge von rund einstündiger Dauer, weitgehend tonal komponiert und in Umfang und Anspruch vergleichbar mit einem Variationenzyklus wie Beethovens Diabelli-Variationen, wenn auch zweifellos von anderem historischem Stellenwert: So etwas musste in einer Zeit, da Begriffe wie Materialrevolution und serielle Struktur noch etwas galten, weither Anstoß erregen. Von Tschaikowsky und pianistischen Pomp war die Rede, und in der klassizistisch gehandhabten Variationenform erblickten die Parteigänger der Avantgarde einen Fall von glatter Regression.

Der Amerikaner Frederic Rzewski, unbeugsamer Verfechter einer politischen Ästhetik und Pianist von überragendem Format, hat damals mit seinem Klavierwerk The People United Will Never Be Defeated ein überraschend neuartiges Beispiel für ein Komponieren geliefert, in dem es, um mit Hanns Eisler zu sprechen, nicht um den Fortschritt im Material, sondern um fortschrittliche politische Inhalte gehen sollte; mittels „ästhetischer Zurücknahme“ sollte die Kraft der Botschaft verstärkt werden.

Das ist Rzewski denn auch gelungen, und zwar ohne faule Kompromisse. Thema seiner Variationen ist das von Sergio Ortega komponierte Lied aus der chilenischen Revolution der frühen 1970er Jahre, El pueblo unido jamás será vencido, das damals weltweite Bekanntheit erlangte. Die metrische und vielfach auch die harmonische Struktur des Lieds hat Rzewski weitgehend unangetastet gelassen, so dass sie als Bezugspunkt im Bewusstsein bleiben. Die Variationen, die er über diesem Gerüst entwickelt, sind aber von einer derartigen Vielfalt der strukturellen Verfahren und pianistisch auf so hohem Niveau angesiedelt, dass von Einfachheit nicht mehr die Rede sein kann.

Wer sich mit dem Festhalten am tonalen Fundament abfinden kann, wird an dieser pianistisch-kompositorischen Kombinatorik sein Vergnügen haben, zumal Rzewski nicht in einer eindimensionalen Sicht auf die Harmonik stecken bleibt, sondern sie historisierend benutzt und damit ein polystilistisches Musikstück schafft; der Bogen reicht von der klassizistischen Beethoven-Harmonik über frei-atonale Partien bis zu Eislerschem Kampflieder-Ton, Webernschem Pointillismus und seriellen Konstellationen. Damit ist das bereits 1971 komponierte Stück, ähnlich wie Berios drei Jahre ältere Sinfonia, ein Zeitdokument der frühen Postmoderne, die an die Stelle einer einheitlichen Musiksprache und konsistenten Technik ein Komponieren mit unterschiedlichen historischen Referenzen setzte.

Das Werk, das schon mehrfach auf LP und CD erschienen ist, wurde nun 2007 bei einem Konzert von Frederic Rzewski in Fort Lauderdale (Florida) live auf Video aufgezeichnet. Dem ausschweifenden Stilpluralismus der Komposition begegnet der Film mit einer konsequenten Reduktion der optischen Mittel. Das Bühnendekor ist schwarz, der schwarz gekleidete Komponist am Flügel wird spotlichtartig ausgeleuchtet. Die unbeweglichen Kameras zeigen die Bühne entweder in ruhiger Totale oder Halbtotale oder sind auf Gesicht und Hände des Interpreten fokussiert. Nichts am Bild soll ablenken von der Konzentration auf die Musik im Moment ihrer Entstehung. So kann man eine Stunde lang einem überragenden Könner seines Fachs bei der Gestaltung seines Werk zuschauen: Klavierspiel als ein Akt höchster körperlich-geistiger Anstrengung, der nicht durch das Vorzeigen zirzensischer Kunststücke fasziniert, sondern durch die Konzentration, mit der hier ein Interpret die sperrige Klangmaterie seinem gestaltenden Willen unterwirft.

© Max Nyffeler 2008

DVD: Frederic Rzewski Plays Rzewski: The People United Will Never Be Defeated / Frederic Rzewski, Klavier / Bild 4:3, Ton Stereo / 65 min. / VAI DVD 4440 (www.vaimusic.com)

(Juli/2008)

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