Dirigentenporträts: Carlos Kleiber, Neville Marriner, Simon Rattle und Claudio AbbadoVielfältige Darstellungformen im Medium DVDDer Dirigent als Verkörperung scheinbar unbeschränkter Verfügungsgewalt über Musik und Musiker, in dessen Gestik technische Anweisung und interpretierende Darstellung eine schillernde Mischung eingehen: Auf das Konzertpublikum wirkt das heute immer noch faszinierend, auch wenn sich die Darstellungsformen seit dem 19. Jahrhundert stark verändert haben. Im Video teilt sich diese Faszination unmittelbar mit, und so ist das Dirigentenporträt zu einer beliebten Gattung in dem noch jungen Medium DVD geworden. Die Labels erhoffen sich von solchen personality-bezogenen Produktionen gute Marktchancen. Zum raschen Aufbau ihres Katalogs haben sie häufig auf ältere Filme für das Fernsehen zurück gegriffen. Die Porträts folgen grundsätzlich zwei Mustern, die sich auch vermischen können. Einerseits gibt es das abgefilmte Konzert, bei dem Orchester und Dirigent mehr oder weniger gleichwertig behandelt werden, letzterer aber auf Grund seiner herausgehobenen Stellung doch im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Andererseits das Porträt im engeren Sinn. Es zeigt den Dirigenten bei der Arbeit mit dem Orchester und bemüht sich darüber hinaus mit Interviews und reportageähnlichen Elementen auch um den human touch. Die erste Version ist die traditionellere; sie bekräftigt die Feldherrenrolle des Dirigenten und stellt die Interpretation des Werks als repräsentatives Ritual dar. Die zweite ist in der Regel ergiebiger für den Zuschauer, kann er doch gleichsam hinter die Kulissen schauen und am Entstehungsprozess einer Interpretation ein Stück weit teilhaben. Das ist meist aufschlussreicher als die Begegnung mit dem fertigen Produkt als Medienkonserve. Der Feurige: Carlos Kleiber
Dirigieren als Bohren dicker Bretter. Kleiber will die Musiker auf seinen Höhenflug mitnehmen und tut es unter Einsatz des ganzen Körpers, mit höchster Musikalität, schlagtechnisch brillant, beredt, witzig und mit einem gehörigen Maß an Selbstverleugnung. "Wir sind Bettler, wir halten den Hut hin wenn wir's kriegen, na gut", sagt er fast entschuldigend an einer Stelle. Es hat etwas Anrührendes, wie hier ein überragender Dirigent um ein Orchester wirbt, das ihm wie eine Schar von Leichenbestattern gegenüber sitzt. Kleiber verschwendet sich, und in grotesker Fehleinschätzung der Situation verlangt er auch von den Musikern alles. In der pianissimo beginnenden Freischütz-Ouvertüre unterbricht er gleich nach dem ersten Ansatz: "Lassen Sie immer den Kollegen anfangen". Dem Klarinettisten, der mit seiner Melodie kämpft, rät er: "Vergessen Sie die Welt, die Welt ist nichts wert." Zum Schluss haben sich die Musiker tatsächlich ein paar Schritte bewegt. Auch die Fledermaus klingt im abschließenden Konzertmitschnitt nicht mehr so "dienstlich" (ein Ausdruck Kleibers) kein Wunder, wenn der Dirigent das Stück so beredt zu tanzen versteht. Der Spezialist: John Eliot Gardiner
Es funktioniert dank der perfekten Vorbereitung aller Beteiligten und dank der unanfechtbaren Autorität von Gardiners Spezialistentum, die keinen Widerspruch duldet. Mit Sorgfalt feilt er an der deutschen Aussprache. Ein deutsches Chormitglied spricht im Zweifelsfall die richtige Diktion vor; wenn die italienische Altistin singt: "... und dennoch willst du uns nicht 'assen", so quittiert das Gardiner mit einem Lächeln. Zwischen die Probenaufnahmen sind Interviewteile geschnitten, in denen Gardiner Auskunft über sein Bachbild gibt und die Interpreten über die Zusammenarbeit mit ihm sprechen. Insgesamt eine interessante Produktion, doch mit einem verdrießlichen Detail: Einer weit verbreiteten editorischen Unart folgend, werden in der Titelei die Filmproduzenten zur Hauptsache aufgeblasen. Die Angaben über die Interpreten sind auf eine nichtssagende Zeile reduziert, die vier Solisten im Begleitheft zudem mit keinem Wort erwähnt. Der große Kommunikator: Simon Rattle
Im Fokus der zehn Kameras entfaltet Rattle ein breites Repertoire von körperlichen Sprachgesten, mit denen er das Orchester zu Höchstleistungen anstachelt. Die düsteren Blechakkorde des Trauermarschs kommentiert er mit Gorgonenblick, bei konflikthaften Stellen bleckt er die Zähne, beim erstmaligen dumpfen Zurücksinken der Musik ( Partitur nach Ziffer 11) taumelt er wie ein angeschlagener Boxer. Man könnte beinahe den Ton abstellen und wüsste auf Grund seiner Körpersprache stets, an welcher Stelle im Stück man sich gerade befindet. Ganz nahe auf die Haut rückt die Bildregie von Bob Coles auch dem Orchester, das hier neben Rattle die zweite Starrolle hat. Keine Regung bleibt unbeobachtet. Wenn dem Hornisten der Schweiß über die Stirn läuft, wenn die blonde Geigerin verstohlen einem Kollegen zulächelt, wenn im Eröffnungswerk Asyla von Thomas Adès einem Werk, das Sinn für aparte Klangmischungen und Melodien verrät der Wassergong dreimal ins Becken eintaucht: all das wird aus optimaler Perspektive eingefangen und unnachgiebig protokolliert. Der allgegenwärtige Observierungsdruck erinnert fast ein wenig an die Sendung aus dem Container. Die detailvernarrte Optik hat obendrein die fatale Tendenz, sich der Musik so überzustülpen, dass man manchmal Mühe hat, die musikalischen Zusammenhänge zu verfolgen. Der beeindruckenden musikalischen Leistung von Dirigent und Orchester tut das indes keinen Abbruch. Wer die Mahlersinfonie ohne optische Zutaten hören will, kann auf die DVD-Audio zurückgreifen, die dieser Doppel-Edition beiliegt. In der Audiofassung fehlt das eher plakative Gespräch, das Nicholas Kenyon mit dem Dirigenten über seine neue Berliner Tätigkeit geführt hat. Ein Verlust ist das nicht. Der Affektsichere: Claudio Abbado
Zwei Stunden kann man beobachten, wie Abbado ein Werk einstudiert, das sozusagen zu seiner musikalischen Muttersprache gehört. Mit souveräner Gelassenheit, ohne Mätzchen und falsche Theatralik, ist er einzig danach bestrebt, dem Notentext zu überzeugender Darstellung zu verhelfen. Seine Schlagtechnik ist verblüffend einfach und dabei enorm zweckgerichtet und ausdrucksstark, sein Umgangston konzentriert, aber locker und nicht ohne Humor. Diese Mono-Produktion ist 1986 als Film im SDR gesendet worden, was sich durch einige fernsehtypische Manierismen bemerkbar macht. Eine Moderatorenstimme resümiert in der Art von Bildungsfernsehen aus dem Off die Umstände der Entstehung und Uraufführung des Werks und rezitiert laufend aus der deutschen Fassung des Reqiuem-Textes. Auch die immer wieder kurz eingeblendeten Aufnahmen vom Scala-Pausenbüffet und von Modeplakaten, die offenbar als eine Art Vanitas-Bilder gedacht sind, wirken auf Dauer eher bemüht. Die Stärke dieser Produktion liegt in der sorgfältigen und unaufdringlichen Beobachtung der Arbeit der Interpreten. © Max Nyffeler
zurück zu DVD-Rezensionen (Juli/2003) |