Walzerkomponist Cage

49 Waltzes for the Five Bourroughs erstmals realisiert

Cover Cage 49 Waltzes1977 lud der New Yorker Verlag C. F. Peters fünfundzwanzig Komponisten ein, zum Verlagsjubiläum einen kleinen Walzer für Klavier zu komponieren. Der Auftrag ging auch an John Cage. Doch dieser hielt sich, wie anderthalb Jahrhunderte vor ihm schon Beethoven mit dem Diabelli-Walzer, nicht an die Vorgaben des Verlegers. Seine Methode, mit Zufallsoperationen des I Ching zu arbeiten und alles was klingt, vom Instrumentalton bis zum Straßengeräusch, in seine Konzepte einzubeziehen, handhabte er damals auf extensive Weise. Und so lieferte er seinem Verleger kein Klavierstück ab, sondern ein offenes Konzept unter dem Titel 49 Waltzes for the Five Boroughs, Untertitel: „For performer(s) or listener(s) or record maker(s).

„Material“ der Komposition war das New Yorker Straßenverzeichnis mit den fünf Bezirken (boroughs) Manhattan, Bronx, Brooklyn, Queens und Staten Island. Darin bestimmte er durch Zufallsperationen 147 Straßenkreuzungen und verband immer drei davon mit Geraden. So entstanden 49 offene Dreiecke auf der Straßenkarte, und jedes stellte einen Dreischritt über die Topographie der Stadt dar – eben einen „Walzer“. Was nun an diesen dreimal 49 Straßenecken passieren sollte, ließ Cage offen.

In vollem Umfang realisiert wurde das Konzept erstmals anderthalb Jahre nach Cages Tod durch Don Gillespie, Cages ehemaligem Lektor bei Peters. Er schlüpfte in die Rolle des vom Komponisten vorgesehenen „record makers“, wies jedem der 147 Klangorte einen ebenfalls zufallsgenerierten Dauerwert zu und machte vom Januar 1994 bis Januar 1995  mit einem kleinen Videoteam die entsprechenden Aufnahmen an den quer durch die Stadt verstreuten Orten.

Herausgekommen ist ein faszinierendes Bild der Stadt New York. Aus der Folge der 147 kurzen Sequenzen – die kürzeste dauert 16, die längste 224 Sekunden – entsteht ein Kaleidoskop von Stadtansichten, die kein Mensch je in dieser Form zu Gesicht bekäme – wer würde schon kilometerweit in die Vorstädte fahren, um dort eine x-beliebige Straßenkreuzung zu besichtigen? Touristische Ansichten aus Manhattan sind in absoluter Minderzahl. Vorherrschend sind Bilder von anonymen Orten: verlassene Fabrikareale in der Bronx, gepflegte Einfamilienhausidyllen in Queens, Schnellstraßen, die von irgendwo nach nirgendwo führen, verwilderte Uferzonen auf Staten Island, Mietskasernen in Brooklyn. Das alles von belebt bis menschenleer. Bei den langsamen Kameraschwenks tastet das Auge die ins Blickfeld geratenden Details ab, und das Ohr registriert die für jeden Ort charakteristischen Umweltgeräusche und menschlichen Stimmen.

Es ist eine kongeniale Realisierung von Cages Konzept. Sie liefert ein unendlich facettenreiches Bild der Wirklichkeit und lässt das „Kunstwerk“, ganz im Sinn seines Autors, vollständig im täglichen Leben aufgehen: Here comes everybody. Wer bereit ist, sich das zweistündige Aufnahmepuzzle geduldig anzusehen, erfährt mehr über die Stadt und ihre Menschen, als ein Besucher – und wahrscheinlich sogar ein Einheimischer – je erfahren kann. New York von hinten: Auf diese Idee, mit der eisernen Konsequenz des Zufalls umgesetzt, konnte nur Cage kommen.

© Max Nyffeler, Dezember 2009

John Cage: 49 Waltzes for the Five Boroughs. Realisierung: Don Gillespie, Kamera: Roberta Friedman / Bild: NTSC 4:3, Ton: Stereo / 122 min. / Mode Records, mode 204.

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