Die Zukunftswerkstatt: Pierre Boulez und seine Lucerne Festival AcademyMit seiner Lucerne Festival Academy schafft Boulez das Modell einer neuen Orchesterpädagogik
Ein Dokumentarfilm von Günter Atteln und Angelika Stiehler gibt nun erstmals einen ausführlichen Einblick in diese einzigartige Werkstatt der zeitgenössischen Musik. Er ist das Protokoll einer sechsjährigen Erfolgsgeschichte was 2004 als gewagter Feldversuch begann, präsentiert sich heute als Glücksfall einer musikalischen Initiative, die hochqualifizierte fachliche Ausbildung mit lockerer Publikumsnähe verbindet. Die Musiker sind mit Begeisterung bei der Sache und die Säle voll, wenn die Academy auftritt. Mit dem gleichen strategischen Mut, mit dem Boulez vor über einem halben Jahrhundert noch seine seriellen Partituren entwarf, spornt er nun den Nachwuchs zu Höchstleistungen an. Als junger Student bei Olivier Messiaen hatte er selbst erlebt, wie fruchtbar eine Pädagogik ist, die offensiv das Neue propagiert und dabei auch vor wohldosierten Schocks nicht zurückschreckt. Nicht lange drumherum reden, sondern sich direkt an die großen Aufgaben heranwagen! Und so steht auch gleich Strawinskys epochales Bravourstück „Sacre du printemps“ auf dem Kursprogramm. Die Einstudierung ist verbunden mit einem Dirigierkurs: Über ein Dutzend ehrgeizige Kandidatinnen und Kandidaten lernen ihr Handwerk am sperrigen Werk, mit freundschaftlicher Strenge angeleitet vom Chef persönlich. Seine Methode ist strikt ergebnisorientiert: Noch die kleinste Handbewegung wird daraufhin analysiert, ob sie die beabsichtigte klangliche Wirkung erbringt, wobei die Absicht des Schülers und nicht die des Lehrers entscheidend ist. In inhaltlichen Fragen nimmt sich Boulez ganz zurück und lässt der persönlichen Auffassung des Jüngeren den Vortritt. Die Dokumentation entwirft das Bild eines hochkarätigen pädagogischen Unternehmens im Bereich der Gegenwartsmusik, das mit seiner Verzahnung von Orchestererziehung, Kammermusik, Dirigierunterricht und Kompositionswerkstatt Vorbildcharakter beanspruchen kann. Wie unter dem Mikroskop werden die subtilen Kommunikationswege, psychologischen Mechanismen und handwerklichen Prozesse sichtbar, durch die die Kenntnisse weitergegeben und zukunftsfest gemacht werden. Man wird Zeuge, wie Tradition entsteht nicht als Beschwörung der Vergangenheit, sondern als konstruktive, gegenwartsbezogene Arbeit am Überlieferten. Auf welch hohem Niveau sich das abspielt, lässt sich den Konzertmitschnitten entnehmen, die der Dokumentation beigegeben sind: Teile aus Debussys „Jeux“, die Orchesterversion von Boulez’ „Notations“ und längere Ausschnitte aus seiner ambitionierten Raumklangkomposition „Répons“. Die Resultate halten internationalen Maßstäben stand. Wegen seines messerscharfen musikalischen Verstands und seiner Effizienz als Organisator und institutioneller Strippenzieher wurde Boulez jahrzehntelang mehr gefürchtet als geliebt. Dieser Film portraitiert ihn nun im Umgang mit den Jungen und kehrt ganz andere Seiten seines Charakters hervor. Boulez diskutiert mit den Studierenden stets auf gleicher Augenhöhe und genießt die Zuneigung, die ihm aus dem Orchester entgegenschlägt. Beim Orchesterausflug per Seilbahn auf zweitausend Meter Höhe zeigt er sich im Freizeitlook mit Baseball-Cap als fröhlicher Rentner. Kaum zu glauben, dass dieselbe Person, kaum wieder unten im Tal, sich mit Feuereifer an die Einstudierung von Stockhausens „Gruppen“ macht. Das komplexe Werk für drei Orchester und drei Dirigenten wurde bei der Uraufführung vor fünf Jahrzehnten noch wie eine Erscheinung von einem anderen Stern bestaunt und galt als kaum aufführbar. Einer der drei Dirigenten war damals Boulez. Heute überlässt er den Job seinen Studenten. Sie erledigen ihn, als ob es um ein Stück von Beethoven oder Dvorak ginge. © Max Nyffeler
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