Tonträger, Kulturträger, WirtschaftgutBemerkungen zur Geschichte und Aktualität der SchallplatteAuch ein so schnellebiger Wirtschaftszweig wie die Schallplatten- und Tonträgerindustrie besitzt Symbole, die an seine Geschichte erinnern. Das bekannteste ist zweifellos der Hund, der vor dem Grammophon-Trichter der Stimme seines toten Herrn lauscht. Barry Owen, Direktor der Gramophone Company in London, machte das Bild von Francis Barrauld 1899 mit sicherem Instinkt zum Verkaufssignet seiner Firma. Was als His Master's Voice hier versinnbildlicht ist, hat auch ein Jahrhundert später seine Symbolkraft noch nicht verloren: Die Stimmen der Toten oder zumindest Abwesenden sollen aus der Konserve erklingen, als ob sie anwesend wären. Diese Scheinpräsenz ist das Kennzeichen des modernen Medienzeitalters. In den Anfängen vor rund hundert Jahren wurde sie noch durchaus als scheinbare erkannt. Auf dem Bild ist es der Trichter und nicht der Mund, aus dem die Stimme des Herrn kommt. Heute, da Konservenmusik das Leben der Menschen auf Schritt und Tritt begleitet, scheint sich die Masse der Musikkonsumenten darüber kaum mehr Gedanken zu machen. Nur wenige sind sich noch bewußt, daß das, was aus dem Lautsprecher kommt, nicht einfach "Musik" ist, sondern das Resultat komplexer technischer und ökonomischer Prozesse und damit ein hochartifizielles Produkt, das mit dem ursprünglichen Instrumentalklang und dessen Entstehungsbedingungen nicht mehr viel zu tun hat. Das Medium ist zur zweiten Natur geworden. Die Tonträger- und Wiedergabegeräte-Industrie ihrerseits setzt alles daran, die Differenz zwischen Wirklichkeit und klingendem Abbild verschwinden zu lassen. Die technischen Verbesserungen, die eine Perfektionierung des Abbilds ermöglichten, sind in immer dichteren Schüben erfolgt von der krächzenden Schellackplatte mit 78 Umdrehungen pro Minute zur Langspielplatte über Mono und Stereo, High Fidelity und Quadrophonie bis hin zur Digitalisierung als CD und neuerdings DVD mit dramatisch verbesserten Aufnahme-, Speicher- und Wiedergabemöglichkeiten. Das alles ließ den Klang immer "natürlicher" erscheinen, obwohl er paradoxerweise mit immer mehr technischem Aufwand erzeugt, immer "künstlicher" wurde. Kant oder Pawlow?Das verbreitete, oberflächliche Ineinssetzen der Wahrnehmungsebenen hat Konsequenzen für das hörende Bewußtsein. Wer die Lautsprecher-Wirklichkeit gedankenlos mit der "wirklichen" Wirklichkeit verwechselt, der wird, so ist zu vermuten, auch alles, was klingend an sein Ohr dringt, als fraglose Wahrheit akzeptieren frei nach dem Motto: "Ich hab's im Fernsehen gesehen, also muß es stimmen." Begibt sich der Mensch unter dem Ansturm der modernen Massenmedien damit zurück in die selbstverschuldete Unmündigkeit, aus der ihn noch vor gut zwei Jahrhunderten ein aufklärerischer Philosoph namens Immanuel Kant befreien wollte? Aufs Musikhören bezogen hieße die Frage: Nimmt der gutgläubige Musikkonsument alles, was ihm aus dem Lautsprecher entgegenschallt, für bare Münze? Weiß er von den manchmal hunderten von Schnitten, von den trickreichen Mikrofonaufstellungen und Abmischungen, die während einer Studioproduktion vorgenommen werden? Oder macht er sich die kühle Perfektion der CD-Aufnahme unreflektiert zum Maßstab, den er dann beim nächsten Opernbesuch an die Sänger auf der Bühne anlegt? Weiß er, warum beim großen Label plötzlich Pianist A als Star herausgebracht wird, der ebenso tüchtige Pianist B aber keine Chance hat? Vermag er die Lautsprechermusik auch als Medienprodukt und Handelsware wahrzunehmen oder verhält er sich als unbewußter Medienkonsument mit kalkulierbaren und damit beeinflußbaren Reaktionen? Im letzten Fall wäre das unschuldige Hündchen, das am Anfang der Schallplattengeschichte steht, noch auf eine ganz andere, fatale Weise symbolträchtig: als Pawlowscher Hund. Schallplattengeschichte als InterpretationsgeschichteDie Schallplatte, ein Vierteljahrhundert älter als Radio und Tonfilm, hat die Wahrnehmung von Musik revolutioniert. Und wie sie dem hörenden Bewußtsein neben Sackgassen der Bequemlichkeit und Dummheit auch viele neue, faszinierende Horizonte eröffnete, so verhalf sie auch der Interpretation von Anfang an zu ungeahnten Höhenflügen. 1887 hatte der aus Deutschland stammende Emile Berliner in den USA sein Patent auf scheibenförmige Tonträger und ein Wiedergabegerät namens "Grammophon" angemeldet; zurück in Europa gründete er 1898 in London die Gramophone Company (die mit dem Hündchen) und in seiner Geburtsstadt Hannover die Deutsche Grammophon Gesellschaft, die erste europäische Schallplattenfabrik (sie wurde 1941 "arisiert" und ging in den Besitz von Siemens über). Innerhalb weniger Jahre wurde das neue Medium zum Massenprodukt. Im Unterhaltungssektor boomte die Tanzmusik und in der Klassik gab es den ersten Schallplattenmillionär: Enrico Caruso. Zwischen 1902 und 1921 machte er 234 Aufnahmen und verdiente daran rund zwei Millionen Dollar. Mit dem Massenprodukt Schallplatte setzten sich auch seine sängerischen Standards weltweit durch, andere Tenöre mußten sich an seinen Interpretationen messen lassen. Und umgekehrt verhalf Caruso mit seiner ungeheuren Popularität dem noch jungen Medium Schallplatte zum Durchbruch beim Klassikpublikum eine Wechselwirkung, die seither immer wieder angestrebt, aber vermutlich nie wieder erreicht wurde. Auch nicht mit dem sensationellen Erfolg der "Drei Tenöre" in den achtziger und neunziger Jahren; sie verhalfen ihren Firmen in der sich abzeichnenden Dauerkrise der Plattenindustrie bestenfalls zu einem trügerischen Zwischenhoch. In den 20er und 30er Jahren setzte sich in der E-Musik dann ein anderer an die Spitze der Schallplattenkünstler: Der Dirigent Leopold Stokowski. Mit dem Philadelphia Orchestra, das er von 1912 bis 1941 leitete, nahm er unzählige konzertante Werke auf und machte das Orchester zu einem führenden (vor Toscaninis legendären Aufnahmen mit dem NBC-Orchester). Stokowski war auch ein Pionier der Stereotechnik. Da die damalige Schallplatte nicht stereotauglich und das Tonband noch nicht erfunden war, nahm er Musik als Lichtspur auf Filmrollen auf, die er dann wiederum abspielte und dabei auf zwei Kanälen abmischte. Dies führte er 1933 in einem Experiment der Bell Telephone Company auch dem staunenden Publikum vor: Aus Philadelphia wurde über die Telefonleitung Musik in einen Konzertsaal nach Washington übertragen, wo Stokowski an einer Apparatur saß und die ankommenden Signale über die auf der Bühne verteilten Lautsprecher live zum Stereoklang aussteuerte. In der hundertjährigen Geschichte der Schallplatte gibt es herausragende Beispiele der produktiven Wechselwirkung zwischen Künstler und Medium. Ein signifikanter Fall war der Pianist Glenn Gould, der sich 1964, mit zweiunddreißig Jahren, aus dem Konzertleben vollständig zurückzog und fortan nur noch Studioproduktionen machte. Seine ganz auf das Medium zugeschnittene Aufführungspraxis ist in ihrer Konsequenz bis heute einzigartig musikalische Interpretation und die Kontrolle der aufnahmetechnischen Mittel verschmolzen bei ihm zu einer Einheit. Eine andere Art von Wechselwirkung zwischen musikalischem Inhalt und technischem Medium erreichte Leonard Bernstein, als er zum 100. Geburtstag von Gustav Mahler 1960 die Gesamteinspielung von dessen Sinfonien in Angriff nahm. Die alle Möglichkeiten der Stereotechnik nutzenden Aufnahmen vermochten die komplexen Orchesterpartituren Mahlers erstmals adäquat auf Tonträger abzubilden; erreicht wurde dies u.a. durch räumliche Tiefenstaffelung und hohe Trennschärfe der Klangfarben. Das war der Beginn des weltweiten Mahler-Revivals, das sich zu einem guten Teil auf Tonträgern abspielte. Die Schallplatte hat somit die Rezeptionsgeschichte Mahlers wesentlich beeinflußt. An solchen Beispielen zeigt sich der janusköpfige Charakter des Gegenstands Schallplatte bzw. CD: ihre Stellung zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Musik und Markt. Mit ihr lassen sich einerseits Meisterwerke der Musikkultur speichern und einer unbeschränkten Zahl von Menschen zu Gehör bringen. Andererseits ist sie eine Ware, der zusätzlich zu den Klängen vielfältige wirtschaftliche Interessen in Form von Rechten unsichtbar eingebrannt sind: Urheberrechte (wahrgenommen durch die nationalen Urheberrechtsgesellschaften), Verlagsrechte, Interpretenrechte, institutionelle Rechte (Rechte auf Marken wie Scala oder Wiener Musikverein) usw. Alle diese Rechte müssen neben den Herstellungs-, Vertriebs- und Werbekosten, der Händlermarge usw. durch den Verkaufspreis der fertigen CD abgegolten werden. Die Preiskalkulation ist denn auch entsprechend knapp, der Kampf um den Endkunden hart. Rechtsansprüche liegen aber auch auf der leeren CD-R, die man im Laden erwirbt. In ihrem Preis enthalten ist die sogenannte Rohlingsabgabe, die beim Verkauf von bespielbaren Tonträgern für die durch Kopien tangierten Urheberrechte pauschal erhoben wird. Die Vergütung beträgt in Deutschland zur Zeit bei DVDs 0,087, bei CDs 0,072 Euro pro Spielstunde. Bei 182 Millionen verkaufter CD-Rohlinge im Jahr 2001 kommt da schon einiges zusammen. (1) U-Musik: Technischer Fortschritt als Totengräber?Mit zunehmender technischer Perfektionierung, Repertoirebildung und Marktdurchdringung scheint das Medium Schallplatte zu Beginn des neuen Jahrhunderts den Höhepunkt seiner Entwicklung hinter sich zu haben. Im Klassiksektor sind alle wesentlichen Werke der Vergangenheit mehrfach, Standardwerke in absurder Vielzahl am Markt vorhanden. In der U-Musik, wo sich in den letzten Jahren die Piratenkopien übers Internet dank MP3-Kompressionsverfahren und neuer Breitbandübertragung im Kaninchentempo vermehrt haben, ist die Situation noch viel dramatischer. Ende 2002 sagte ein Sony-Vertreter im Branchenblatt Musikmarkt:
Noch schonungsloser hatte sich zuvor schon der Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft in seinem Jahreswirtschaftsbericht 2001 geäußert. Im Telegrammstil sind ihm die folgenden harten Fakten vorangestellt:
Gegenmaßnahmen sind im Sande verlaufen, die Wirtschaft ist in die Defensive geraten. Zu Beginn des Jahres 2003, nach mehreren kostspieligen Gerichtsverfahren, sah Cary Sherman, Präsident des Verbands der amerikanischen Musikindustrie RIAA, den Kampf gegen illegale Online-Musikangebote offenbar verloren. Es würden im Internet immer illegale Seiten zum Herunterladen von Musik existieren, sagte er im Interview mit der BBC und deutete einen Strategiewechsel an:
Um das Geschäft der legalen Anbieter für die Zukunft zu sichern, so Sherman, wolle die Industrie vielmehr das unkontrollierte Wachstum eindämmen. Die Antwort der Branche im Kampf gegen Musikpiraterie könne nur darin bestehen, den Kunden eine legale Alternative zu bieten. Die Industrie baut also auf die Bereitschaft der Kunden, für gute Angebote zu zahlen, und rechnet sich aufgrund positiver Umfrageergebnisse einige Chancen aus. Das klingt zugleich wie ein indirektes Eingeständnis, daß die Umsatzkatastrophe nicht zuletzt einer planlosen Überschwemmung des Markts mit minderwertigen Produkten zuzuschreiben ist. Somit könnte in einem "kontrollierten Wachstum" ein Terminus der Ökologie auch eine Chance für eine qualitative Verbesserung des Angebots in der U-Musik liegen. Neben den absoluten Neuigkeiten sind es vor allem die guten Titel, die sich die Fans aus dem Internet herunterkopieren; den von den Firmen teuer angebotenen Schrott lassen sie links liegen. Ein deutlicher Hinweis, daß die großen Labels mit ihrer Geringschätzung der Hörer am Markt vorbei produziert haben, daß das Publikum nicht so dumm ist, wie manche meinen. Das kurzsichtige Prinzip des "More of the same"Im Klassik-Sektor gibt es zwar nicht die massenhaften Downloads wer bietet im Internet schon Sinfonien und Klavierkonzerte an? Doch Probleme gibt es auch hier und auch hier sind sie zum Teil hausgemacht. In der CD-Ära haben die großen Labels auf ihre reichhaltigen Archivbestände zurückgegriffen, um Kosten zu sparen. Was vor dreißig, vierzig Jahren produziert wurde, hat siehe Bernsteins Mahler-Einspielungen einen hohen technischen Standard und die Interpretenrechte sind in der Regel erloschen. Neukosten entstehen nur noch durch die digitale Aufbereitung, die Booklet-Redaktion und die Fertigung des Endprodukts CD samt Verpackung. Mit dem Produktionsgrundsatz "More of the same" läßt sich gewiß eine Zeitlang ganz gut Geld verdienen. Doch zu spät haben die Firmen gemerkt, daß sie mit der digitalen Wiederveröffentlichung der immer gleichen Highlights in unterschiedlichen Interpretationen den Markt verstopfen und lahmlegen. Die Zahl der Plattenkäufer ist mehr oder weniger konstant und aufgrund der Piraterie sogar rückläufig; nur wenige unter ihnen sind so an Interpretationsvergleichen interessiert, daß sie fünf Versionen von Beethovens Neunter oder acht Aufnahmen der Winterreise zu Hause im Regal haben wollen. Dazu kommt, daß seit den 80er Jahren neue Billiglabels entstanden sind. Sie bieten dasselbe Repertoire wie die Großen an, verzichten aber auf die teuren Stars, deren Marktwert durch den Agenten in New York und die öffentlichkeitswirksamen Konzerte in Salzburg in schwindelnde Höhen getrieben wird. Diese Labels beschäftigen weniger bekannte, aber sehr respektable Interpreten, häufig aus den osteuropäischen Ländern, die sie viel geringer, oft auch zu gering bezahlen; außerdem werden die teuren Studiozeiten auf ein Minimum reduziert. Solche Faktoren ermöglichen einen Verkaufspreis, der oft weniger als die Hälfte eines gepflegten Markenprodukts ausmacht. Die aufnahmetechnische, manchmal auch die musikalische Qualität mag dafür etwas geringer sein, aber den Durchschnittskäufer und nur mit ihm ist schließlich das große Geschäft zu machen stört das nicht. Ein dümpelndes Geschäft reicht aber nicht aus, um das trotz flotter Managersprüche ächzende Räderwerk eines weltweit agierenden Multis am Laufen zu halten. Ein einträgliches Massenphänomenen wie die Drei Tenöre ist nicht ohne weiteres wiederholbar. Versuche in Richtung Crossover, die mit neuen Publikumsschichten liebäugeln, enden meistens als Rohrkrepierer, wenn nicht gerade ein Publikumsliebling wie Yo Yo Ma oder Simon Rattle daran beteiligt ist. Auch geigende Girlies, Pianistinnen mit tiefem Ausschnitt und Violinsolisten mit Punkerfrisur haben keinen Kaufrausch hervorgerufen. Zur Zeit ist vermutlich nur das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker ein garantierter Selbstläufer mit exorbitantem Verkaufspotential. Wie bei einer Olympiade wird weltweit live über Fernsehen und Radio vermarktet und so können sich alle, die daran beteiligt sind, vom Orchester und dem Dirigenten über Verlage, Rundfunk, Fernsehen bis zum CD- resp. DVD-Label, das sich an den Medienhype anschließt aus diesen anderthalb Stunden Musik ihr fettes Teil herausschneiden. Die CD-Edition des Neujahrkonzerts 2003 wurde im Eilverfahren hergestellt und schon eine Woche später ausgeliefert. Dazu wurde gemeldet:
Klassik: Technischer Fortschritt als Retter in der Not?Solche Events mögen periodisch den Horizont aufhellen. Doch nachhaltig belebende Impulse kamen in den letzten zwanzig Jahren fast nur noch von technischen Neuerungen. Anfangs der 80er Jahre trat die CD ihren Siegeszug an und das ganze Repertoire konnte im neuen technischen Format ein weiteres Mal verkauft werden. Ihre Geburtsstunde kann auf jenen Tag im Sommer des Jahres 1981 angesetzt werden, als Herbert von Karajan, einer der begnadetsten Strategen im Musikbusiness nach 1945 und fraglos auch ein bedeutender Dirigent, in einer Pressekonferenz bei den Salzburger Festspielen ein Modell der kleinen Silberscheibe vorzeigte und ultimativ verkündete: "Alles andere ist Gaslicht." Der Fortschrittsprophet sollte über seinen Tod hinaus recht behalten, aber nur bis zum Ende des Jahrhunderts. Denn nun kamen DVD und SACD und seither ist auch Karajans CD ein Gaslicht-Kandidat. Dank neuartiger Herstellungs- und Kompressionsverfahren vermag der Bildtonträger DVD ein Mehrfaches der Datenmenge einer CD zu speichern; darüber hinaus vereinigt er die Vorteile seiner Vorgängerin brillante Qualität, leichtes Handling, kleines Format mit der Mehrkanaltechnik: Statt in Stereo kann heute ein Werk in Dolby Surround (fünf Kanäle plus ein Tieftöner) gehört werden. Dazu kommen ein Bild in Digitalqualität, Untertitel in mehreren Sprachen und Zusatztracks mit Probenausschnitten oder Künstlerinterviews. Die Wachstumsprognosen sind günstig. Bei den DVD-Abspielgeräten dürfte 2002 der Durchbruch zum Massenmarkt geschafft worden sein. Gemäß den Verkaufszahlen hat die DVD das VHS-Band schon 2001 weit überflügelt und es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie auch die CD überholt. Diese Prognosen gelten auch für die reinen Hörformate DVD-Audio und die seit 2003 stark im Kommen befindliche SACD. So ist es kein Wunder, daß sich die Hoffnungen der stagnierenden Tonträgerindustrie mehr und mehr an die neuen Medien knüpfen. Bezeichnend ist die Äußerung des bereits zitierten Sony-Vertreters:
Damit ist das audiovisuelle Zeitalter auch in der Klassik endgültig angebrochen. Das bisherige Stereo-Musikhören wird verräumlicht und bei DVD-Video durch das Sehen ergänzt. Das wird, wie schon bei der ersten schwarzen Scheibe 1898, weitreichende Konsequenzen für die Musikwahrnehmung haben. Eine davon deutet sich schon darin an, daß die großen Medienkonzerne und übrigens auch die Suchmaschinen im Internet die E-Musik von ihrer Verwaltungslogik her unter "Entertainment" subsumieren: Der Trend zum oberflächlichen Hören wird verstärkt. Eine andere, optimistischer stimmende Konsequenz könnte aber auch in die entgegengesetzte Richtung, hin zu einer differenzierten Wahrnehmung gehen. Was die Stereotechnik der sechziger Jahre für Gustav Mahlers Sinfonien war, könnte die Dolby 5.1-Technik für Luigi Nonos Prometeo werden das adäquate Medium zur Darstellung komplexer räumlich-musikalischer Prozesse. Ob Nutzen oder Schaden: Das ist auch hier nicht eine Frage der Technik, sondern des Umgangs mit ihr. Medienmultis und KleinproduzentenWenn von der Schallplatten- oder Tonträgerindustrie die Rede ist, denkt man zunächst unwillkürlich an die Branchenführer. Sie haben einst als stolze Einzelfirmen begonnen und Weltgeltung erreicht: EMI und Deutsche Grammophon Gesellschaft (beide hervorgegangen aus den Gründungen von Emile Berliner), Decca, Teldec, Erato, Philips, RCA, Columbia, CBS und wie die bekannten Namen alle heißen. Von ihnen ist jedoch heute, wenn es sie überhaupt noch gibt, in der Regel nur noch die Labelbezeichnung original. Faktisch sind sie alle längst im Bauch irgendeines Medienmultis gelandet: RCA wurde von BMG (Bertelmann Music Group), CBS/Columbia von Sony geschluckt. Deutsche Grammophon, Philips und Decca sind über den kanadischen Schnapsgiganten Seagram und den US-amerikanischen Medienmulti Universal einstweilen bei Universal Music gelandet, der wiederum ein Zusammenschluß der Amerikaner mit dem französischen Wasser- und Medienkonzern Vivendi ist. Teldec und Erato wurden von der Warner Music Group gekauft, einer Tochter des Time/Warner-Konzerns, der seinerseits mit AOL eine desaströse Liaison eingegangen ist AOL-Time/Warner schrieb 2002 rund 100 Milliarden Dollar Verlust. Nur EMI, bereits einmal im Visier von Bertelsmann, ist vorläufig noch halbwegs selbständig, steht aber seit dem Börsengang von 1996 unter der Fuchtel des Shareholder Value, was sich auf die Programmpolitik negativ auswirkt und über kurz oder lang zum Verkauf führen wird. Diese gewaltigen Verschiebungen im Tonträgermarkt spiegeln die weltweite Tendenz zur Globalisierung der Medien. Die Labelvielfalt ist nur eine Vielfalt der bunten Etiketts, nicht aber der Besitzverhältnisse und Marktanteile. Als Produzenten in einem weltweiten Konzernverbund müssen sich die Verantwortlichen in den "lokalen" Niederlassungen in den einst autonomen Markenfirmen nach den Weltmärkten richten: Auf dem US-Markt sind vielleicht andere Titel und Interpreten gefragt als in Japan, in Nordeuropa andere als in Deutschland. Was produziert wird, richtet sich daher zunehmend nach den Wünschen der Marketingabteilungen in den verschiedenen Märkten. Tourneen, in denen ein Künstler das Programm seiner neuen CD spielt, besitzen in dieser Strategie eine verkaufsfördernde Funktion und sind dringend gewünscht. Was wiederum voraussetzt, daß eine Agentur den Künstler international vermarktet. Auch hier sind die weltweit wichtigen Adressen an zehn Fingern abzuzählen. Die Arbeit im Rahmen eines weltweit tätigen, Sprach- und Kulturgrenzen überschreitenden Konzerns erfordert völlig neue Methoden und Mentalitäten. In einer Großorganisation, die mit dem Funktionieren der internen Kommunikation steht und fällt, muß ein großer Teil der Energie dazu aufgewendet werden, die stets drohenden Leerläufe und die latente Zentrifugalkraft, die gerade den kulturellen Bestrebungen innewohnt, zu minimieren. Die Management-Methoden, mit denen man diesen Reibungsverlusten entgegenzuwirken versucht, sind für Außenstehende manchmal nur schwer nachvollziehbar. Reichlich skurril wirkt etwa die folgende Beschreibung, mit der eine "strategische Redefinition der traditionellen Sales Force", auf deutsch also die Neuausrichtung des Vertriebssystems, angekündigt wird:
Außerdem ist von Hit Force, Frontline, Headquarters, Overshipments und der Zurückgewinnung von Tonträger-Flächen die Rede. Soll mit diesem martialischen Gedröhn irgend jemandem Angst eingeflößt werden? Oder ist diese Sprache, die in ihrer Selbstreferentialität dem Funktionärsjargon des untergegangenen "Sozialistischen Lagers" gleicht, eventuell ein Ausdruck der eigenen Angst und Unsicherheit, ein Pfeifen im finstern Wald? Mit dem Herunterrattern solcher Floskeln wird die Tonträgerindustrie ihre Krise, die auch eine Krise der Inhalte ist, vermutlich nicht meistern können. Ganz anders sind die Probleme bei den Kleinen: Was die Großen im Überfluß besitzen Produktionsstätten, eine hinreichende Kapitaldecke, weltweite Vertriebswege fehlt ihnen fast durchweg. Sie leben von der Hand in den Mund, arbeiten nach dem Prinzip der hochmotivierten Selbstausbeutung und sind latent von Liquiditätsmangel bedroht. Am Markt können sie sich vor allem dadurch behaupten, daß sie das Randrepertoire pflegen und mit jungen, noch nicht allzu teuren Künstlern arbeiten. Sie nehmen das Risiko des noch nicht Marktgängigen bewußt in Kauf und spekulieren meist erfolgreich mit der Entdeckerfreude ihres Publikums. Eine Reihe von Kleinlabels wie col legno, HatHut, Kairos oder Naïve/Montaigne haben sich wiederum ganz gezielt auf Neue Musik spezialisiert. Seit kurzem gehört auch das vom Komponisten Bernfried Pröve geleitete Label EZ ("Edition Zeitklang") zu dieser Schar unverwüstlicher Pioniere. Was diese Labels herausbringen, ist oft viel interessanter und wagemutiger als die Produktionen der großen Firmen, die auch auf diesem Feld meist nur die marktgängigen Namen anbieten. Zwischen den Großen und den Nischenproduzenten gibt es die mittleren Labels wie Wergo, Musikszene Schweiz, ECM oder Harmonia Mundi France. Wergo gehört zum Musikunternehmen des Schott-Verlags und kann von manchen Synergieeffekten profitieren. Musikszene Schweiz versteht sich als Förderinstitution für junge Komponisten und Musiker und wird im wesentlichen von einer Arbeitsgemeinschaft unter Führung des Lebensmittelkonzerns Migros alimentiert. ECM wiederum, aus einer Einzelinitiative entstanden und damit ein echter Independent, hat sich durch die Zusammenarbeit mit Musikern aus dem Jazz- und Crossover-Bereich, die zu Trendsettern avancierten, eine solide Finanzbasis für manche extravaganten Projekte im Bereich der neuen Musik schaffen können. Harmonia Mundi schließlich kann sich nicht nur auf seine exquisite Programmpolitik im Bereich der alten Musik abstützen, sondern besitzt auch ein gut funktionierendes Vertriebsnetz, dem sich viele andere Labels angeschlossen haben. Die Untergangsstimmung, von der die um ihre Spitzensaläre bangenden Managerfunktionäre in den Chefetagen der Konzerne gepackt sind, findet bei diesen Labels keinen Nährboden. © 2004 Max Nyffeler Anmerkungen1. Vgl. Jahreswirtschaftsbericht 2001 des Bundesverbands der Phonographischen Wirtschaft. Der Artikel ist eine umgearbeitete Fassung eines Beitrags aus Petra Schneidewind/Martin Tröndle (Hrsg.): Selbstmanagement im Musikbetrieb. Handbuch für Musikschaffende, Bielefeld 2003. zurück zu CD-Rezensionen, Labelportraits |