Was ist eigentlich "arabische Musik"?Die Erstlings-CD des Jordaniers Saed HaddadDa gemäß höchstinstanzlicher Verlautbarung der Islam neuerdings zu Deutschland gehört, ist es nun dringend an der Zeit, nach dem Stand der Dinge auch auf musikalischem Gebiet zu fragen. Existiert eigentlich eine islamische Musik jenseits der traditionellen Gesänge? Kann sich im arabischen Raum eine neue Musik entwickeln? Welche Berührungspunkte zwischen europäischen und orientalischen Musikkulturen gibt es? Wie weit ist die Integration gediehen? Wo sind die Özils der Neuen Musik zu finden? Bei der Suche nach Antworten gilt es zu differenzieren. Die gewohnt schrillen, ganz auf Europakompatibilität angelegten Beiträge der Türkei zum Eurovision Song Contest sollen hier einmal beiseite gelassen werden, und wir bleiben im Bereich der sogenannten Klassik. Hier gibt es zum Beispiel Interpreten, die seit Jahren, völlig unbeachtet von den blubbernden Integrationsdebatten, ganz selbstverständlich ihrer Arbeit nachgehen und Aufsehen nur durch ihre künstlerischen Leistungen erregen. Etwa die türkische Pianistin Idil Biret, Schülerin von Nadia Boulanger und Alfred Cortot: Sie erhielt nicht nur einen Schallplattenpreis für ihre Chopin-Gesamtaufnahme, sondern wurde für ihre Einspielung der Klaviersonaten von Pierre Boulez auch mit dem französischen Diapason d’or ausgezeichnet und spielt die Etüden von Ligeti. Oder ihr jüngerer Kollege Fazil Say, der vor einem Jahrzehnt mit einer spektakulären Klavierversion von Strawinskys „Sacre“ auf die internationale Bühne trat und seither zwischen Mozart, Ethno-Jazz und Eigenkompositionen erfolgreich sein Feld bestellt. Auf europäischer Seite strecken die zeitgenössischen Komposition schon seit vielen Jahren die Fühler nach Osten aus. Als kompositorischer Urknall kann hier die in den siebziger Jahren entstandene Komposition „Çogluotobüsisletmesi“ des damals in Köln lebenden Inders Klarenz Barlow angesehen werden, ein mittels Synthesizer konstruiertes, hypervirtuoses Klavierstück über einen Song, den der Komponist auf einer Autobusfahrt durch Anatolien im Bordlautsprecher gehört hatte. Barlows getürkter Türkenpop war Artistik auf höchstem Abstraktionsniveau. Ganz anders gehen heute Komponisten wie Klaus Huber oder Klaus-Hinrich Stahmer vor, die sich seit den neunziger Jahren mit arabischen Musiktraditionen befassen. Sie verbinden ihre europäischen Kompositionstechniken mit den Gesetzmäßigkeiten der arabischen Modi, der Maqamat, was die Struktur und sinnliche Erscheinung der Musik entscheidend verändert. In der Gegenrichtung war bisher weitgehend Fehlanzeige. Ernstzunehmende Komponisten mit arabisch-islamischem Hintergrund gibt es kaum, was vermutlich auch mit der unzulänglichen Musikausbildung in diesen Ländern zusammenhängt. In Europa sind sie bisher an einer Hand abzuzählen. Zu ihnen gehört etwa der Ägypter Amr Okba, der über ein Austauschprogramm erst nach Italien und dann nach Österreich gekommen ist, oder der in Berlin lebende Palästinenser Samir Odeh-Tamimi. Aber bei ihm wird es schon kompliziert: Er ist in Tel Aviv geboren und israelischer Staatbürger, und rechnet man noch seine Ausbildung in Bremen dazu, dann ist er als Künstlerpersönlichkeit weit entfernt von einer wie auch immer gearteten autochthonen Kulturtradition. Noch verwirrender ist es mit einem Komponisten bestellt, der seit einiger Zeit bei westeuropäischen Festivals durch den unverwechselbaren Ton seiner Werke auf sich aufmerksam macht und mit seiner ersten CD-Veröffentlichung nun auf die Bestenliste der deutschen Schallplattenkritik gekommen ist: Saed Haddad. Geboren 1972 in Jordanien, studierte er Philosophie und Musik in Jordanien, Israel und England und doktorierte im Fach Komposition bei George Benjamin in London. Heute lebt er in Deutschland. Dass er Christ und nicht Muslim ist, hindert ihn nicht daran, die arabische Musiktradition, über die er ausgezeichnete Kenntnisse verfügt, gegen ihre schwärmerischen Verehrer in Europa zu verteidigen; ihrem kompositorischen Sympathisantentum wirft er Verfälschung vor und vermutet dahinter die alten kulturimperialistischen Gelüste. Von aggressiver Energie ist auch seine Musik nicht frei, doch gereicht ihr das zum Vorteil. Die Gegensätze prallen mitunter frontal aufeinander, es gibt hochdramatische Momente und dann wieder scheinbar ziellose Verläufe mit frei ausschwingenden Linien, die sich aber plötzlich konflikthaft verknäueln. Und dann bricht alles katastrophisch zusammen. Haddad tut dem Hörer nie Gewalt an. Die Energieschübe treiben die Musik voran und bringen ihre erzählerischen Qualitäten zur Entfaltung. Dass sie voller Botschaften steckt, verraten Titel wie „On Love“, „Les deux visages de l’orient“ oder „The Sublime“, auch die schnell wechselnden emotionalen Perspektiven. Erzählend wirkt die Musik aber vor allem mit ihrem fein verästelten, ausdrucksgeladenen Liniengeflecht, das vom Ensemble Modern in allen Schattierungen mit bewundernswerter Einfühlung nachgezeichnet wird. Die ornamentale Melodik ist, neben der vereinzelten Verwendung der arabischen Zither Qanun, das für unsere Ohren vielleicht „orientalischste“ Element in diesen Aufnahmen, doch es ist stets kunstvoll in den Gesamtkontext integriert. Haddads Musik braucht keine „Integrationshilfe“. Sie ist bereits angekommen, weil sie ihre eigenen Wege geht. © 11/2010 Max Nyffeler. Dieser Text ist eine erweiterte Version der Rezension, die am 27.11.2010 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist. Saed Haddad: Werke. Ensemble Modern, Martyn Brabbins, Franck Ollu (Leitung). Wergo 6578 2 (1 CD) zurück zu CD-Rezensionen, Labelportraits |
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