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Die Beredtheit des Unaussprechlichen
Kammermusikwerke von Chaya Czernowin
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Schönheit entstünde für sie dann, wenn man in die innere Dunkelheit blicken könne, sagte Chaya Czernowin im Zusammenhang mit ihrem Musiktheaterstück "Pnima... ins Innere", das bei der Münchener Biennale im Mai dieses Jahres mit nachhaltigem Erfolg uraufgeführt wurde. Es sei eine sehr harte Schönheit, denn sie habe nichts mit Sicherheit und Geborgenheit, sondern mit der Intensität des bewegten Lebens zu tun, die nicht immer leicht zu ertragen sei. Die 1957 in Israel geborene Komponistin, die an der Universität in San Diego unterrichtet, gehört einer Generation an, die das Trauma des Holocaust nur vom Hörensagen kennt - oder vielmehr vom Verschweigen. Denn es ist aus der täglichen Erfahrung bekannt und wird durch psychologische Studien bestätigt, dass sich die meisten Überlebenden der schrecklichen Vergangenheit nur durch Verdrängung erwehren können; die ungeschützte Erinnerung, der Blick in die Dunkelheit, überfordert ihre Kraft. Dies ist genau das Thema von Chaya Czernowins Dreiakter, der auf der Erzählung "Stichwort: Liebe" von David Grossman basiert: Ein in seinen Erinnerungen gefangener alter Mann wird von einem Kind ganz behutsam zum Reden gebracht, die Last der Erinnerung wird an die nächste Generation weitergegeben und damit vielleicht etwas erträglicher.
Wer die vom Regisseur Klaus Guth mit großer Einfühlung gestaltete Produktion in München gesehen und die szenische Kraft erfahren hat, die in der ganz und gar nicht "opernhaften" Musik von Chaya Czernowin liegt, hört ihre konzertanten Werke mit andern Ohren. Die fünf Kammermusikstücke, die die amerikanische Kleinfirma Mode Records rechtzeitig zur Biennale auf einer Portrait-CD herausbrachte, klingen danach wie Reflexionen zur Thematik des Bühnenwerks, auch wenn sie in ganz anderem Zusammenhang entstanden und völlig eigenständig sind. Auch in ihnen scheint das Unsagbare, an das die Komponistin mit ihrem Musiktheater zu rühren versuchte, unterschwellig mitzuschwingen. Das drückt sich vor allem in ihrem Tonfall aus. Es ist eine enorm sprachkräftige Musik, die mit rein instrumentalen Mitteln die extremen Ausdruckslagen der menschlichen Stimme erkundet, vom Stammeln bis zum Geschrei und Geheul. Eine solche eruptive Kraft, die tief aus dem Körperinnern zu kommen scheint, kennt man vielleicht noch aus der Zeit der protestierenden Avantgarde, von Hespos, dem jungen Rihm, aus den "Maulwerken" von Dieter Schnebel oder Kagels "Halleluja"; doch vor dem erwähnten Erfahrungshintergrund bekommt das eine neue Qualität. Schnebel gehört zu den nicht weniger als sieben Komponisten, die Chaya Czernowin als ihre Lehrer bezeichnet. Seiner tiefenpsychologisch verankerten Konzeption von musikalischem Ausdruck steht sie zweifellos näher als dem Konstruktivismus eines Ferneyhough, bei dem sie ebenfalls studierte.
Die Sprachähnlichkeit dieser Musik beruht einerseits auf der Behandlung der Instrumente, die nicht dem "schönen Ton" verpflichtet sind, sondern großenteils rauhe, geräuschhaft denaturierte, hart angerissene und durch Mikroglissandi expressiv verbogene Klänge produzieren. Andererseits auf der Art des musikalischen Satzes: Dominierend ist die vielfältig aufgespaltene Einstimmigkeit, oder umgekehrt, die Bündelung vielstimmiger Verläufe zu einem einzigen, in sich stark aufgefaserten Klangstrom. Das ist mehr heterophon als polyphon gedacht; Polyphonie setzt ja gewisse objektivierbare Gesetzmäßigkeiten voraus, die den Zusammenklang betreffen, während es sich hier vielmehr um wuchernde Klangprozesse handelt, die unvorhersehbar und oft schockhaft verlaufen. In der Ensemblekomposition "Afatsim" ist das bildhaft umgesetzt. Das Titelwort bedeutet "Gallen", die Gewebewucherungen an Pflanzen, die den normalen Wuchs verformen und entstellen. Die neun Instrumente sind zu vier Gruppen gebündelt, die als mehrstimmiges Quartett einen erregten Diskurs führen, der teilweise bizarre Formen annimmt.
Das mehrstimmig aufgespaltene Ich in der Musik von Chaya Czernowin ist mehr als ein Strukturprinzip. Es besitzt archetypische Qualität. In ihrem Bühnenwerk ordnet sie den beiden stumm agierenden Bühnenfiguren je zwei textlose Singstimmen zu, die bei den Instrumenten platziert sind. So erhält das sprechende Subjekt eine komplexe Identität; es changiert zwischen Individuum und Kollektiv, seine Rede setzt sich fort bis in die feinsten Verästelungen des Instrumentalklangs. Im Instrumentaltrio "Die Kreuzung", angeregt von einer Erzählung Kafkas über ein Mischwesen zwischen Katze und Lamm, wird diese Aufspaltung noch weiter getrieben durch ein undurchschaubares Netz formaler Beziehungen. Dass drei von Charakter und Herkunft extrem unterschiedliche Instrumente wie Altsaxophon, Kontrabass und die japanische Shô hier von der Komponistin wiederum als "zusammengesetztes Instrument" behandelt werden, ist charakteristisch für ihre Musik, die als Ausdruck einer innerlich hochgespannten, disparaten und in jedem Moment gefährdeten Identität verstanden werden kann.
In dieser diskursiven Konzeption von Musik ist die klanglich und rhythmisch durchgeformte Linearität wichtiger als die Harmonik. Diese wirkt denn auch meist wie ein zufälliges Resultat des linearen Geschehens und hat wenig formbildende Kraft. Eine hörbare Ausnahme bildet das Streichsextett "Dam Sheon Hachol" aus dem Jahr 1992, das früheste der auf der CD enthaltenen Werke. In dem 1995 für die Ardittis geschriebenen Streichquartett entsteht aus zusammengesetzten Gesten der vier Musiker eine brüchige Grossform. Auch hier wieder ein Labyrinth von Klängen und Gesten, die einer geheimnisvollen Rede gleichen und die Musik dieser Komponistin zu einem Hörabenteuer werden lassen.
© 2000 Max Nyffeler
Chaya Czernowin: Afatsim; Streichquartett; Die Kreuzung; Dam Sheon Hachol (Streichsextett); Ina. Diverse Interpreten. Mode Records, mode 77
(7.11.2000)
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Dossier Chaya Czernowin

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