Natürlich, das Mittelalter

Zur Medienkarriere einer kulturellen Epoche
Von Max Nyffeler (*)

"Es hat eben jeder seine eigene (meist verdorbene) Idee vom Mittelalter."
Umberto Eco(1)

"Die Zeit steht still im Kreuzgang des Monasterio de Santo Domingo de Silos. Die warme Sonne umarmt einen, wenn man aus dem kühlen Schatten heraustritt. Ländlicher Friede scheint hier destilliert. Die Echos, die in den steinernen Bögen seit Jahrhunderten widerhallen, sind einfache, doch tiefe Zeichen von Arbeit und Natur. - Und dann hört man das Singen. Das sanfte, doch unerbittliche Auf und Ab der Stimmen der Mönche, wenn sie Puer natus est nobis singen. Die andachtsvolle Erhebung, aus der das Spiritus Domini emporsteigt. Die schlichte Freude des Alleluja, beatus vir, eine stille Verzückung, die Teil der Luft, die man atmet, geworden zu sein scheint." (2)

Ja, genau so müßte es sein. Reines Dasein, ganz nah an den einfachen und doch so essentiellen Dingen. Wo man spürt, wie das Leben vibriert. Sonne, Arbeit, Natur und eine Musik, die das Ganze in einen Abglanz des Ewigen taucht. Doch so schnell sind wir nicht im Paradies. Der Ort des Geschehens ist ein Schauplatz virtueller Art: Eine Compact Disc des Labels "Angel" mit Gesängen der Mönche aus der Benediktinerabtei von Santo Domingo de Silos in Nordspanien. Der hier zitierte Begleittext schildert das Umfeld dieser Musik in der Art eines Reiseprospekts - so, wie es sich der Leser erträumt.

Die Aufnahmen der Mönche verkauften sich in den neunziger Jahren glänzend. Sie wurden unversehens zu Plattenstars und erreichten ein Publikum, dem solche Musik, wenn überhaupt, bis anhin meist nur als etwas exotisch Fernes an die Ohren gedrungen war. Mittelalter war musikalisch "in", und zwar in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen: Vom mittelhochdeutschen Minnelied mit Krummhorn und Drehleier bis zu den Meditationsformeln von Arvo Pärts "Tintinnabuli-Stil", von den Spukvisionen des Gothic Rock bis zu Carl Orffs krachledernen Carmina Burana, die digital aufbereitet durch die Diskotheken und als Piratenkopien durchs Internet geisterten. Der 900. Geburtstag der Hildegard von Bingen im Jahr 1998 und die damit verbundene weltweite Hildegard-Renaissance bildeten schließlich die Krönung dieser Nostalgiewelle, die mit der historischen Epoche nicht mehr zu tun hatte als Hollywoods Ben Hur mit dem alten Rom. Das "Mittelalter" wurde zum Medienereignis, die Schallplattenbranche beförderte die entsprechenden Produkte zu Spitzenreitern der Sparte Crossover.

Das Mittelalter der Konzerne: Die emotionale Kuschelecke

Die Karriere eines solchen Phänomens wäre ohne entsprechendes Zeitgeistklima kaum denkbar gewesen. Bei der zunehmenden gesellschaftlichen Kälte und Entfremdung der neunziger Jahre stieg das Bedürfnis nach einer Musik, die so etwas wie Geborgenheit in einer kollektiver Vergangenheit vermitteln sollte. Meditationsklänge und Mittelalter-Sound dienten als Religionsersatz, Überlebenshilfe und emotionale Kuschelecke in einer unwirtlichen, digitalisierten Welt von Arbeitsstress und Profit. Am besten auf den Punkt gebracht wurden diese Bedürfnisse einmal mehr von denen, die sie bedienen. Der Werbezettel einer CD aus dem Hause BMG, Konzerntochter des Medienmultis Bertelsmann, versprach:

"Dieser Sampler stellt mit seiner trendigen Crossover Musik eine gelungene Verbindung zwischen Rock, Klassik, religiöser und ethnischer Musik dar - mehr als nur einfach New Age... Die ausgewählten Lieder, Choräle und Hymnen stimmen auf diese Welt und ihre Geschöpfe ein, geben Mut für die Zukunft und sind perfekt zum Relaxen und Träumen. Der Reigen spannt sich von Vangelis, Clannad, Ravi Shankar und Anne Dudley über Hildegard von Bingen und die Monjes del Monasterio Benedictino de Santo Domingo de Silos bis hin zu Carl Orff und Oliver (sic!) Messiaen - eine wahrhaft auserlesene BMG-Kopplung." (3)

Dass die Kultur einer weit zurückliegenden Epoche, die noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als "dunkel" bezeichnet wurde, plötzlich eine solche Aufwertung erfahren hat, hängt - abgesehen vom Zeitgeist - zweifellos auch mit der Veränderung des allgemeinen historischen Bewusstseins zusammen. Die Massenmedien sorgen dafür, dass alles, auch die zeitlich und räumlich entfernteste Erscheinung, in greifbare Nähe rückt und jederzeit abrufbar ist. Das Erbe früherer Epochen kann damit tendenziell aus seinen Traditionszusammenhängen gelöst und unmittelbar auf das Jetzt bezogen werden. Dem durchschnittlichen Mediennutzer erscheint damit auch eine so unendlich differenzierte Kultur wie die des gregorianischen Chorals nur noch als ein musikalischer Stil unter vielen, abrufbar als Sample aus dem großen Soundkatalog des weltweiten massenmedialen Angebots.

Kleine Rezeptionsgeschichte: Vom Schwellklang zur Strukturanalyse

Der musikalische Mittelalter-Boom setzte vor rund zwei Jahrzehnten ein, doch hat er eine lange Vorgeschichte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts enstanden erste Transkriptionen von Handschriften aus dem 13. bis 15. Jahrhundert. Das schuf die Basis für die moderne Mittelalter-Rezeption, die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts einsetzte. 1919 wurde Hildegard von Bingen erstmals zum Gegenstand einer Promotion an der Universität in Freiburg/Schweiz; der polnische Musikforscher Ludwik Bronarski erlangte damit seinen Doktortitel. Neoklassizismus, neue Sachlichkeit und Dodekaphonie, die in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg die moderne Ästhetik prägten, fanden in der strengen Linearität und der modalen Harmonik der mittelalterlichen Musik verwandte Züge. Trotzdem waren die konzertanten Aufführungen jener Zeit noch stark in der spätromantischen Ästhetik verwurzelt. Der Musikwissenschaftler Rudolf von Ficker, der Ende der zwanziger Jahre in Wien Aufführungen von "Musik der Gotik" leitete, veröffentlichte 1930 eine Bearbeitung von Perotins Organum Sederunt principes. Eine Aufnahme des Bayerischen Rundfunks von 1957 mit einem gemischten Chor und Sinfonieorchester unter der Leitung von Eugen Jochum gibt Auskunft über ihre Beschaffenheit. Zu den auffälligsten Merkmalen gehören romantische Schwelldynamik, eine durch Terzen angereicherte Stimmführung und ein Mysterioso-Klang wie in einer Brucknermesse.

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte der Umschlag ins Gegenteil. Die seriellen Komponisten beschäftigten sich mit der Isorhythmie des 14. Jahrhunderts, in der von Pierre Boulez geleiteten Pariser Konzertreihe Domaine Musical wurde Machauts Messe aufgeführt. (4)In der Reihe "Archiv Produktion" der DGG dominierte eine trockene wissenschaftliche Darstellung in Klang und Wort. Doch legte sie den Grundstein für die nachfolgenden Platteneditionen, die von den siebziger Jahren an in immer dichterer Folge erschienen und bei EMI in der attraktiv aufgemachten Serie "Reflexe" erstmals eine gewisse Breitenwirkung erzielten.

Das Mittelalter im Kopf: Le Goff und Eco

Zur unaufhaltsamen Popularisierung trugen Ereignisse in der oberen Kultursphäre ungewollt bei. 1977 veröffentlichte der französische Historiker Jacques Le Goff sein einflussreiches Buch Pour un autre Moyen Age. (5)Der Autor plädiert darin für eine Geschichtswissenschaft, die sich, im Sinn einer historischen Anthropologie, auch um die Geschichte der sogenannten kleinen Leute, um den gelebten Alltag und um die kulturellen Zusammenhänge kümmern solle. Die Aufsatzsammlung entwirft ein neues, farbigeres Bild der Epoche. Le Goff denkt in großen epochalen Zusammenhängen, unter "Mittelalter" versteht er etwas viel Umfassenderes als gemeinhin üblich:

"Es ist ein langes Mittelalter, (...) dessen einzelne Aspekte sich zu den Strukturen eines Systems zusammenfügen, das im Wesentlichen von der römischen Spätantike bis zur Industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts seine Funktion erfüllt. Es ist ein tiefgründiges Mittelalter, das sich mit Hilfe ethnologischer Methoden in seinen alltäglichen Gewohnheiten, seinen Glaubensvorstellungen, seinen Verhaltensformen und seinen Mentalitäten fassen lässt. Es ist die Periode, die uns am besten unsere Wurzeln und unsere Entwurzelung, unsere verschreckte Modernität und unser Bedürfnis fassen läßt, die Veränderungen zu verstehen, diesen Wandel, der der Geschichte eigentümlich ist, als Wissenschaft und als gelebte Erfahrung. Es ist die Distanz, die in der Erinnerung Gestalt annimmt: die Zeit der Großeltern."(6)

Noch ein anderer Impuls, der in seiner Breitenwirkung nicht unterschätzt werden darf, lenkte etwas später die Aufmerksamkeit auf die mittelalterliche Kultur: Das Erscheinen von Umberto Ecos Roman Der Name der Rose im Jahr 1980. (7) Eco ist ein profunder Kenner der mittelalterlichen Geschichte und Kultur. Er sagte über sich selbst:

"Die Gegenwart kenne ich nur aus dem Fernsehen, über das Mittelalter habe ich Kenntnisse aus erster Hand." (8)

Ecos Roman, ein weltweiter Bestseller, verbindet exakte historische Kenntnisse mit literarischer Fiktion zu einer raffiniert gebauten mittelalterlichen Kloster-Story mit Sex, Crime and Prayer. Die klösterliche Kultur lateinisch sprechender Mönche wird gleichsam in den heutigen Alltag projiziert. Im Sinn einer postmodernen Ironie wird zeitliche Distanz zugleich aufgehoben und beibehalten. Das raffinierte Spiel mit den verschiedenen Realitäts- und Zeitebenen ist für Eco nicht nur eine Angelegenheit der Literatur, sondern auch Teil des Alltags, dessen Komplexität er mit der Leidenschaft des engagierten Forschers untersucht:

"So ist das Mittelalter zwar nicht mein Beruf, wohl aber mein Hobby geblieben - und meine stete Versuchung, denn ich sehe es überall durchscheinen in den Dingen, mit denen ich mich beschäftige, die nicht mittelalterlich erscheinen und es dennoch sind... Heimliche Ferien unter den Säulen und Rundbögen von Autun, wo heute der Abt Grivot Manuale über den Teufel schreibt mit schwefelgetränktem Einband, sommerliche Ekstasen vor den Portalen von Conques und Moissac, betört von den vierundzwanzig Greisen der Apokalypse oder von Teufeln, welche die armen verdammten Seelen in kochende Kessel pferchen; zugleich Regenerationen des Geistes durch Lektüre des Aufklärer-Mönchs Beda, Tröstungen der Vernunft durch das Studium Ockhams, um die Geheimnisse der Zeichen auch dort zu verstehen, wo Saussure noch dunkel geblieben ist."(9)

Spezialensembles: Im Dämmerlicht der Interpretation

Bereits einige Jahre vor den Büchern von Le Goff und Eco erschien in der Reihe "Reflexe" bei EMI mit Produktionsdatum 1973 eine Langspielplatte, die der jahrhundertealten Legenden- und Liedkultur des Pilgerwegs nach Santiago de Compostela in Nordspanien gewidmet war.(10) Thomas Binkley hatte einige dieser Cantigas aus der Handschrift Königs Alfons des Weisen aus dem 13. Jahrhundert transkribiert und arrangiert. Er gehörte zu einer neuen Generation von Musikern und Musikwissenschaftlern, die sich an Instituten wie der Schola Cantorum in Basel oder in entsprechenden Einrichtungen in England der Erforschung und Aufführungspraxis mittelalterlicher Musik widmeten. Aber auch hier schon zeigt sich die Crux jeder Art von Mittelalter-Revival: Authentizität, so viel sie auch beschworen wird, gibt es nicht. Es gibt nur Annäherungen an die wenig eindeutigen Quellen. Auf Schritt und Tritt sind deshalb interpretatorische Entscheidungen gefordert, und diese münden schnell einmal in den nachschöpferisches Ehrgeiz, das sogenannte Original für die modernen Hörgewohnheiten aufzupolieren. Die Plattform gesicherter handschriftlicher Überlieferung ist schmal, das Feld der interpretatorischen Möglichkeiten weit - frei nach Umberto Ecos Bonmot, daß jeder seine eigene (meist verdorbene) Idee vom Mittelalter habe.

Interpreten wie Thomas Binkley, Barbara Thornton, David Munrow und andere Pioniere der sechziger bis achtziger Jahre erarbeiteten ihre Interpretationen immerhin auf der Basis hoher wissenschaftlicher Standards. Eine Vokalgruppe wie das Hilliard Ensemble hat deren Ansprüche verbunden mit einer verfeinerten Gesangskultur, die in ihrer schlackenlosen Glätte nicht selten manieriert wirkt. Die Hilliards sind heute wohl das bekannteste Spezialensemble für Alte Musik. Sie markieren auch insofern einen äußersten Punkt, als sie ihren unverwechselbaren Sound inzwischen auch für zeitgenössische Trends nutzbar machen und mit Aufnahmen von Komponisten wie Pärt, Tavener oder Bryars sowie mit dem Saxopohonisten Jan Garbarek eine Brücke zum Crossover schlagen.

Trivialmythen: Ein irgendwie alter Sound

Die zahllosen Nachfolgeprodukte an oder jenseits der Grenze zur Trivialkultur stützen sich teilweise auf die Erfahrungen der altgedienten Spezialisten, überlassen sich aber meist bereitwillig der Kunst des modernen Arrangements zwischen Fidel und Soundprozessor, Drehleier und polyphonem Vokalsatz. Ob nun die Frauenband Kick la Luna ihre Hildegard-Gesänge unter dem Titel All my life mit kommerzieller Latin-Begleitung untermalt(11), ob die Gruppe Estampie die Soli ihrer Leadsängerin als Stilimitationen zwischen Arabisch, Orff und altertümelndem Volkslied verpackt(12), ob John Cameron in seiner Missa celtica mit Chorsätzen, Harfenklängen, Dudelsack und dem English Chamber Orchestra alte keltische Kulturen modernistisch einzukleiden versucht (13): Irgendwie alt klingt alles. Doch die Ambition, eine wie auch immer geartete "Authentizität" vorzugaukeln, ist längst der Versuchung gewichen, sich einem verkaufsträchtigen Sound anzuhängen.

Am weitesten von allen historischen Vorbildern entfernt hat sich die Richtung des Gothic Rock, einem Trend der Neunziger, wo "Mittelalter" nur noch die Folie für computergenerierte Trivialmythen abgibt. Hier kommt schon wieder eine Originalität zweiten Grades zustande. Diese Gruppen praktizieren musikalisch, was die Fantasy-Kultur der Computerspiele in Bild und Aktion vormacht: Schauerromantik unter dem Motto Gruften, Gräber und Gebeine, wo der Zombie an die Grabwand hämmert und mit digitalem Glockengeläut, sausenden Winden und enorm viel Hall eine Szenerie aus Vollmond, zerfallenen Gewölben und leichenblassen Schattengestalten evoziert wird. Ohne hineinmontierte gregorianische Melodien geht es dabei selbstverständlich nicht.

Lebenshilfe als Gewerbe: Heilerin Hildegard

Ein ganz besonderes Kapitel der Mittelalter-Nostalgie ist der Kult, der - nicht nur musikalisch - um die rheinische Nonne Hildegard von Bingen entfacht wurde. 1998, zu ihrem 900. Geburtstag, erreichte er einen Höhepunkt. Hunderte von Websites künden heute von ihrem Ruhm wie von einem Popstar. Die Legenden überwuchern die Wirklichkeit.

"Hildegard von Bingen war eine mutige, demütige und wissende Frau. Sie kann einem das Leben weisen",

bekannte 1998 Christiane Walser, Besitzerin eines "Hildegard-Ladens" in Bilten/GL, in der schweizerischen Zeitschrift Brückenbauer.(14) Und im gleichen Artikel hieß es:

"Die Musik zu Ehren Gottes war bei Hildegard von Bingen ein sinnliches Erlebnis: Sie erlaubte ihren Nonnen an Festtagen mit offenen Haaren zu tanzen. 77 Gesänge und das Singspiel Ordo Virtutum, in dem die Tugenden und Laster gegeneinander kämpfen, sind überliefert. Sie sind heute ein Kassenschlager."

Mit diesen 77 Gesängen und dem Singspiel hat es seine Bewandtnis. Obwohl die Werke in einem "Corpus von beispielloser Geschlossenheit" überliefert sind, wie Jürg Stenzl feststellte(15), ist es alles andere als klar, wie diese Dokumente zu interpretieren sind. Stilistisch weisen sie, wie Stenzl unter Berufung auf Wulf Arlt nachweist, keine überzeugende Beziehung mit anderer Musik des 12. Jahrhunderts auf. Offensichtlich sind sie von Dritten niedergeschrieben worden und ihre Machart erscheint laienhaft, was Stenzl zur Frage verleitet, ob Hildegard wohl der Scelsi des 12. Jahrhunderts gewesen sei.

"Nichts Genaues weiss man nicht" - der Spruch gilt nicht nur für die Musik Hildegards, sondern auch für die ihr zugeschriebenen Heilmethoden. Die deutsche Moraltheologin Hildegard Maria Gosebrink hat festgestellt (16), dass es sich bei den massenhaft in Umlauf befindlichen und nach Hildegard benannten Kochbüchern, Rezepten und Kräutermischungen um reinen Etikettenschwindel handelt. Die ihr zugeschriebenen Medizinbücher entstanden erst lange nach ihrem Tod. Ähnlich problematisch verhält es sich heute auch mit ihren religiösen Visionen, die sie zwar in der Tat niedergeschrieben hat, die aber im Zuge von New Age und Mystizismus-Trend zu grotesken Mißverständnissen unter ihren Anhänger/innen geführt haben. Das alles veranlaßt die Autorin, von "mystischer Vermarktung" zu sprechen und das keineswegs einfach zu verstehende historische Phänomen Hildegard vor ihren Verehrer/innen in Schutz zu nehmen.

Der präzise Blick zurück: Huber, Davies, Yesnikian

Weit entfernt von solcher Oberflächlichkeit ist der Blick, den Klaus Huber bereits 1985 aus künstlerischer Perspektive auf Hildegard richtete, als sie einem breiten Publikum noch kaum bekannt war. In Cantiones de circulo gyrante (17) verbindet er Texte und Kompositionen der Hildegard auf subtile Weise mit zeitgenössischer Musik. Die Komposition entstand für ein Festival zum damals abgeschlossenen Wiederaufbau von zwölf im Krieg zerstörten romanischen Kirchen in Köln und erklang in einer romanischen Basilika. Hildegards Visionen stehen in diesem Werk neben Texten von Heinrich Böll über das zerstörte Köln. Das zyklische Weltbild der Hildegard und ihre Symbolik des ewigen Kreisens der Schöpfung erhalten damit einen konkreten Bezug auf Tod und Wiederkehr des Lebens in unserer Zeit. Am Denken dieser mittelalterlichen Frau faszinierten Huber vor allem die Lebensnähe und ihre Vision des Kosmos als eines kreisenden Ganzen:

"Sie spricht immer von einem Kreis. Die Zeit kreist vom Osten nach dem Westen, nach dem Süden und wieder zum Osten zurück. Diese Vorstellung eines Kreisens ist von der Zeitvorstellung her phänomenal. Sie glaubt, dass das Leben, dass die Schöpfung überleben wird." (18)

Die Grundvorstellung des Kreisens hat Huber in der großartigen Chorpartie "O splendidissima gemma" gegen Schluß des Werks auf suggestive Weise sinnfällig gemacht.

Die nicht-dialektisch konzipierte Musik aus Mittelalter und Renaissance hat Huber schon immer wesentliche Impulse für sein eigenes Schaffen vermittelt. Ähnliches gilt für den 1934 geborenen Peter Maxwell Davies, der sich seit seiner Studienzeit mit der Musik des Mittelalters befaßt und wesentliche Elemente aus ihren spezifischen Bauprinzipien für sein eigenes Komponieren übernommen hat. Isorhythmische Verfahren, Prolationen und modale Harmonik verbinden sich bei ihm seit den sechziger Jahren mit quasi-seriellen Verfahren und spielen auch noch in seinen großformatigen Sinfonien eine zentrale Rolle.

Auch der 1969 geborene Franzose Franck-Christoph Yesnikian hat die Kompositionstechniken des 14. und 15. Jahrhunderts eingehend studiert. Die Einflüsse der historischen Vorbilder haben sich in Yesnikians Kompositionen nach seinen eigenen Worten zugleich in der Form einer Anleihe ("emprunt") als auch als  Abdruck ("empreinte") niedergeschlagen - ein technischer und ein mehr intuitiv-hermeneutischer Aspekt verschmelzen hier. Verfahrensweisen wie Isorhythmie und Prolationen werden in freier Weise zur Formgestaltung verwendet, wobei sie auch mit historisch jüngeren Elementen amalgamiert werden. In "Damasquiné en sombres reflets" für Flöte und kleines Ensemble wird zum Beispiel ein Cantus Firmus aus einer Messe von Josquin zu einem Chaconne-Thema transformiert, das der Flötenstimme zugrundeliegt, während die Begleitstimmen auf Proportionskanons beruhen. Im Stück "Une figuration envisagée avec sa déchirure" nutzt er den Gegensatz von Tempus perfectum und Tempus imperfectum zur Erzeugung ganz unterschiedlicher Satztypen.

Die Reihe der Komponisten, die sich durch das Mittelalter und seine Musik in den letzten Jahrzehnten künstlerisch anregen ließen, ist lang. Sie reicht vom Altmeister Messiaen und seiner intuitiven Mittelalter-Wahrnehmung im "St. François d'Assise" bis zum musikhistorisch sehr genau informierten Nachwuchs. In einer Entwicklungsphase der neuen Musik, da bei der jungen Generation die subjektivistischen Auffassungen wieder einer Suche nach neuen Konstruktionsprinzipien Platz machen, könnte der qualifizierte Blick zurück aufs Mittelalter die Zukunftsperspektiven wesentlich bereichern. Mit Kräuterweiblein, Klosterromantik und anderen Formen von Mittelalter-Tourismus hätte das allerdings dann nichts mehr zu tun.

© 2000 by Max Nyffeler (Nov. 2000)

Credits for coffin and tombstone: Gifs That Don't Suck 

Anmerkungen

1. Umberto Eco: .... (zurück)
2. Angel CDC 5 55138 23 (Übersetzung aus dem Englischen von M.N.) (zurück)
3. BMG 43213 13382 (zurück)
4. Auf diese Zusammenhänge weist Wolfgang Dömling hin in Musik des Mittelalters - wozu?, NZZ Nr. 275, 25./26.11.1995 (zurück)
5. Dt. u.d.T. Für ein anderes Mittelalter, Frankfurt/Berlin 1984 (zurück)
6. a.a.O., S. 22f. (zurück)
7. Dt. Ausgabe München 1982(zurück)
8. Umberto Eco: Nachschrift zum Der Name der Rose (Kapitel Natürlich, das Mittelalter). Zitiert nach: Eco, Der Name der Rose, Große, erweiterte Ausgabe mit Ecos Nachschrift und B. Kroebers Kommentar, Frankfurt, Zweitausendeins, o.J., S. 662 (zurück)
9. a.a.O. (zurück)
10. Camino de Santiago II, EMI 1C 063-30108 (zurück)
11. Turbulent Records EFA 00086-2(zurück)
12. CD Ondas, Warner Red Moon 8573-82232-2 (zurück)
13. Erato 3984 25494-2 (zurück)
14. Der Brückenbauer, Zürich, 1.12.1998 (zurück)
15. Wie hat "Hildegard vom Disibodenberg und Rupertsberg" komponiert? Referat beim internationalen Hildegard-Kongreß, Bingen 1998 (zurück)
16. Hildegard Maria Gosebrink: Hildegard-Hochkonjunktur I und II, in: Anzeiger für die Seelsorge, Jg. 106 (1997), Heft 9 (S.431ff.) und Heft 10 (S. 479ff.) (zurück)
17. Der UA-Mitschnitt wurde veröffentlicht auf Thorofon CTH 2015 (zurück)
18. Gespräch mit dem Autor, Tonbandaufzeichnung von 1985 (zurück)

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