Die magische Zahl

Rationalität und Irrationalität im Zahlendenken von Pythagoras bis Boulez

Zahlen, Zahlenreihen, Zahlenkombinationen, Zahlenspiele, Zahlenmagie: Seit es Musik gibt, spielen die Zahlen in ihr eine Rolle. Besonders prägend ist dieser Einfluß im 20. Jahrhundert geworden, als sich die Wissenschaften mit nie gekanntem Tempo entwickelt und alle Lebensbereiche durchdrungen haben. Zählen und Rechnen - die klassischen Methoden zum Messen und Ordnen der rohen Materie - sind systematisch auf das musikalische Material angewendet worden: Beim Komponieren mit Zwölftonreihen, in der seriellen Musik, bei der stochastischen, statistischen und zufallsbedingten Kompositionsweise. Und natürlich auch in der Computermusik, wo das Zählen und Rechnen an die Maschine, den sogenannten "Rechner", delegiert wird.

Auch die okkulte Kehrseite des rationalen Abzählens, die Zahlenspekulation, hat über die Jahrtausende hinweg bis in unsere Zeit überlebt, indem die Komponisten magische Quadrate und Zahlensymbolik aller Art auf die musikalischen Strukturen übertrugen. Doch wo ist die Grenze zwischen Rationalität und Irrationalität? Manchmal scheinen beide Aspekte - die Verwendung der Zahl als rationales Gestaltungsprinzip und der Glaube an die übernatürliche Kraft der Zahl - miteinander zu verschmelzen. Die Zahl als alchemistische Formel zur Erschaffung von Leben, sei's auch nur symbolhaft als tönend bewegte Form.

Nehmen wir zum Beispiel "Studie I", die erste elektronische Komposition von Karlheinz Stockhausen aus dem Jahr 1953: Mutet hier die streng logisch gewonnene Zahlenreihe, die die innere Zusammensetzung der Tongemische bestimmt, für sich genommen nicht wie eine geheimnisvolle Beschwörungsformel an?

1000  -  417  -  521  -  325  -  781  -  625  -  417  -  173  -  217  -  135  -  325  -  260  -  521  -  217  -  271  -  169  -  407  -  325  -  325  -  135  -  169  -  105  -  254  -  203  -  781  -  325  -  407  -  254  -  610  -  488  -  625  -  260  -  325  -  203  -  488  -  390

Doch vor Irrtümern sei gewarnt: Die Zahl ist kein "Sesam-öffne-dich", das den Sinn von Musik, ihr Geheimnis, erschließen könnte. Stockhausen beschreibt mit dieser Zahlenreihe nur das generative Prinzip, das auf der handwerklichen Ebene angewandt wird, um Klänge und Verläufe zu erzeugen; das ist vergleichbar mit einem Komponisten im 17. Jahrhundert, der mit dem bezifferten Baß die einer Melodie unterlegten Akkordfolgen beschreibt.

Der enge Zusammenhang zwischen musikalischen Vorgängen und Zahlen ist weder neu noch ungewöhnlich. Im Gegenteil, er war zu allen Zeiten eine Art Gütesiegel für handwerkliche Seriosität, denn Zahl bedeutete in der Musik stets Ordnung. Der Standardvorwurf an die Musik des 20. Jahrhunderts: sie sei "zu mathematisch" oder "zu intellektuell" - dieser Vorwurf ist letztlich borniert, weil er die musikalischen Notwendigkeiten nicht erkennt.

überdies hat es der neuen Musik an kompetenter Kritik und Selbstkritik nie gefehlt, auch nicht in ihren radikalsten Phasen. Daß mit Zahlentabellen und Proportionslisten der Sinn eines Kunstwerks nicht erfaßt wird, daß eine bruchlos aufgehende Struktur noch kein Kunstwerk darstellt: auf diesen Sachverhalt wies zum Beispiel Theodor W. Adorno hin. Er warnte die Serialisten vor einer "Abdankung des Subjekts" und sah die Rationalität in ihr Gegenteil umkippen:

"Der unaussprechliche Inhalt verbirgt sich im formalen Apriori, der technischen Verfahrensweise. Das Allgemeine der Struktur produziert das Besondere ohne Rest aus sich heraus und verneint es dadurch. So gewinnt die Rationalität ihr Irrationales, das katastrophisch Blinde."

Solche berechtigten Einwände gegen eine Verabsolutierung der Rolle von Zahl und Ordnung verdecken indes nicht die Tatsache, daß das Komponieren im 20. Jahrhundert durch den Einfluß der Zahl einen gewaltigen Schub erhielt. Als Ersatz für die ordnungsstiftende Funktion der traditionellen Harmonik wurden serielle und statistische Verfahren, mathematische Formeln wie goldener Schnitt und die Fibonacci-Reihe verwendet.

Die vom italienischen Mathematiker Fibonacci im 13. Jahrhundert formulierte Reihe entsteht, indem zu einer neuen Zahl der Reihe immer die vorhergehende addiert wird. So kann sie bis ins Unendliche weitergeführt werden. Beginnend mit Eins lautet sie:

1  -  2  -  3  -  5  -  8  -  13  -  21  -  34  -  55  -  89  -  144  -  233  -  377  -  610 etc.

Stockhausens Klavierstück IX ist zum Beispiel vorwiegend auf dieser Reihe und einer ihrer Ableitungen aufgebaut. Die Anzahl Wiederholungen des Anfangsakkords, der die Physiognomie des Stück auffällig prägt, wird durch eine Ableitung der Fibonacci-Reihe bestimmt. Zu Beginn sind es 142 Wiederholungen, beim zweiten Einsatz noch 87, und dann sind es bei jedem neuen Einsatz weniger, nämlich 53, 32, 19, 11, 6, 3 und 1. Diese Akkordfelder werden durch zunehmend längere Einschübe voneinander getrennt.

Die Anzahl Wiederholungen erhält Stockhausen, indem er einen "Fehler" einbaut und die 2 überspringt: Von hinten gerechnet beginnt seine Wiederholungsreihe mit 1, dann folgt 2+1=3. Dann geht es aber nicht weiter mit 3+2=5, sondern
3+3=6
und in der Folge:
6+5=11
11+8=19
19+13=32 etc.
(Die Zahlen der regelkonform addierten Fibonacci-Reihe sind kursiv gedruckt.)

Gesuchte Nähe von Kunst und Wissenschaft

Beflügelt von den neuartigen Perspektiven, die ihnen das exakte mathematische Denken im 20. Jahrhundert eröffnete, glaubten viele Komponisten an einen Aufbruch in eine Zukunft, in der auf höherer Ebene wieder verwirklicht werden könnte, was seit den griechischen Vorsokratikern aus dem Bewußtsein geschwunden war: die Einheit von künstlerischem und wissenschaftlichem Denken. Edgard Varèse zum Beispiel sah durch das Zusammenwirken von Wissenschaft und Kunst einen neuen Schönheitsbegriff im Entstehen. Anton Webern sagte 1932 über das Potential, das für ihn in der Zwölfordnung der Töne verborgen war:

"Wenn man zu dieser richtigen Auffassung von Kunst kommt, dann kann es keinen Unterschied mehr geben zwischen Wissenschaft und inspiriertem Schaffen."

Und genau fünfzig Jahre später, 1982, zog Iannis Xenakis aus der sprunghaften Entwicklung der künstlerischen Intelligenz im 20. Jahrhundert das Fazit:

"Nichts hindert uns daran, jetzt eine neue Beziehung zwischen den Künsten und den Wissenschaften, insbesondere zwischen den Künsten und der Mathematik, zu antizipieren. Die Künste werden dabei ganz bewußt die 'Problemstellung' liefern, wofürdie Mathematik die neuen Theorien prägen muß und sollte."

Die Werke von Iannis Xenakis können als beispielhaft angesehen werden, was die Anwendung höherer mathematischer Operationen auf das musikalische Material angeht. Zum Beispiel das Klavierstück "Herma" von 1961/62, in dem er das musikalische Material nach den Gesetzen der mathematischen Mengen behandelt hat. Andere mathematisch begründete Verfahren, die Xenakis im Lauf der Jahre angewandt hat, sind die auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung beruhende stochastische Methode, das Komponieren mit Markov-Ketten, mit Baumstrukturen und mit sogenannten Sieben - unregelmäßige Skalengitter, die auf der Kombination unterschiedlicher Mengen von Parametern beruhen. Diese auf höchstem Reflexionsniveau vollzogene Verbindung von Mathematik und Musik ist alles andere als voraussetzungslos. Sie hat eine inzwischen zweieinhalbtausendjährige Geschichte und geht auf die griechischen Vorsokratiker zurück. Auf diese beruft sich Xenakis explizit, vor allem auf Pythagoras und Parmenides.

Doch wie kam diese enge Verwandtschaft von Mathematik und Musik zustande? Erläutern lässt sich das mit einem Instrument, das als Urform aller Saiteninstrumente gelten kann und zugleich das rationale Begreifen des Klangs mittels Messung ermöglicht: das Monochord.

Das Monochord besteht aus einer Saite, die zwischen zwei Stegen gespannt ist und die mittels eines beweglichen dritten Stegs auf verschiedene Weise in zwei Teile geteilt werden kann, so daß die beiden Saitenabschnitte je nach Länge immer wieder andere Tonhöhen erzeugen. Die Saitenteilung im Verhältnis 1:1, also mit dem beweglichen Steg genau in der Mitte, ergibt den Einklang. Die Saitenteilung 1:2 ergibt die Oktav, 2:3 die Quint, 3:4 die Quart, 4:5 die große Terz usw. 

Die Folge der einfachsten ganzzahligen Verhältnisse entspricht dem, was im Jahr 1636 der französische Akustiker Marin Mersenne auf experimentellem Weg entdeckte: dem Obertonspektrum.

Pythagoras und das Monochord

Das Monochord ist jedoch viel älter. Im 6. Jahrhundert vor Christus entwarf Pythagoras seine musikalische Kosmologie, indem er den Gesetzen des Kosmos und dem menschlichen Geist die gleichen Proportionen zuwies: nämlich die ganzzahligen Proportionen der Töne, wie sie auf dem Monochord erzeugt werden können. Je einfacher die Zahlenverhältnisse, desto "harmonischer" galt die Proportion. Eins zu eins, der Einklang, war die vollkommene Harmonie; eins zu zwei, als "Ent-zweiung", der erste Schritt hin zu weniger konsonanten Zahlenverhältnissen.

Im Weltbild des Pythagoras schwang noch das alte mystische Denken mit, in dem intuitive und rationale Erkenntnis der Welt zusammenfielen. Zahlensymbolik spielte für ihn eine große Rolle, zum Beispiel in der magischen Zahl sieben: Es gab sieben Himmelssphären, sieben Farben des Spektrums und sieben Planeten.

In der Lehre des Pythagoras von den Zahlen bildeten sich zwei Aspekte heraus: der quantitative Aspekt des Zählens und Messens, der zur Mathematik führen sollte, und der qualitative Aspekt der Bedeutung, der zur psychologischen Symbolik der Zahlen führen sollte. In den zweieinhalb Jahrtausenden bis zu unserer Gegenwart trat immer der eine oder andere Aspekt mehr in den Vordergrund.

Wie Platon betonte auch Augustin und mit ihm das ganze christliche Mittelalter den quantitativen Aspekt. Die in Zahlen tönende Welt war damit einem objektiven geistigen Ordnungsprinzip unterworfen. Die Renaissance artikulierte in ihrer Naturphilosophie den qualitativen Aspekt der Zahl und sah die harmonischen Proportionen auf spekulative Weise in allen Bereichen des Seienden verborgen. Der Gedanke lebte auch noch nach der Widerlegung des ptolemäischen Weltbildes durch Kopernikus weiter. So stellte der Jesuit Athanasius Kircher noch um 1650 fest, auf allen Stufen des Seienden walte eine "okkulte Harmonie", woraus er folgerte:

"Es ist kein Kraut, das nicht mit einem andern consoniret und dissoniret."

Der Rationalismus sah sodann in der Musik eine Art naturwissenschaftliches Forschungsobjekt, und für Rameau konnte die natürliche Obertonreihe Allgemeingültigkeit beanspruchen. Die Affektenlehre wiederum ging auf Distanz zur pythagoreischen, mathematisch-harmonikalen Betrachtungsweise und inthronisierte das Subjekt als letzte musikalische Instanz. Der qualitative Aspekt des Pythagoreismus lebte jedoch stets unterschwellig weiter. Das zeigt sich sowohl in Bachs Zahlensymbolik als auch im okkulten Gebrauch freimaurerischer Zahlenproportionen durch Mozart, vor allem der Zahl Drei in der "Zauberflöte". 

In der Romantik taucht die pythagoräische Idee einer Weltenharmonie noch einmal auf, und zwar in der Vorstellung einer intuitiv erfahrbaren Einheit alles Seienden. Novalis beschwor die Möglichkeit einer "schönen, mystischen und musikalischen Mathematik", und Robert Schumann setzte als Motto über seine Fantasie op. 17 die Zeilen von Friedrich Schlegel:

"Durch alle Töne tönet
im bunten Erdentraum
ein leiser Ton gezogen
für den der heimlich lauschet."

Das 20. Jahrhundert versucht dann die harmonikale Weltanschauung des Pythagoras noch einmal aus dem Geist des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren, wenn etwa Rudolf Steiner das Verhältnis 1:2, die Oktav, als "musikalischen Ausdruck unseres Ichrätsels" bezeichnet, in dem sich niederes und höheres Ich begegnen würden, oder wenn Jacques Handschin vermutet, daß auch "da, wo wir die Verhältnisse nicht nachrechnen können, eine göttliche Ordnung vorhanden" sei.

Zwölfton-Arithmetik ...

Mit der Entwicklung der Zwölftontechnik durch Josef Matthias Hauer und Arnold Schönberg erhält die Zahl jenseits aller Spekulation eine ganz neue, konkrete Funktion in der Musik: die Funktion des generativen Prinzips zur Definition von Mikro- und Makrostruktur. Immerhin: Seine Erkundungen im Bereich der Zwölftönigkeit sah Hauer durchaus noch in eine wie auch immer geartete "Sphärenmusik" eingebettet, was seinen Bemühungen den Charakter objektiver Verbindlichkeit verleihen sollte. Trotzdem war sein Denken auf die konkrete Klanggestalt ausgerichtet und strikt konstruktiv-melodisch orientiert. Er sagte:

"Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt darin, daß ich immer wieder alle zwölf Töne des in sich geschlossenen Quinten- und Quartenzirkels unserer temperierten Halbtonleiter abspiele oder absinge. Ich denke und höre nicht in absoluten Tönen, sondern in Tropen (Wendungen), in 'Konstellationen' der zwölf Töne, in Bewegungen der Intervalle zueinander."

Mit dem Klavierstück "Nomos" schrieb Hauer 1919 das erste zwölftönige Werk der Geschichte. Eine mehrfach wiederholte Reihe von zwölf Tonhöhen wird darin überlagert mit einem fünftönigen rhythmischen Modell, und  wenn der letzte Ton der Reihe mit dem letzten Ton des Rhythmusmodells zusammenfällt, ist der Zyklus geschlossen und das Stück beendet. 

Es war zwar Josef Matthias Hauer, der die erste Zwölftonkomposition schrieb, doch wird die Entwicklung dieser Kompositionstechnik bis heute meist mit Schönberg assoziiert. Das liegt wahrscheinlich daran, daß Schönberg die Zwölfordnung kulturell in umfassenderem Sinn zu interpretieren vemochte als Hauer, daß sie für ihn weit mehr als nur eine methodische Bedeutung besaß.

... und Kabbala

Nach einer Untersuchung von Juan Allende-Blin können in Schönbergs Zwölftonkonzeption Querbezüge zur Kabbala zwar nicht unmittelbar nachgewiesen, wohl aber stark vermutet werden. Die Kabbala ist jener Zweig der jüdischen Mystik, der sich mit der Deutung der Entstehungsgeschichte befaßt. Schönbergs Ableitung aller Erscheinungsformen der Reihe aus einer einzigen Grundgestalt ist nach Allende-Blin ein Äquivalent zum monistischen Denken der Kabbala, das wiederum mit dem jüdischen Gottesbegriff zusammenhängt. Sodann entspricht die Krebsform einer in der jüdischen Mystik häufigen Denkfigur, ebenso die Betonung des Gesetzes. Dazu kommt die herausragende Bedeutung der Zahl in der Kabbala. Dieser Aspekt der Zahl spielt bei der Reihenkomposition natürlich eine fundamentale Rolle, wenn auch erst einmal in rein technischem Sinn und losgelöst von seinem spekulativ-symbolischen Gehalt.

Im Mittelsatz der "Serenade" op. 24 mit dem Petrarca-Sonett "O könnt' ich je der Rach' an ihr genesen",  einer der ersten Zwölftonkompositionen Schönbergs, findet sich ein ähnliches Verfahren wie das davor von Hauer in der Komposition "Nomos" angewandte: Die Zahl der Reihentöne ist zwölf, die Zahl der Silben in einer Gedichtzeile jedoch nur elf; Reihenzyklus und Verszyklus sind also gegeneinander verschoben.

Schönberg selbst wies darauf hin, daß die Zahl elf in seiner Serenade eine wichtige Rolle spielt und daß er die Zahlenverhältnisse bewußt zur musikalischen Konstruktion verwendete. Das Thema des Variationensatzes hat eine Länge von 11 Takten und besteht aus 2 mal 14 Tönen. Der ganze Satz ist 77 Takte lang, also 7 (=14:2) x 11 Takte.

Die Zahl elf, zwischen den auch für die Kabbala sehr wichtigen Rundzahlen 10 und 12 gelegen, gilt in der Symbollehre als Symbol für das Unvollständige. Doch sie hat wohl auch mit dem Tierkreis zu tun, denn von den zwölf Zeichen des Tierkreises steht immer eines hinter der Sonne und ist infolgedessen unsichtbar. Von daher kommt wohl auch die Beziehung zum Traum des Joseph im Alten Testament: Er sah im Traum, daß sich Sonne, Mond und elf Sterne vor ihm neigten. Ob Schönberg, der die Zahl elf, wie er sagte, in seiner Serenade ganz bewußt verwendete, sich dieser Symbolik ebenfalls bewußt war?

In der komplizierten Zahlenmystik der Kabbala gibt es Querbezüge zum Pythagoreismus; Philo von Alexandrien verschmolz im 1. Jahrhundert nach Christus alttestamentarische und pythagoräische Ideen und schuf damit die Grundlage für eine zahlenorientierte Bibelauslegung. Die Kabbala kann sich bei ihren Spekulationen zudem auf eine ganz besondere Tatsache abstützen: Die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets sind zugleich Zahlen. Damit sind einer Semantisierung der Zahl keinerlei Schranken gesetzt. Daraus hat die Kabbala ein ungeheuer verästeltes Netzwerk symbolischer Bezüge zwischen Zahlen, Buchstaben und Begriffen entwickelt.

Eng verbunden mit der Zahl 22 ist für die Kabbala die Zahl 10, die auch für die Pythagoräer von zentraler Bedeutung war. Sie verweist auf die zehn Sefiroth, die zehn Potenzen des göttlichen Seins, die sich in der Schöpfung mitteilen. Der kabbalistische "Baum des Lebens" zeigt diese zehn Potenzen als Tafeln, die durch 22 Brücken, die 22 "wahren Wege", untereinander verbunden sind. Diese Zahl findet sich dann wieder in den 22 Großen Arcana des Tarot.

Zahlensymbolik bei Emmanuel Nunes ...

Einer der heutigen Komponisten, in deren Werken sich eine derartige Zahlensymbolik spiegelt, ist Emmanuel Nunes.  Als Portugiese steht Nunes in der sephardisch-iberischen Überlieferung, in der sich altgriechische, jüdische und arabische Denktraditionen vermischt haben. In Nunes's Werken zeigt sich ein hochentwickeltes kompositorisches Kalkül, Ausdruck sowohl eines pythagoräischen Sinns für Zahlen als auch kabbalistischer Spekulation. Seine Komposition "Wandlungen", fünf Passacaglien für 25 Instrumente, basiert zum Beispiel auf der Zahl fünf, das große Orchesterwerk "Tif' Ereth" auf der Zahl sechs; seine Besetzung umfaßt sechs Soloinstrumente und sechs Orchestergruppen.

Die Zahl vier, die ideale Zahl der Pythagoräer, liegt der Komposition "Chessed IV" zugrunde. Es ist für Solostreichquartett und Orchester geschrieben. "Chessed" ist der Name für die vierte der zehn Sefiroth, der zehn göttlichen Potenzen. Es symbolisiert die Haltung der Zuwendung, der Liebe. Mit dieser aus der Kabbala herstammenden Kombinatorik von Zahl und Wort, die sich im Fall von "Chessed IV" schon im Titelwort manifestiert, lädt Emmanuel Nunes seine Musik mit einer komplexen, wenn auch verdeckten Semantik auf. Die Zahl ist hier Träger eines überpersönlichen Symbolgehalts.

... und bei Alban Berg

Andererseits sind Zahlen auch immer wieder zur verschlüsselten Darstellung von Privatmythologien aller Art benutzt worden. Das wohl berühmteste Beispiel einer Komposition, in der individuelle biographische Geheimnisse durch Zahlenproportionen - auch durch Notennamen - verschlüsselt worden sind, ist die "Lyrische Suite" von Alban Berg. Zwei Zahlen spielen darin eine dominierende Rolle: Die Dreiundzwanzig und die Zehn. Sie bilden zusammen mit den Intervallen A-B und H-F sowie diversen musikalischen Zitaten ein dichtes Netz von strukturellen Bezügen, das sich über alle sechs Sätze erstreckt. Der dritte, mit Allegro misterioso bezeichnete Satz, ist ein dreiteiliges Scherzo nach dem Modell A-B-A'. Seine drei Formteile sind 69, 23 und 46 Takte lang, d.h. 3 x 23, 1 x 23 und 2 x 23 Takte. Die Metronomangaben sind Vielfache von 10, nämlich 150 und 200.

Die Rolle ist bekannt, die die Zahl 23 für Alban Berg spielte: Er betrachtete sie als seine Schicksalszahl. Am 23. Juli 1908 erlitt er im Alter von 23 Jahren seinen ersten Asthma-Anfall. Später war er Mitbegründer der Wiener Musikzeitschrift "23", er datierte den Abschluß vieler seiner Partituren auf einen 23. des Monats und benutzte diese Zahl in mehreren Werken als strukturbildende Größe.

Für die Zahl 10 hingegen, die andere wichtige Symbolzahl in der "Lyrischen Suite", gab es lange keine Referenzgröße. Doch 1977 wurde ein sensationeller Fund veröffentlicht: Notate aus Bergs eigener Hand, in denen der Komponist selbst die Geheimnisse der Partitur entschlüsselt hatte. Seither weiß man: Die Zehn bezieht sich auf Hanna Fuchs-Robettin, eine Prager Industriellengattin, mit der Berg 1925 eine heimliche Liebesbeziehung hatte. Auch das strukturell wichtige Intervall H-F war nun klar: Es waren die Initialen der Frau.

Peter Maxwell Davies und das magische Quadrat

Magische Zahlenquadrate, wie sie vor allem aus der chinesischen und arabischen Kultur überliefert sind, haben die Künstler schon immer zu Konstruktionszwecken benutzt. Zu ihren Eigenschaften gehört, daß die Zahlenreihen, vertikal, horizontal oder diagonal gelesen, immer die gleiche Summe ergeben. Berühmt ist das Quadrat aus 16 Feldern, das Albrecht Dürer auf seinem Kupferstich "Melencolia" abgebildet hat und dessen Summe stets die dem Jupiter zugeordnete Zahl 34 ergibt.

Der englische Komponist Peter Maxwell Davies, der die hohe Konstruktionsdichte seiner Musik gerne hinter scheinbar einfachen Großformen verbirgt, arbeitet seit den frühen siebziger Jahren mit magischen Quadraten. In seinen bisher sechs Sinfonien kombiniert er sie mit verschiedenen mathematischen Methoden: Mit der Arithmetik von Wellenformen, mit der Fibonacci-Reihe, mit den mathematischen Proportionen der Kirchenarchitektur des Renaissance-Architekten Brunelleschi, mit den Berechnungen der Flugbewegungen eines Vogels.

Für Davies sind Zahlenquadrate keine bloßen Zahlenmuster, sondern ein generatives Prinzip, mit dem er durch vielfältige Transformationen Form und Tonvorrat ganzer Werke bestimmen kann. Das erste Werk, in dem er systematisch mit einem Zahlenquadrat gearbeitet hat, ist das Kammermusikwerk "Ave Maris Stella" von 1974. Sein thematisches Grundmaterial ist der gleichnamige gregorianische Marienhymnus.

Doch seine Verarbeitung basiert auf einem neunteiligen Zahlenquadrat. Es bestimmt mit seinen Ableitungen das stark kontrapunktisch gearbeitete Stück in allen seinen Dimensionen. Nach Auskunft des Komponisten wird dieses magische Quadrat traditionell mit dem Mond assoziiert. Und hier schließt sich nun ein Symbolzusammenhang. Denn in früheren überlieferungen wurde Maria auch mit der altbabylonischen Gottheit Ischtar identifiziert, die den Mondgott besiegte und deshalb auf einer Mondsichel stehend abgebildet wurde.

Die Zahl als serielles Ordnungsprinzip

Frei gehandhabte und  obendrein symbolbeladene Zahlenmanipulationen in der Art, wie sie Peter Maxwell Davies mit seinen magischen Quadraten praktiziert, unterscheiden sich beträchtlich von der Verwendung der Zahl in der Frühzeit des Serialismus. Hier hatte die Zahl eine strikt quantitative Bedeutung,  und ihre Aufgabe beschränkte sich darauf, das Klangmaterial systematisch zu organisieren.

Die Komponisten schrieben ihre eigenen Zahlenquadrate, die sie allerdings nicht als "magisch" verstanden, sondern als prosaische Wertetabellen zur  Dokumention der Reihenmechanik. Schulbeispiele für solche Stücke sind die eingangs vorgestellte "Studie I" von Stockhausen oder die "Structures" für zwei Klaviere von Pierre Boulez. Die Reihen, die die verschiedenen Parameter in "Structures" steuern, lassen sich für beide Klaviere in symmetrisch zueinander aufgebauten Quadraten von 12 mal 12 Werten anordnen. Es sind abstrakte Zahlenfolgen, in denen sich etwas vom objektiven Geist ausdrückt, der dieses frühe serielle Werk durchzieht.

12 11 9 10 3 6 7 1 2 8 4 5
11 12 6 7 1 9 10 3 4 5 2 8
9 6 8 12 10 5 11 7 1 2 3 4
10 7 12 3 4 11 1 2 8 9 5 6
3 1 10 4 5 7 2 8 9 12 6 11
6 9 5 11 7 8 12 10 3 4 1 2

etc.

Die systematischen, symmetrisch angelegten Zahlenstrukturen der frühen seriellen Musik wurden bald einmal durch komplexere Verläufe abgelöst. Darin wurden nicht mehr die Töne selbst, sondern die Beziehungen zwischen den Tönen und somit Klangprozesse durch Zahlen definiert.

Klaus Hubers Kritik am Zahlenfetischismus

Daß eine mathematische Konzeption dem vitalen Musizieren nicht im Wege zu stehen braucht, wird durch die Werke von Xenakis demonstriert. Als beispielhaft für die Verbindung von genauem Kalkül und losgelassener Virtuosität kann auch ein kleines Stück gelten, das Klaus Huber 1976  für Mstislav Rostropovitch geschrieben hat und das dieser zusammen mit andern Stücken zum 70. Geburtstag von Paul Sacher uraufführte: "Transpositio ad infinitum". Dem Stück liegen die sechs  Tonbuchstaben des Namens "Sacher" zugrunde: Es, A, C, H, E, Re (=D). Das generative Prinzip des Stücks heißt: Schnelle Vermehrung des Vorhandenen. In seinem Arbeitsprotokoll notierte Huber:

"Wachstum, Wachstum! Angestrebte Menge: 1111 Töne/ Noten. - 'So schnell wie möglich'. - Aus sechs mach' zweiundsiebzig, aus zweiundsiebzig (durch Kettentransposition) dreihundertsechzig. Et cetera. - Werte: acht verschiedene Werte in sieben verschiedenen Anzahlen gruppiert. (...) - Zufallsprozesse würfeln! - Immer quantitativ bleiben (auf- oder abrunden!)"

Die Art, wir hier Klaus Huber die gängigen seriellen Verfahren zu einer Art Turboserialismus verdichtet, verrät eine ironische Distanz, ebenso sein Text zum Stück. Die Ironie zielt auf das mehrwertsteigernde Moment einer durchrationalisierten Produktion, wie man es aus der Wirtschaft kennt, das aber in symbolischer Form auch eine Kompositionsweise charakterisiert, die  das musikalische Material einer unerbittlichen rationalen Strategie unterwirft.

Zahl und Zufall bei John Cage

Kritik mit Zahlen an der Zahlengläubigkeit einer hyperrationalistischen Musikauffassung kam schon in den fünfziger Jahren von John Cage. Sein erstes Erscheinen in Europa zusammen mit David Tudor im Jahr 1954 verunsicherte die auf Serialität eingeschworene europäische Avantgarde zutiefst und läutete den Beginn der Aleatorik ein. Darin wurde dem Zufall ein begrenztes Recht eingeräumt. Cage praktizierte das Komponieren mit dem Zufall indes mit unvergleichlicher Radikalität. In seiner Klavierkomposition "Music of Changes" von 1951 erzielte er durch Zufallsverfahren nach dem chinesischen I-Ching ähnlich komplizierte Resultate wie die Darmstädter Serialisten mit ihren Reihenoperationen.

Schon 1952 hatte Henry Cowell, Cages Lehrer, in einem grundlegenden Aufsatz über Cages Zufallsverfahren angemerkt, daß Cage neben dem I-Ching auch die Zahlentafel mit den 88 Zahlenquadraten kannte, nach der im 18. Jahrhundert durch Zufallsverfahren Kontertänze zusammengebastelt werden konnten.

70 14 164 122 25 153 18 167
10 64 100 12 149 30 161 11
33 1 160 163 77 156 168 11
36 114 8 35 111 39 137 44
105 150 57 71 117 52 132 130
165 152 112 15 147 27 73 102
7 81 131 37 21 125 49 115
142 106 40 69 43 140 23 89
99 68 86 139 120 92 143 83
85 45 90 158 82 123 78 58
145 97 6 121 56 67 63 16

Schon Mozart hatte mit dieser Zahlentafel gespielt, und Cage hätte wahrscheinlich seinen Spaß gehabt, Mozart dabei zuzuschauen. Ende der sechziger Jahre benutzte John Cage Mozarts Vorlage als Basis für seine zufallsgesteuerte Komposition "Harpsichord" für 1-7 Cembali und 1-52 computergenerierte Tonbänder, und Mozart hätte wahrscheinlich ebenfalls seinen Spaß gehabt, Cage dabei zuzuschauen.

© Max Nyffeler 2007
Dieser Text basiert auf einer Radiosendung für den SWR vom 29.11.1999.

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