Richtig und falsch oder anders: Der „Arditti-Standard“ und der PublikumsgeschmackFragen und Anmerkungen zu den Streichquartett-Konzerten bei den Donaueschinger Musiktagen 2010Den Anfang des großen Donaueschinger Quartett-Marathons 2010 machte schon am Vorabend das Arditti Quartett mit der 70-minütigen Uraufführung von „Monadologie IX“ von Bernhard Lang. Das Stück oder vielmehr die Stückesammlung hat den hübschen Untertitel „The Anatomy of Disaster“ und ist von extensiver Länge, aber sorgfältig gebaut; vor allem scheint der Komponist instinktiv zu spüren, wann sich der nächste Durchhänger anbahnt, und findet mit überraschend eingebauten tonalen Reminiszenzen und Brüchen immer gerade noch rechtzeitig die Kurve, um der Langeweile zu entgehen. Die Musikstrecke am frühen Freitagabend vor dem Orchesterkonzert war also das Aufwärmen für den am nächsten Tag angesetzten Hochleistungs-Wettkampf mit drei Quartettformationen. Die Ardittis verschafften sich damit den Vorteil der Pole Position, und da sie allein auch fünf der neun Uraufführungen zu bestreiten hatten, war schon vorab klar, wer bei diesem sportlichen Kräftemessen von drei Vierermannschaften als Turniersieger vom Platz gehen würde. Am Samstag dann die „Quardittiade“, die von halb zwölf mittags bis in den Abend hinein dauerte. Es traten an: das Arditti Quartett, das französische Diotima Quartett und das amerikanische JACK Quartett. In drei Sälen spielten sie gleichzeitig je dreimal ihr Programm, wobei das Publikum blockweise von einem Spielort zum andern wanderte und so im Lauf des Tages alle Stücke hören konnte. Der Vergleich ermöglichte interessante Rückschlüsse auf die Interpretation, zumal eine der Uraufführungen, das neue Quartett von James Dillon, von allen drei Ensembles gespielt wurde. Darüber hinaus regte der Vergleich auch zu einigen weiterführenden Überlegungen an. Das Spiel der Ardittis beeindruckte vor allem durch seinen rhythmischen Impetus und die scharf gemeißelte Oberfläche der Artikulation, in Verbindung mit einer Klangvorstellung, die nach dem Modell des Spaltklangs das Trennende betont und den musikalischen Satz bis ins Innerste aufreißt. Eine Interpretationsweise, deren Wurzeln in der Tradition der Schönbergschule liegen, wo Rhythmus, Phrasierung und Klangfarbe den Wegfall der Harmonik als fundamentales Gestaltungsmittel kompensieren mussten. Mit der Anwendung dieser Prinzipien auf einem hohen technischem Niveau hat das Arditti Quartett Interpretationsnormen gesetzt, die seit Jahrzehnten unangefochten gültig sind und nicht nur die Wiedergabe der Werke, sondern auch das Komponieren selbst nachhaltig geprägt haben. Viele Werke klingen inzwischen so, als ob ihnen die spieltechnischen Möglichkeiten, die Arditti geschaffen hat, als kompositorische Gebrauchsanweisung zugrunde lägen. Der Interpret als auktorialer ErzählerSo war es begreiflich, dass die Ardittis diese „Quardittiade“ locker dominierten. Das war auch für das Publikum eine ausgemachte Sache, so dass nicht einmal die unterschiedliche Lesbarkeit der schillernden Wortschöpfung auffiel: „Quardittiade“ und „(Qu)arditti Ade“ etwas von Abschiedsvorstellung schwingt da mit. In den ersten Donaueschinger Verlautbarungen zu den Musiktagen 2010 war, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, übrigens noch von „Ardittiade“ die Rede gewesen wurde davon Abstand genommen, um in dieser Hinsicht keinen Verdacht aufkommen zu lassen? Doch wie auch immer: Arditti ist noch immer unangefochtener Platzhirsch. Die andern beiden Quartette befanden sich in einer Art Kandidatenstatus und mussten erfahren, dass ihr Spiel an der stillschweigend gesetzten Arditti-Norm gemessen wurde. Es lohnt sich, etwas näher auf die Unterschiede einzugehen. Die beiden jüngeren Ensembles verwandten zum Beispiel bei Dillons Werk viel Sorgfalt auf den Zusammenklang, gerade auch was die Dimension der Harmonik angeht. Einige im Publikum nannten das naserümpfend „gepflegt“ oder „beschönigend“; unabweisbar aber ist, dass damit dem Zusammenspiel eine Qualität zukam, die bei der Wiedergabe klassischer Musik als selbstverständlich vorausgesetzt wird und in der neuen Musik auch noch bis zum LaSalle Quartett, den berühmten Vorgängern von Arditti, als keineswegs abwegig galt. Diese Qualität hat vermutlich auch etwas mit dem Zurücktreten des Interpreten vor dem Werk zu tun mit seiner Fähigkeit, sein Ego im Zaum zu halten und nicht die eigene pointierte Meinung dem Werk aufzudrängen, aus Angst, es könnte sonst eventuell „uninteressant“ wirken. Eine solche subjektivistische Interpretationshaltung gleicht der Haltung eines auktorialen Erzählers, der seine Herrschaft über das Material beziehungsweise den Erzählstoff selbstbewusst auslebt und in jedem Moment genüsslich demonstriert. Dem Hörer respektive Leser bleibt wenig Spielraum für die eigene Fantasie. Er hat zu akzeptieren, was ihm vorgesetzt wird. Doch wenn das Ganze professionell gemacht ist, ist zugegebenermaßen kaum etwas dagegen einzuwenden das Kunstmahl ist exquisit zubereitet, und man darf es sorgenfrei konsumieren, denn der Sterne-Koch versteht sich auf die Kunst des Würzens. Nun muss aber daran erinnert werden, dass Chefkoch Arditti und seine drei Gefolgsleute sie wurden im Lauf der Jahre mehrfach ausgetauscht ihre raffinierten Verfahren nicht auf intuitivem Weg erworben haben. Diese sind das Resultat nicht nur von hoher Könnerschaft und besessenem Arbeitseifer, sondern auch eines Prinzips, an dem das Quartett seit seiner Gründung 1974 konsequent festgehalten hat und das zu einer Quelle von unschätzbarem Wert für die Entwicklung ihres interpretatorischen Potenzials wurde: Die kreative Zusammenarbeit mit Komponisten. Die Diskussionen, die die vier Spieler während der Einstudierung neuer Werke mit Komponisten von Ferneyhough und Xenakis bis Ligeti und Lachenmann führten, waren für beide Seiten enorm bereichernd. Viele der heute gängigen Spieltechniken verdanken ihre Entstehung dieser einzigartigen Experimentierwerkstatt. Klangbearbeitung und Bildbearbeitung: Die Gefahr der ÜberzeichnungDoch jedes Ding hat seine Dialektik, und so kann auch eine hart errungene interpretatorische Freiheit neue Zwänge produzieren. Bei allen Verdiensten, die sich das Quartett um die neue Musik der letzten Jahrzehnte erworben hat, ist unüberhörbar, dass sein fulminantes Spiel eine latente Tendenz zur Überzeichnung besitzt und damit die Gefahr eines vereinheitlichenden Designs heraufbeschwört. Eine Subjektivität höheren Grades setzt sich als verbindlichen Maßstab. Interpretatorische Überzeichnung mag vielen Werken nützen, die sonst eher in mittleres Grau gekleidet daherkommen würden, etwa im Fall jüngerer Komponisten, die noch nicht alle Tricks kennen, wie der Klang zu überdeutlicher Plastizität gebracht werden kann. Aber auch bei ausgewiesenen Könnern neben den bereits Erwähnten wären zum Beispiel noch Nono oder Klaus Huber zu nennen hat ihre Art der Interpretation den Werken ein schärferes Profil verliehen, als es vielleicht bei einem anderen Ensemble der Fall gewesen wäre. Doch wo schlägt eine Interpretation in Überzeichnung um, und was kann das bewirken? Zur Verdeutlichung greife ich zu einem Vergleich. Auch bei der Arbeit mit dem Computer gibt es ja analog zur Interpretation der Musiknoten auf dem Notenpult die Möglichkeit einer „Interpretation“, nämlich dann, wenn es um die Nachbearbeitung von angelieferten Daten geht. Und da bei der digitalen Nachbearbeitung bzw. „Interpretation“ von Daten zwischen Klang und Bildmaterial kein kategorialer Unterschied mehr besteht, wechseln wir jetzt mal zur Bildbearbeitung und klicken den Photoshop an. Hier gibt es schier unendliche Möglichkeiten der „Verbesserung“ eines Bildes, von der Kontrastwirkung und der selektiven Farbkorrektur über Stilisierungsfilter bis zu komplizierteren Rendering-Effekten. Kein Foto mehr in der Presse oder im Internet, das nicht durch Photoshop „verbessert“ worden wäre. Einfach, aber wirkungsvoll und deshalb beliebt ist die Scharfzeichnung (oder, für Anspruchsvollere, die Funktion „Unscharf maskieren“). Doch auch ein Scharfzeichnungseffekt kann sich, permanent angewendet, abnutzen, denn er erzeugt falsche Nähe und trügerische Unmittelbarkeit. Dasselbe gilt für einen andauernd zu hoch eingestellten Farbsättigungsgrad oder eine übertriebenen Hell-Dunkel-Wirkung. Schiebt man dann einmal den Regler auf den Mittelwert zurück, erscheint im ersten Moment alles etwas matter. Doch das Bild erfordert nun vom Betrachter auch ein genaueres Hinsehen, vielleicht sogar einen größeren Aufwand an Fantasie und Eigeninterpretation. Es stellen sich einige Fragen: Wo liegt nun bei einer Nachbearbeitung die Grenze zwischen Manier und notwendiger Verbesserung der Vorlage, etwa durch erhöhte Kontrastwirkung und Intensität der Farben bzw. des Klangs? Wann werden diese Maßnahmen so zur zweiten Natur, dass sie sich als unhinterfragte Standardnorm durchsetzen? Entsteht durch das Setzen und immer weitere Vorantreiben solcher Normen der sogenannte Fortschritt? Im Falle von musikalischen Interpretationsnormen stellt sich noch eine weitere Frage: Für welches Publikumssegment gilt eine Norm, die eine Interpretationsweise von allen anderen unterscheidet? In der neuen Musik waren bislang Vergleichswerte nur selten möglich der Markt ist zu klein. Im klassischen Repertoire, wo sich viele Konkurrenten auf einem größeren Platz tummeln, drängt sich die Notwendigkeit zu vergleichen und zu unterscheiden geradezu auf. Und hier zeigt sich dann zum Beispiel bei Beethovens Großer Fuge, dem einzigen klassischen Stück, das das Arditti Quartett seit langem im Repertoire hat, dass seine überzeichnete Spielweise bei weitem nicht die interpretatorischen Maßstäbe setzt und die Wirkung zeigt, wie es das von der neuen Musik her gewohnt ist. In der neuen Musik bilden seine Auffassungen eine weitgehend konkurrenzlose Mehrheitsmeinung sie tendieren sogar zur Konvention , im Bereich des traditionellen Repertoires erscheinen sie als bestenfalls interessante Minderheitenmeinung. Anders ausgedrückt: Im Bereich der neuen Musik konnten sich seine Auffassungen nur als Norm durchsetzen, weil hier das Angebot und damit die Vergleichsmöglichkeiten lange zu gering waren. Die nächste Generation auf der Suche nach dem eigenen StilFür die Interpreten und auch die Komponisten stellt sich somit die Frage: Soll ich den „Arditti-Standard“ übernehmen oder andere Wege suchen? In den Konzerten der anderen beiden Quartette in Donaueschingen waren Ansätze zu einer möglichen Antwort zu erkennen. Das amerikanische JACK Quartett hat mit seinen bei Mode Records erschienenen Xenakis-Aufnahmen bewiesen, dass es diese neuen Wege einschlagen kann, ohne auf die von Arditti bis zur Perfektion getriebenen Tugenden Transparenz des Satzes, Präzision der Attacke, kollektive Virtuosität zu verzichten. Sein sachbezogenes Spiel wirkt technisch ebenso schwerelos wie bei Arditti, ist aber weniger flamboyant. Auch fehlt ihm der Nervenkitzel des Sensationellen, der zum Markenzeichen des Arditti Quartetts gehört und die Stücke manchmal schwieriger erscheinen lässt als sie sind. Aber der Blick auf das Werk und die kompositorische Handschrift wird dadurch weniger verstellt. In Donaueschingen hatte das JACK Quartet leider das Pech, außer Dillon mit Stücken konfrontiert zu werden, die es völlig unterforderten. In einer flapsigen Nummer von Alan Hilario hatten sie hauptsächlich auf einem Tisch mit Brettern herumzuhämmern und schlappe Drähte oder Schnüre anzuzupfen; Peter Ablinger lieferte ihnen bloß einige Materialien, mit denen sie eine Ensembleprobe zu fingieren hatten. Eine im Grunde genommen haarsträubende Missachtung der hochqualifizierten Musiker. In der bösen Finanzwirtschaft würde so etwas Kapitalvernichtung genannt, in der guten Neuen Musik gilt es als Ausweis eines unkonventionellen Denkens, das wegen seinem Mut zur Negation von was auch immer noch den Beifall der sich fortschrittlich Dünkenden findet. Das Diotima Quartett wiederum hat schon von seinem Repertoire her eine ganz andere Ausrichtung als das Arditti Quartett. Es spielt Onslow genauso seriös wie Schnebel, Janaceks „Intime Briefe“ genauso hingebungsvoll wie das Quartett von Nono, von dem es den Namen hat. Es legt vielleicht manchmal mehr Wert auf eine abgerundete, „geschlossene“ Erscheinung des Klangs als auf raues Draufgängertum, was aber mehr eine Geschmackssache als eine Frage von Richtig und Falsch ist. Auch ihr Spiel mit optischem Design ist bloß eine Geschmackssache und kein Verrat an der wahren Neuen Musik was auch immer das sei. Ihre Interpretationen auch komplexer neuer Werke sind jedenfalls auf hohem professionellem Niveau angesiedelt und können denjenigen des Arditti Quartetts spielend standhalten, auch wenn sie in eine andere ästhetische Richtung weisen. Wenn von Unterschieden zwischen den drei Quartetten die Rede ist, dann sollte auch noch ein Aspekt beachtet werden, der jenseits der ästhetischen Kategorien liegt, auf diese aber zweifellos Einfluss hat. Während das Arditti Quartett dem traditionellen Primarius-Prinzip verpflichtet ist, wobei sich die Leitungsfunktion von Irvine Arditti auch auf organisatorische und programmatische Belange erstreckt, sind die beiden jüngeren Quartette „demokratisch“ strukturiert: Die beiden Geiger wechseln sich in der Position ab und Entscheidungen werden gemeinsam gefällt, was die Abläufe manchmal erschwert oder zumindest verlangsamt, Rollenverständnis und Verantwortungsstruktur aber verändert.[1] Es geht nicht um Richtig und Falsch, sondern um Anders. Ob sich dieses Andere dann durchsetzt, ist letztlich eine Frage des Geschmacks von Publikum und Veranstaltern, genauer: wie weit zugelassen wird, dass sich dieser Geschmack verändert. Damit ist es auch eine Machtfrage. Denn wer überlässt schon freiwillig der Konkurrenz das Feld, wenn er noch über genügend Einfluss verfügt, um seine hegemonialen Positionen zu verteidigen? Das gilt für den marginalen Betrieb der neuen Musik nicht weniger als für die Wirtschaft im Allgemeinen. Max Nyffeler, ©2010 Dieser Beitrag ist auch erschienen in MusikTexte 127, Köln 2010. [1] Streichquartett im 21. Jahrhundert. Armin Köhler im Gespräch mit Irvine Arditti, dem JACK Quartet und dem Quatuor Diotima, in: Donaueschinger Musiktage, 15.17.10.2010, Programmbuch, S. 6271.
Themen Inhalt |