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Das Grummeln in der Magengrube
Beobachtungen, halbnah, zur Kultur in der Schweiz
von Max Nyffeler
Es gibt einen Schweizer Mythos nein, nicht Wilhelm Tell , der bis in die jüngste Zeit hinein zur gerne vorgezeigten geistigen Grundausstattung des Landes gehörte: dass es mit seinen vier Sprachen und Kulturen nicht nur einzigartig, sondern auch modellhaft für andere Länder sei. Die berühmte Willensnation, unter deren Dach die unterschiedlichen Kulturen friedlich nebeneinander leben. Noch 1985 gab der damals 79-jährige Denis de Rougemont, Genfer Schriftsteller und Kulturhistoriker alten Schlages, einem Artikel über den Schweizer Kulturföderalismus den Titel "Die kulturelle Sendung der Schweiz in Europa" (1). De Rougemont kam zum Ergebnis, dass durch die Vielfalt der Traditionen sich in der Schweiz zwar keine einheitliche Nationalkultur herausbilden konnte, sich aber gerade in dieser Vielfalt und Verflechtung der Teilkulturen ein Wesenszug des europäischen Denkens spiegele. Die Schweiz als Klein-Europa und Vorbild für die Welt: das war für ihn ein Modell von zeitloser Aktualität.
Sechzehn Jahre später irritiert dieses Sendungsbewußtsein aus mehreren Gründen. Erstens wird im Reden über Europa heute ganz allgemein nicht mehr kulturell, sondern ökonomisch argumentiert, und dies in einer Ausschließlichkeit, die de Rougemonts emphatischen Abendland-Begriff seltsam deplatziert aussehen lässt. Und zweitens wird Kultur zunehmend politisch funktionalisiert; die politisch Mächtigen missbrauchen sie als Instrument zur Imagepflege und sogar als unberechenbares Kampfmittel zur Durchsetzung ihrer Interessen. Der Krieg in Jugoslawien, immerhin ein europäisches Land, hat diese gewandelte Funktion der Kultur schockhaft vor Augen geführt. Doch das verblasste Ideal von den vier Kulturen hat nicht zuletzt mit den gesellschaftlichen Veränderungen in der Schweiz selbst zu tun. Trotz einer militanten politischen Nostalgiebewegung, der schweizerischen Variante der transalpinen Haider-Stoiber-Bossi-Fraktion, ist das Land in den letzten drei Jahrzehnten mehr und mehr "europakompatibel" geworden. Und abgesehen davon war das heimliche Vorbild für den Finanzplatz Schweiz ohnehin schon immer die Wall Street, was aber stets erfolgreich camoufliert wurde: nach innen mit patriotischer Rhetorik, nach außen, mit Blick auf Tourismus und Exportindustrie, mit der bekannten Käse-Uhren-Schokolade-Ikonografie, neuerdings ergänzt durch einige aufgesetzte künstlerische Events.
Die Kluft zwischen den alten, identitätsstiftenden Mythen und der wirtschaftlichen Realität nötigte die Bewohner des Wohlstandsparadieses zu einem Bewußtseinsspagat, der die geistige Befindlichkeit des Landes nachhaltig veränderte. Das Festhalten an den bewährten Traditionen ließ sich nur noch durch allerlei Verrenkungen in Übereinstimmung bringen mit der planmäßigen Konstruktion der "Schweiz AG" ein Begriff, den der kritische Patriot Max Frisch seinerzeit noch polemisch in die Diskussion warf und der heute von Wirtschaftsvertretern durchaus positiv benutzt wird. Diese Wertekrise hatte nicht nur Auswirkungen auf das Individuum nach Manhattan soll es in Zürich, gemessen an der Einwohnerzahl, die meisten Psychiater geben. Auch die Politik in der Konsens-Demokratie Schweiz ist schwierig geworden. Wirklichkeitsnäher als de Rougemonts idealistische Vision erscheint da schon, was vor kurzem der Leser Jean-Blaise Hall aus Frankreich in der "Schweizer Revue", dem halbamtlichen Magazin für die Auslandschweizer, im Leserbrief zu einer offiziellen Imagekampagne der Schweiz anmerkte: "Etwas Bescheidenheit, bitte. Wenn es unserem Image an Hochglanz fehlt, so darum, weil es schlicht nicht mehr interessiert." (2)
Der diskrete Charme des Sonderfalls Schweiz hat an Reiz verloren, die selbstzufriedenen Spekulationen über eine Vorbildrolle für Europa sind verstummt. Man kann diese Entwicklung bedauern oder nicht, aber sie ist unumkehrbar. Mit dem Zwang zur Bescheidenheit ist ein Stück Normalität eingekehrt. Kulturpolitisch im Blickfeld stehen die gleichen Themen wie anderswo: Probleme der Finanzierung und des Umbaus der Institutionen, Fragen der internationalen Abhängigkeiten, der Unterstützung neuer Formen künstlerischer Produktion und Distribution.
Auch die musikalische Ausbildung wird neu ausgerichtet. Die diversen Konservatorien und Musikakademien, die bisher ausschließlich regional orientiert waren, sind gerade dabei, sich grundlegend zu reformieren und ihre Prüfungsanforderungen europäischen Standards anzupassen. Der Sonderweg der Schweiz wurde auch in der Kultur- und Bildungspolitik zum Trampelpfad in Richtung Europa ausgebaut. Fragen der Mehrsprachigkeit und der regionalen Identität drohen indessen zu innenpolitischen Problemfeldern zu werden, und die Politik sorgt sich nicht ohne Grund, dass der "Röschtigraben" (Röschti = Kartoffelgericht in der deutschen Schweiz), wie die Trennlinie zwischen französischer und deutscher Schweiz genannt wird, sich vertiefen und die Landesteile geistig immer mehr auseinanderdriften könnten.
Die Probleme der künstlerisch Tätigen, nicht nur in der Musik, liegen indes ganz woanders. Die Schweiz ist zwar ein internationaler Finanzplatz, doch der Markt für die Künste ist beschränkt. Schon immer waren deshalb die Künstler genötigt, die Fühler über die Grenzen auszustrecken, um die nötige Resonanz zu finden. Aufgrund der Sprachsituation strebten sie in verschiedene Richtungen: der Genfer nach Paris, der Zürcher nach Berlin, der Tessiner nach Mailand. Bis heute kann eine internationale künstlerische Karriere nur im Ausland gemacht werden. Trotzdem: der viel zitierte Ausspruch von Gottfried Keller, die Schweiz sei ein Holzboden für die Kunst, trifft nicht mehr zu. Die Kultursubventionen von Bund, Kantonen und Gemeinden addieren sich heute zur hübschen Summe von 1,8 Milliarden Franken, wobei die Gemeinden mit 954 Millionen (das entspricht 53 % der Gesamtsumme oder 3,9 % eines durchschnittlichen Gemeindehaushalts) am meisten beisteuern. Der Bund beteiligt sich mit 144 Millionen oder 8 % an den gesamten Kulturausgaben, was 0,5 % des Bundeshaushalts entspricht. Dazu kommen noch rund 300 Millionen von privater Seite. (3)
Für die Musik existiert ein differenziertes System der Förderung im öffentlichen und privaten Bereich. Ganz oben in der Förderpyramide steht die staatliche Kulturstiftung Pro Helveita, die Kompositionsaufträge, Zuschüsse für Aufführungen im In- und Ausland, für CD-Produktionen usw. vergibt. Ähnliches geschieht in vielen Kantonen und Gemeinden. Noch hält das System, obwohl Pro Helvetia im letzten Jahr in eine institutionelle Krise mit ungewissem Ausgang hineingerutscht ist. Mit der "Schweizerischen Musikedition" gibt es heute eine mit öffentlichen und privaten Mitteln unterstützte Organisation, die dem gravierenden Mangel an musikverlegerischer Tätigkeit in der Schweiz entgegen zu wirken versucht und darüber hinaus auch als Musikinformationszentrum funktioniert. Das Radio räumt der neuen Musik unterschiedlichster Provenienz großzügige Sendezeiten ein. Spezielle Festivals und Konzertreihen wie die Tage für neue Musik Zürich, die Contrechamps-Konzerte in Genf oder die diversen Initiativen in der hinsichtlich neuer Musik schon immer rührigen Stadt Basel bieten vielfältige Aufführungsmöglichkeiten. Auch in der sogenannten Provinz gibt es viele Initiativgruppen und kleine Zentren für neue Musik. Die traditionellen Institutionen sind ebenfalls aufgewacht und setzen Musik des 20. Jahrhunderts ins Programm, nicht zuletzt die Luzerner Musikfestwochen, die in den letzten Jahren zum gewichtigen Neue-Musik-Produzenten mit internationalem Profil geworden sind.
Ist die Schweiz also auf dem Weg zu einem Eldorado für zeitgenössische Musik? So schnell geht es wohl nicht. Die kleinen Dimensionen des Landes und die Nachwirkungen der geistigen Einigelung in früheren Jahrzehnten, die üblichen Verteilungskämpfe um die doch immer unzureichenden Fördermittel, dazu die permanente Anstrengung, die einem Durchschnittshaushalt bei der Erfüllung der hohen Wohlstandsnorm abgefordert wird das alles bildet ein atmosphärisches Gemisch, das den großen künstlerischen Wurf nicht gerade begünstigt.
Doch von der Mangelsituation der ersten Nachkriegsjahrzehnte ist man heute weit entfernt. Damals herrschte, trotz der im Vergleich zu den Nachbarländern optimalen materiellen Bedingungen, ein Klima lähmender Unzufriedenheit, für das der Ausdruck "schweizerisches Malaise" geprägt wurde und das den Hintergrund für die gesellschaftskritischen Werke eines Frisch und Dürrenmatt bildete. Ein unterschwelliger Frust, ein Unbehagen an den engen Verhältnissen, verbunden mit einer bohrenden und moralisierenden Kritik am eigenen Land: das waren lange die Merkmale eines Syndroms, an dem große Teile der schweizerischen Künstler und Intellektuellen litten. Aus eigener Erfahrung und vielen Gesprächen weiß ich, dass auch diejenigen, die dieser Atmosphäre entrinnen konnten und sich ins Ausland absetzten, dieses Syndrom seltsamerweise nicht einfach abschütteln konnten. Für sie war die Schweiz eine reiche, aber verpennte Provinz, über die man sich prächtig mokieren und auch ärgern konnte. Die vielen Zuhausegebliebenen, die sich an den Kleinstaat-Verhältnissen rieben, formulierten diese Kritik in entsprechend radikalisierter Form.
Hinter den Werken, die aus solchen Befindlichkeiten heraus entstanden sind, wird die Neigung zu einem kritischen Realismus spezifisch schweizerischer Prägung sichtbar, der bis auf Gottfried Keller zurück zu verfolgen ist und auch in das Gebiet der Musik hinein gewirkt hat. Andererseits war die Schweiz immer ein Nährboden für das Skurrile und Eigenbrötlerische, in dem sich Protest auf verschlüsselte Weise artikulierte. Der Künstler spielte in der Schweiz nie die Rolle des Hofnarrs, denn es gab keine Fürstenhöfe. Seine Rolle war vielmehr die des Kauzes, des von der kleinbürgerlichen Gemeinschaft gerade noch geduldeten Sonderlings am Rande. Von hier zur sozialen Vereinsamung und psychischen Krankheit war der Weg oft kurz. Viele sind ihn gegangen, vom Komponisten und Schubert-Zeitgenossen Theodor Fröhlich, der sich 33-jährig mit einem Sprung in die Aare das Leben nahm, über den Schriftsteller Robert Walser und den schizophrenen Adolf Wölfli bis zu Fritz Zorn, der vor zwei Jahrzehnten in seinem autobiografischen Roman "Mars" Krebs als gesellschaftliche Krankheit diagnostizierte.
Das Unbehagen der Nachkriegsjahrzehnte führte zu einem verbissenen Dauerstreit zwischen den in Konservativismus erstarrten Institutionen und den aufmüpfigen Künstlern, der sich erst in den letzten Jahren auf ein zuträgliches Maß an nützlicher Kritik reduzierte. Häufig kann man im Ausland die verwunderte Frage hören, warum denn gerade die schweizerischen Künstler so gnadenlos kritisch mit ihrem Land umgingen, die Verhältnisse dort seien doch sicher nicht so unerträglich. Auch in der Schweiz ist diese eigenartige Tatsache ausgiebig diskutiert worden. 1987 erhielt ich einen Brief von einem ratlosen Konservativen, der sich angesichts der permanenten "Nestbeschmutzung" bitter beklagte: "Ich habe jahrelang zugesehen, wie sich Schweizer Künstler in der Bundesrepublik auf Kosten der Schweiz lustigmachen. (...) Merkwürdigerweise besteht die umgekehrte Situation nicht: man macht sich in der Schweiz nicht über die Bundesrepublik lustig. Können Sie mir sagen, woran das liegt?"
Die Beobachtung war zweifellos richtig, doch der Vergleich führte vom Kern des Problems weg. Dieses bestand in der allzu langen Unfähigkeit des Landes zur geistigen Erneuerung. Die Protestbewegung von 1968 hatte in der Schweiz nicht die befreiende Wirkung wie in Frankreich oder in Deutschland, wo der Muff von tausend Jahren unter den Talaren hervorgekehrt wurde. Die Atmosphäre blieb seltsam miefig, die überfällige Katharsis setzte erst um 1990 mit der "Fichenaffäre" ein, als bekannt wurde, dass jahrzehntelang hunderttausende von Bürgern geheimdienstlich bespitzelt worden waren. Die Jahre davor waren eine Zeit der permanenten Mißstimmung und vergeblichen Aufbruchsversuche. Deren explosivster war die sogenannte Zürcher Jugendbewegung, die zu Beginn der achtziger Jahre an der feinen Zürcher Bahnhofstraße flächendeckend für eingeschlagene Schaufenster sorgte und ihre letzten Zuckungen in einer der deprimierendsten Drogenszenen Europas fand. Doch in der Selbstdestruktion lagen auch Keime für kulturell Neues. Sie kamen zur Entfaltung, als die bürgerliche Mehrheit im Rat der Stadt Zürich auf die Unruhen mit einer erstaunlich fortschrittlichen Kulturpolitik reagierte und damit die Herausbildung einer bunten Off-Kultur ermöglichte. Dass diese nach ein paar Jahren schon wieder verdächtige Zeichen von Saturiertheit zeigte, verweist auf eine Eigenheit der schweizerischen Politik, wo jede Opposition früher oder später in das läuft, was man heute die "Konsensfalle" nennt. Man könnte es auch als gut eingeübten Willen zum demokratischen Kompromiß bezeichnen: ein Zeichen politischer Vernunft. Ob das auch der Kunst bekommt, ist allerdings fraglich. Vielleicht ist diese Dauerkompromiss-Atmosphäre neben der Enge des Landes eine der Ursachen dafür, dass die Kultur immer wieder als Überdruckventil für oppositionelles Denken gedient hat.
Doch Rebellion steht zur Zeit nicht auf der Tagesordnung, weder in der Schweiz noch anderswo. In der permissiven Gesellschaft ist auch in künstlerischen Dingen individuelle Selbstverwirklichung angesagt. Die Stichworte heißen heute Selbstdarstellung, prächtige Materialentfaltung und selbstreferenzielle Ästhetik; in der Schweiz kommt noch die sprichwörtliche handwerkliche Solidität dazu. Doch die qualifizierte Auseinandersetzung mit der äußeren, auch der inneren Wirklichkeit wird selten gesucht. Was die Auftragssituation angeht, so werden die von den Geldgebern zur Verfügung gestellten Spielräume dankbar genutzt, um ungestört arbeiten zu können. Die Hand, die das Geld reicht, wird nicht mehr gebissen, die polarisierende Wirkung des Zauberworts "achtundsechzig" ist verpufft und hat einer milden Verträglichkeit aller gegen alle Platz gemacht; für eine Verzweiflungskampagne wie die der CDU gegen die bösen Achtundsechziger an der Macht scheint in der Schweiz noch mehr als in Deutschland der nötige öffentiche Rückhalt zu fehlen. Für die schweizerische Musikszene gilt also auch hier: Normalisierung, so weit das Auge reicht.
Nicht auszuschließen ist allerdings, dass es im wohlgeordneten Kultursubventionspark noch immer Komponisten gibt, die plötzlich von jenem untergründigen Ziehen und Grummeln in der Magengrube heimgesucht werden, das schon Wilhelm Tell, den notorischen Querulanten, überfiel, bevor er den Landvogt Gessler terroristischerweise ins Jenseits beförderte. Vielleicht ist dieser schweizerische Mythos eben doch unausrottbar, und aus dem Bauch erwachsen bekanntlich die schönsten kreativen Fantasien.
© 2001 Max Nyffeler
Der Aufsatz ist erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik Nr. 2, März/April, Mainz 2001
Anmerkungen
1. Kulturzeitschrift "Passagen", Nr. 1, Zürich 1985, S. 3 (zurück)
2. Schweizer Revue, Nr. 6, Bern 2000, S. 13 (zurück)
3. Quelle: Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia (http://www.pro-helvetia.ch) (zurück)
Bilder
1. Max Frisch / 2. Adolf Wölfli / 3. Illustration aus "Zivilverteidigung", hrsg. vom Eidg. Justiz- und Polizeidepartement im Auftrag des Bundesrates, Aarau 1969 / 4. Schweizer Touristikwerbung

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