Die vielen Gesichter des Schönen Wundmal, Schimmer, ErkenntnisstrebenZum Problem der Schönheit in der neuen Musik (2)zu Teil (1): Darmstadt und der sterbende Schwan
José Luis de Delás: Die paradoxe Schönheit der Frauenstimmen
... sagt der in Köln lebende Katalane José Luis de Delás (*1928) über das Duett Sophie-Octavian am Schluss des „Rosenkavalier“ [1]. Als junger Komponist gehörte er in Barcelona zum Künstlerkreis um Joan Miró und Antoni Tàpies, stand in den fünfziger Jahren in München in engem Kontakt mit Karl Amadeus Hartmann und will nicht verhehlen, dass er den sinnlichen Aspekten von Schönheit einiges abgewinnen kann. Aber Schönheit erschöpft sich für ihn nicht im Wohlklang. Es ist für ihn eine unerreichbare Utopie. Der Wohlklang ist gebrochen, und das hat für de Delás, der in Spanien noch unter dem Faschismus aufgewachsen ist, eine politische Bedeutung:
Die Schönheit der weiblichen Stimme, sagt José Luis de Delás, hat ihn stets fasziniert, und in seiner 1996 in Köln uraufgeführten Komposition „Les profondeurs de la nuit“ hat er die Verbindung zweier Frauenstimmen, die er am „Rosenkavalier“ so bewundert, auf seine ganz persönliche Weise realisiert. Die Texte stammen von drei Literaten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: vom Spanier Miguel Hernandez, vom Deutschen Erich Mühsam und vom Franzosen Robert Desnos. Auswahl und Verarbeitung der Texte sind charakteristisch für die Art von politischer Ästhetik, die de Delás in seiner Musik zu verwirklichen sucht. Bei "Les profondeurs de la nuit" hat sich das schon in der konzeptionellen Phase intuitiv mit der Vorstellung von Schönheit verbunden.
José Luis de Delás gehört zu denjenigen, die bei den Festivals und Konzertreihen in Deutschland aus unerfindlichen Gründen nicht angemessen berücksichtigt werden. Von solchen Komponistinnen und Komponisten sollen im Folgenden sollen noch einige weitere Schönheitskonzepte vorgestellt werden. Denn nur so ist es möglich, den bekannten Diskussionen und Argumenten, die inzwischen auch schon gehörig breitgetreten worden sind, auch einmal etwas Neues hinzuzufügen. Wenn zunächst trotzdem nochmals auf eine dieser hinlänglich bekannten Diskussionen zurückgekommen wird, dann deshalb, weil sie als modellhaft gelten kann für die Auseinandersetzungen, die im Deutschland der Nachkriegsjahrzehnte um den Begriff der Schönheit geführt wurden. Lachenmann und Henze: Welche Schönheit taugt als Reaktion auf Hitler?In dieser Diskussion ging es um zwei grundsätzlich verschiedene Reaktionsweisen auf die Korrumpierung der Musik und des musikalischen Schönheitsbegriffs durch den Nationalsozialismus. Die unterschiedlichen Reaktionsweisen sind verkörpert in Hans Werner Henze und Helmut Lachenmann. 1982 kam es bei einem Henze-Veranstaltungszyklus an der Stuttgarter Musikhochschule zu einem öffentlichen Wortwechsel zwischen den beiden Komponisten, der die unterschiedlichen Konzepte von Schönheit, die immer auch Konzepte von Traditionsbezug sind, schonungslos offenlegte. Lachenmann warf Henze vor, er benutze eine vermeintlich intakte Sprache, seine Musik lasse die Selbstreflexion ihrer Mittel vermissen und tendiere deswegen zur Idylle. Henze konterte mit dem Hinweis, dass er wie jeder andere Künstler auch das Recht habe, auf seine Weise Utopien zu entwerfen und „glückliche Musik“ zu schreiben, ohne Rücksicht auf irgendwelche ästhetischen Gebote und Verbote. Die Kontroverse ist hinreichend diskutiert und auch dokumentiert worden und soll hier nicht weiter verfolgt werden [2]. Eine kurze Charakterisierung der unterschiedlichen Positionen soll hier aber doch geschehen, da sie, wie gesagt, paradigmatische Bedeutung besitzt für die in Deutschland jahrzehntelang diskutierte Frage, wie neue Musik auf Hitler zu reagieren habe. Die diametral gegensätzlichen Reaktionsweisen von Henze und Lachenmann ließen sich an zwei Werken illustrieren, die die Ästhetik ihrer Autoren beispielhaft widerspiegeln: Henzes Kantate „Being Beauteous“ nach Texten von Arthur Rimbaud (1963) und Lachenmanns „Accanto“ für Klarinette und Orchester (1975/76). Helmut Lachenmanns Schönheitsbegriff setzt an bei der Kritik dessen, was er den „ästhetischen Apparat“ nennt. Darunter versteht er die Gesamtheit der ästhetischen Bedürfnisse und Normen einer Epoche. Im ästhetischen Apparat spiegelt sich für ihn das gesellschaftliche Bewusstsein mit seinen Wertvorstellungen, Tabus und Widersprüchen:
Der Komponist hat sich dieser konflikthaften Situation zu stellen und seine Konsequenzen daraus ziehen:
In „Accanto“ für Klarinette und Orchester hat Helmut Lachenmann diese Strategie der „Verweigerung des Gewohnten“ modellhaft verwirklicht. Es stellt eine Paraphrase von Mozarts Klarinettenkonzert dar, das als Tonkonserve nur in wenigen Momenten flüchtig aus dem geräuschhaften Kontext hervorklingt. Lachenmanns Komposition bildet eine Negativ- oder Hohlform, in der die Schönheit von Mozarts Original verborgen (oder geborgen?) bleibt. Der Komponist will sie damit in eine unerreichbare Ferne rücken und zugleich um hier einen beliebten Ausdruck Adornos zu benutzen auf ihre Verdinglichung hinweisen.
Helmut Lachenmanns Kritik am „ästhetischen Apparat“ und an dem durch ihn konditionierten Hören ist geprägt durch die Ästhetik seines Lehrers Luigi Nono, aber auch durch die Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre, die ebenfalls vehement forderte, dem falschen Bewusstsein der bürgerlichen Ideologie ein richtiges entgegenzusetzen. Lachenmann emphatische Forderung, die Kunst müsse diesen Reflexionsprozess „um der Wahrheit willen“ auf sich nehmen, gerät in seinem moralischen Absolutheitsanspruch in eine ähnliche Falle wie Hegel mit seiner Verabsolutierung des reinen Geistes. Wenn Hegel tendenziell die Kunst der Philosophie unterordnet, so ordnet sie Lachenmann tendenziell der Soziologie und Erziehung unter, indem er sie zum Mittel der Aufklärung über das falsche Bewusstsein erklärt. Das ist der Zeit nach 1968 geschuldet, die sich intensiv mit dem noch immer unaufgearbeiteten nazistischen und im weitesten Sinn bürgerlichen Erbe befasste und hat von daher zweifellos seine historische Notwendigkeit gehabt. Doch inwieweit eine solche Auffassung auch noch Jahrzehnte später Bestand haben kann, sei dahingestellt. Ebenso zeitbedingt und damit relativierungsbedürftig ist Hans Werner Henzes Reaktion auf den Traditionsbruch der Nazizeit und auf die anschließende Verdrängungsphase. Angewidert von den restaurativen fünfziger Jahren verließ er 1953 Deutschland und ließ sich in Italien nieder, wo er sich zum ersten Mal in seinem Leben als Person und Künstler frei entfalten konnte. In den auch für ihn entscheidenden Jahren 1967/68, nicht lange nach "Being Beauteous", notierte er rückblickend:
Die vielfältige Musikkultur Neapels mit ihren archaischen Wurzeln war für Henze Inspirationsquelle und Symbol einer utopisch freien Musik. Sein Schönheitsideal war nicht wie bei Lachenmann das Resultat kritisch-historischer Reflexion, sondern das Resultat existenzieller Erfahrungen als Künstler und Mensch. Es beruhte nicht auf Gebrochenheit, sondern war positive Setzung. Noch in seinem politischen Liederzyklus „Voices“ von 1974 huldigt Henze diesem mediterran- sinnlichen Schönheitsideal. Der verschwenderische Schönklang des Duetts im abschließenden „Blumenfest“ über einen Text von Enzensberger irritierte damals manche, die sich unter „politischer Musik“ etwas ganz anderes vorstellten. Der 80jährige Henze erinnert sich an diese Diskussionen:
Und auf den Hinweis, die damals einem kritischen Materialbegriff verpflichteten Hörer hätten diese Musik als reaktionären Luxus kritisiert, antwortete Henze:
Helmut Lachenmann und Hans Werner Henze: Zwei Komponisten mit extrem gegensätzlichen Vorstellungen von Schönheit, entwickelt in zwei unterschiedlichen Phasen der deutschen Nachkriegsgeschichte, den fünfziger und den siebziger Jahren. Nach dem ideologischen Schaukampf von 1982 hielten sie trotz eines Annäherungsversuchs bei einer späteren Münchener Biennale mürrische Distanz zueinander. In ihrer Kritik an der korrumpierten musikalischen Tradition und dem Bedürfnis, ihr eine andere Praxis entgegenzusetzen, sind sie jedoch ungewollt Brüder im Geiste, auch wenn sie selbst das wohl nicht so sehen. Auch hier gilt, was schon im ersten dieser beiden Texte zum Thema Schönheit festgestellt wurde: Die Frage nach der Schönheit versöhnt nicht, sie spaltet. Christian Wolff: Über den Unterschied von „schön“ und „hübsch“Die Komposition „Basel“ von Christian Wolff, die, wie der Name suggeriert, für Basel gerschrieben und dort im April 2008 uraufgeführt wurde, beginnt mit einer gezielt gesetzten Unschärfe der rhythmischen Konturen. Die flexible Koordination in der Senkrechten lässt den Musikern Spielraum, womit ein improvisatorisches Element wird in der Komposition verankert wird. Der 1934 geborene Komponist, langjähriger Mitarbeiter von John Cage, ist Autor vieler experimenteller Stücke im Zwischenbereich von Komposition und Improvisation und zugleich Kenner der griechischen Philosophie und Literatur. Frage [7] an den Deutsch sprechenden Christian Wolff nach einer Probe am neuen Stück: Spielt Schönheit für Sie eine Rolle?
Auf die Frage nach dem Unterschied von hübsch und schön antwortet Chrisitan Wolff mit einem ausgefallenen Zitat von Aristoteles:
Bei der Frage nach der Schönheit spielt der Aspekt der subjektiven Wahl für Wolff eine zentrale Rolle: Warum entscheide ich mich in einem bestimmten Moment, einem bestimmten Kontext, für A oder für B, wenn A schöner und B hässlicher ist?
Christian Wolff versteht sich zwar nicht als Platoniker, doch sieht er in Platons Theorie des Schönen einige Elemente, die über die Zeiten hinweg Gültigkeit behalten haben.
Bettina Skrzypczak: Schönheit als Einheit von objektiven und subjektiven KräftenZu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch die in Basel lebende Komponistin Bettina Skrzypczak bei ihrer Antwort auf die Frage, ob und wie sich der Aspekt der Schönheit in ihren Kompositionen manifestiere. Ausgangspunkt des Gesprächs [8] war ihr Ensemblestück „Vier Figuren“ (2001), in dem sie sich von den Ideen Alberto Giacomettis inspirieren ließ.
Im Unterschied zu Christian Wolff, der mehr die subjektive Seite betont, sieht sie beim Schönen jedoch ein Zusammenwirken von subjektiven und objektiven Kräften am Werk:
Nach Bettina Skrzypczak fällt der Prozess, in dem sich das Schöne konstituiert, also zunächst einmal mit dem Schaffensvorgang zusammen, doch er findet auch seinen Niederschlag im Inneren des Werks selbst:
Die 2001 uraufgeführte Komposition „Vier Figuren“ für drei im Raum verteilte Gruppen von Instrumentalisten wurde inspiriert durch eine Skulpturengruppe von Alberto Giacometti. Jede dieser Skulpturen, sagt Bettina Skrzypczak, stellt für sich ein geistiges Kraftzentrum dar, und als Ensemble bilden sie im Raum ein Spannungsfeld von unerhörter Dichte. Mit ihrer Komposition „Vier Figuren“ versuchte sie etwas von der geistigen Präsenz dieser Gruppe im Raum einzufangen.
Liza Lim: Das Schimmern einer anderen DimensionZum Schluss eine nicht-europäische Perspektive, um das hier nur skizzierte Panorama der verschiedenen Schönheitskonzepte, wie sie heute zu finden sind, abzurunden. Liza Lim, Australierin chinesischer Herkunft, erzählt auf die Frage, wie sich das Schöne in fernöstlichen Kulturen artikuliert, eine kleine Geschichte, die sie in einem Buch über Architektur und Städteplanung gelesen hat. [9]
Diese Reduktion des Blicks auf das Meer im Zen-Kloster, sagt Liza Lim, ist das Gegenteil von den Villen im australischen Sidney, die mit riesigen Fenstern zum Meer hin orientiert sind. Dort werde der tägliche Blick im Großformat zu einer Selbstverständlichkeit. Er langweile auf Dauer, und die Schönheit des Blicks auf den Ozean werde zur Banalität. Die Geschichte mit dem Zen-Kloster ist für Liza Lim ein Zeichen, dass Schönheit eine Frage des Maßes, der Beschränkung ist. Wenn es um die Frage der Erscheinung von Schönheit in der Musik geht, verweist Liza Lim gerne auf Erfahrungen aus dem Bereich der Cross Culture, also der Konfrontation mit anderen Kulturen. Fasziniert ist sie von der Vorstellung des „Schimmerns“, in dem sich etwas außerhalb der Materie Befindliches manifestiert. Anregungen hat sie von der Denkweise alter Kulturen bezogen.
Dieser chinesische Aspekt des Schönheitsempfindens, die Überfülle, kommt in ihren Kompositionen in Verfahren zum Ausdruck, mit denen sie andeutet, dass hinter dem real vorhandenen Klang stets noch andere Schichten vorhanden sind, die nur punktuell wahrnehmbar sind.
Die Manifestationen des Schönen mögen in den fernöstlichen Kulturen anders aussehen als in Europa. Doch den Auskünften von Liza Lim kann man entnehmen, dass es hier durchaus Parallelen oder sogar Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West gibt. Und in der Betonung des lebensbejahenden, schöpferisch-konstruktiven Aspekts des Schönen, der von Bettina Skrzypczak explizit angesprochen wird und bei Liza Lim ebenfalls anklingt, zeigt sich vielleicht auch ein spezifisches Merkmal weiblicher Ästhetik. Die Tatsache, dass Fragen der Schönheit im Komponieren heute wieder ganz oben auf der Tagesordnung stehen, ist für Liza Lim ein Anlass zu grundsätzlichen Fragen: Wie kommt dieses Gefühl von erhöhter Schwingung, von gesteigerter Aufmerksamkeit zustande, eine der Wirkungen von Schönheit? Was ist überhaupt Schönheit? Die Antwort auf ihre selbstgestellten Fragen:
© 2009 Max Nyffeler Der Text basiert auf der zweiten von zwei Rundfunksendungen zum Thema "Schönheit", ausgestrahlt im SWR 2 am 12.5. und 19.5.2008.
Anmerkungen
[1] Gespräch mit dem Autor, aufgenommen am 5.3.2008 in Köln.
[2] u.a. in: Helmut Lachenmann, Musik als existenzielle Erfahrung, hg. von Josef Häusler, Wiesbaden 1996, S. 331-333 und 407-410. [3] Zum Problem des musikalisch Schönen heute, in: Lachenmann, Musik als existenzielle Erfahrung, S. 104-110. [4] Lachenmann, Musik als existenzielle Erfahrung, S. 389. [5] Hans Werner Henze: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955-1975, München 1976, S. 130. [6] Gespräch mit dem Autor, aufgenommen am 27.4.2007 in Marino. [7] Gespräch mit dem Autor, aufgenommen am 6.4.2008 in Boswil. [8] Gespräch mit dem Autor, aufgenommen am 8.4.2008 in Luzern. [9] Gespräch mit dem Autor, aufgenommen am 10.3.2008 in Berlin. Themen Inhalt
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