Die vielen Gesichter des Schönen – Wundmal, Schimmer, Erkenntnisstreben

Zum Problem der Schönheit in der neuen Musik (2)

zu Teil (1): Darmstadt und der sterbende Schwan

 

José Luis de Delás: Die paradoxe Schönheit der Frauenstimmen

Diese wunderbare Stelle mit den zwei Frauenstimmen: Ist das grandios! Das ist diese hedonistische Schönheit, die ich unglaublich schätze, obwohl meine Beziehung zu Richard Strauss sonst nicht so enthusiastisch ist. Aber trotzdem, diese Stelle ist großartig...

... sagt der in Köln lebende Katalane José Luis de Delás (*1928) über das Duett Sophie-Octavian am Schluss des „Rosenkavalier“ [1]. Als junger Komponist gehörte er in Barcelona zum Künstlerkreis um Joan Miró und Antoni Tàpies, stand in den fünfziger Jahren in München in engem Kontakt mit Karl Amadeus Hartmann und  will nicht verhehlen, dass er den sinnlichen Aspekten von Schönheit einiges abgewinnen kann.

Aber Schönheit erschöpft sich für ihn nicht im Wohlklang. Es ist für ihn eine unerreichbare Utopie. Der Wohlklang ist gebrochen, und das hat für de Delás, der in Spanien noch unter dem Faschismus aufgewachsen ist, eine politische Bedeutung:

Eine Sache, die mich sehr interessiert – und das findet man in allen meinen Stücken – das ist ein dialektisches Prinzip: Es gibt Momente, wo es schön klingt, dann kommen Störungen und es gibt Prozesse, in denen etwas beginnt, härter zu werden, verzerrter, bis zum Zerbrechen. Es zerbricht – ich will nicht sagen: es wird hässlich. Aber aggressiv schon. Da spielt etwas hinein, das bei mir schon immer eine Rolle gespielt hat, und das ist die politische Seite. „Politisch“ bedeutet für mich: Kritik, Widerstand. Das heißt nicht, dass ich durch die Musik bestimmte Inhalte konkreter Natur übermittle. Man kann nicht musikalisch unterscheiden, ob man sozialdemokratisch fühlt etc. Aber mit „politisch“ im Sinne des Widerstands meine ich, dass man mit der Realität, so wie sie ist, nicht einverstanden ist.        

Die Schönheit der weiblichen Stimme, sagt José Luis de Delás, hat ihn stets fasziniert, und in seiner 1996 in Köln uraufgeführten Komposition „Les profondeurs de la nuit“ hat er die Verbindung zweier Frauenstimmen, die er am „Rosenkavalier“ so bewundert, auf seine ganz persönliche Weise realisiert. Die Texte stammen von drei Literaten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: vom Spanier Miguel Hernandez, vom Deutschen Erich Mühsam und vom Franzosen Robert Desnos. Auswahl und Verarbeitung der Texte sind charakteristisch für die Art von politischer Ästhetik, die de Delás in seiner Musik zu verwirklichen sucht. Bei "Les profondeurs de la nuit" hat sich das schon in der konzeptionellen Phase intuitiv mit der Vorstellung von Schönheit verbunden.

Ich wusste, dass es ein Auftrag für ein Instrumentalensemble war, und merkwürdigerweise hörte ich den Klang dieser Instrumente mit zwei Frauenstimmen. Und dann kam sehr bald die Idee mit drei Sprachen: Spanisch mit Hernández, Deutsch mit Mühsam und Französisch mit Desnos. Das war alles unbewusst. Dann, irgendwie, ist mir bewusst geworden, dass alle drei Opfer der Gewalt, des Faschismus geworden waren: Hernández wurde von Franco umgebracht. Erich Mühsam im KZ in Oranienburg, schon 1934 von der SS. Er wollte an die Frau einen Brief schreiben, und die haben ihm gesagt: Ja, tun Sie es. Und als er zu schreiben anfing, haben sie ihm mit den Gewehrkolben die Hände zertrümmert. Robert Desnos kam auch in ein Lager irgendwo in Polen, weil er in der Résistance war, und starb dort. Das sind diese Elemente. Beides waren intuitive Entscheidungen, die Beziehung zur Literatur und auch das, was das Thema Schönheit betrifft – die Frauenstimmen.
Einerseits dieser Wohlklang, und dann die verzerrte Schönheit des Protestes, die es in diesem Stück gibt: Durch das tragische Schicksal der drei Schriftsteller offenbart sich die Welt der Grausamkeit, der Gewalt und des Schreckens. Und das ist eine paradoxe Form der Schönheit.

José Luis de Delás gehört zu denjenigen, die bei den Festivals und Konzertreihen in Deutschland aus unerfindlichen Gründen nicht angemessen berücksichtigt werden. Von solchen Komponistinnen und Komponisten sollen im Folgenden sollen noch einige weitere Schönheitskonzepte vorgestellt werden. Denn nur so ist es möglich, den bekannten Diskussionen und Argumenten, die inzwischen auch schon gehörig breitgetreten worden sind, auch einmal etwas Neues hinzuzufügen.

Wenn zunächst trotzdem nochmals auf eine dieser hinlänglich bekannten Diskussionen zurückgekommen wird, dann deshalb, weil sie als modellhaft gelten kann für die Auseinandersetzungen, die im Deutschland der Nachkriegsjahrzehnte um den Begriff der Schönheit geführt wurden.

Lachenmann und Henze: Welche Schönheit taugt als Reaktion auf Hitler?

In dieser Diskussion ging es um zwei grundsätzlich verschiedene Reaktionsweisen auf die Korrumpierung der Musik und des musikalischen Schönheitsbegriffs durch den Nationalsozialismus. Die unterschiedlichen Reaktionsweisen sind verkörpert in Hans Werner Henze und Helmut Lachenmann. 1982 kam es bei einem Henze-Veranstaltungszyklus an der Stuttgarter Musikhochschule zu einem öffentlichen Wortwechsel zwischen den beiden Komponisten, der die unterschiedlichen Konzepte von Schönheit, die immer auch Konzepte von Traditionsbezug sind, schonungslos offenlegte. Lachenmann warf Henze vor, er benutze eine vermeintlich intakte Sprache, seine Musik lasse die Selbstreflexion ihrer Mittel vermissen und tendiere deswegen zur Idylle. Henze konterte mit dem Hinweis, dass er – wie jeder andere Künstler auch – das Recht habe, auf seine Weise Utopien zu entwerfen und „glückliche Musik“ zu schreiben, ohne Rücksicht auf irgendwelche ästhetischen Gebote und Verbote.

Die Kontroverse ist hinreichend diskutiert und auch dokumentiert worden und soll hier nicht weiter verfolgt werden [2]. Eine kurze Charakterisierung der unterschiedlichen Positionen soll hier aber doch geschehen, da sie, wie gesagt, paradigmatische Bedeutung besitzt für die in Deutschland jahrzehntelang diskutierte Frage, wie neue Musik auf Hitler zu reagieren habe. Die diametral gegensätzlichen Reaktionsweisen von Henze und Lachenmann ließen sich an zwei Werken illustrieren, die die Ästhetik ihrer Autoren beispielhaft widerspiegeln: Henzes Kantate „Being Beauteous“ nach Texten von Arthur Rimbaud (1963) und Lachenmanns „Accanto“ für Klarinette und Orchester (1975/76).

Helmut Lachenmanns Schönheitsbegriff setzt an bei der Kritik  dessen, was er den „ästhetischen Apparat“ nennt. Darunter versteht er die Gesamtheit der ästhetischen Bedürfnisse und Normen einer Epoche. Im ästhetischen Apparat spiegelt sich für ihn das gesellschaftliche Bewusstsein mit seinen Wertvorstellungen, Tabus und Widersprüchen:

Der ästhetische Apparat verkörpert beides: das Bedürfnis des Menschen nach Schönheit und zugleich seine Flucht vor der Wirklichkeit; er verkörpert die Sehnsucht  des Menschen nach Freiheit und zugleich seine Angst vor ihr. [3]

Der Komponist hat sich dieser konflikthaften Situation zu stellen und seine Konsequenzen daraus ziehen:

So gilt es, die Postulate des Schönen heute unter den Aspekt einer Verantwortung zu stellen, die in aller Konsequenz darauf insistiert, zu wissen, was sie tut. Dies ist die wesentliche und neue Komponente eines Schönheitsbegriffs für uns heute, dass nämlich Kunst und ihre Funktion der Verweigerung des Gewohnten und des Verdinglichten und ihre Funktion der Bewusstmachung des bürgerlichen Widerspruchs nicht länger blind erfüllt, sondern dies als ihre Aufgabe erkennt und um der Wahrheit willen und im Hinblick auf das humane Potenzial dieses Widerstands diese Aufgabe auf sich nimmt.

In „Accanto“ für Klarinette und Orchester hat Helmut Lachenmann diese Strategie der „Verweigerung des Gewohnten“ modellhaft verwirklicht. Es stellt eine Paraphrase von Mozarts Klarinettenkonzert dar, das als Tonkonserve nur in wenigen Momenten flüchtig aus dem geräuschhaften Kontext hervorklingt. Lachenmanns Komposition bildet eine Negativ- oder Hohlform, in der die Schönheit von Mozarts Original verborgen (oder geborgen?) bleibt. Der Komponist will sie damit in eine unerreichbare Ferne rücken und zugleich – um hier einen beliebten Ausdruck Adornos zu benutzen – auf ihre Verdinglichung hinweisen.

Das Mozartsche Klarinettenkonzert ist mir Inbegriff von Schönheit, Humanität, Reinheit, aber auch – und zugleich – Beispiel eines zum Fetisch gewordenen Mittels zur Flucht vor sich selbst; eine ‚Kunst’, scheinbar ‚mit der Menschheit auf Du und Du’, in Wirklichkeit zur Ware geworden für eine Gesellschaft mit der Kunst auf Oh und Ah. [4]

Helmut Lachenmanns Kritik am „ästhetischen Apparat“ und an dem durch ihn konditionierten Hören ist geprägt durch die Ästhetik seines Lehrers Luigi Nono, aber auch durch die Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre, die ebenfalls vehement forderte, dem falschen Bewusstsein der bürgerlichen Ideologie ein richtiges entgegenzusetzen. Lachenmann emphatische Forderung, die Kunst müsse diesen Reflexionsprozess „um der Wahrheit willen“ auf sich nehmen, gerät in seinem moralischen Absolutheitsanspruch in eine ähnliche Falle wie Hegel mit seiner Verabsolutierung des reinen Geistes. Wenn Hegel tendenziell die Kunst der Philosophie unterordnet, so ordnet sie Lachenmann tendenziell der Soziologie und Erziehung unter, indem er sie zum Mittel der Aufklärung über das falsche Bewusstsein erklärt. Das ist der Zeit nach 1968 geschuldet, die sich intensiv mit dem noch immer unaufgearbeiteten nazistischen und im weitesten Sinn bürgerlichen Erbe befasste und hat von daher zweifellos seine historische Notwendigkeit gehabt. Doch inwieweit eine solche Auffassung auch noch Jahrzehnte später Bestand haben kann, sei dahingestellt.

Ebenso zeitbedingt und damit relativierungsbedürftig ist Hans Werner Henzes Reaktion auf den Traditionsbruch der Nazizeit und auf die anschließende Verdrängungsphase. Angewidert von den restaurativen fünfziger Jahren verließ er 1953 Deutschland und ließ sich in Italien nieder, wo er sich zum ersten Mal in seinem Leben als Person und Künstler frei entfalten konnte. In den auch für ihn entscheidenden Jahren 1967/68, nicht lange nach "Being Beauteous", notierte er rückblickend:

Die Deutschen, die mich während meines ganzen bisherigen Lebens kaputtgemacht hatten, die Strafenden, Prügler, Hetzer in Rudeln, Denunzianten, Stiefelprinzipale, unheilbare Faschisten, sollten mich nicht mehr erreichen. Ich würde sowieso nichts gegen sie ausrichten, bin kein Kämpfer, will kein Sieger sein. Wenn sie mich in Ruhe ließen, würde ich zur Ruhe kommen, würde Italiener werden, mich einigeln in diese alte Kultur, von der die Deutschen nur aus Lesebüchern wissen. Menschliche Wärme, freundschaftliche Treue und Selbstlosigkeit habe ich erst hier kennengelernt, hier gibt es Verzeihen, Nachsicht, eine normale Freundlichkeit, die ohne besonderen Anlass und nicht erst nach dem Genuss einiger Maß Bier in Funktion tritt. (...) Und hier erst habe ich deutsche Literatur lesen können, an meine Kindheit mich erinnert, deutsche Musik von früher studiert. [5]

Die vielfältige Musikkultur Neapels mit ihren archaischen Wurzeln war für Henze Inspirationsquelle und Symbol einer utopisch freien Musik. Sein Schönheitsideal war nicht wie bei Lachenmann das Resultat kritisch-historischer Reflexion, sondern das Resultat existenzieller Erfahrungen als Künstler und Mensch. Es beruhte nicht auf Gebrochenheit, sondern war positive Setzung. Noch in seinem politischen Liederzyklus „Voices“ von 1974 huldigt Henze diesem mediterran- sinnlichen Schönheitsideal. Der verschwenderische Schönklang des Duetts im abschließenden „Blumenfest“ über einen Text von Enzensberger irritierte damals manche, die sich unter „politischer Musik“ etwas ganz anderes vorstellten. Der 80jährige Henze erinnert sich an diese Diskussionen:

Es fängt damit an, dass dieses Gedicht von Enzensberger die Übersetzung eines Inka-Gedichts ist. Es ist nicht Enzensberger selber, sondern nur eine Übersetzungsarbeit von ihm. Und dieser Luxus von Blumen und immer mehr Blumen, das hat etwas zu tun mit der Inka-Folklore. Das ist nicht ganz klar geworden. Ich habe dieses Duett in einem Vormittag geschrieben. Ich habe es sehr geliebt. Auch die Leichtigkeit meiner Arbeit. Einer der wenigen Fälle, wo es leicht ging. [6]

Und auf den Hinweis, die damals einem kritischen Materialbegriff verpflichteten Hörer hätten diese Musik als reaktionären Luxus kritisiert, antwortete Henze:

Viele haben das so gesehen. Ich nicht, ich habe das wunderschön empfunden und tue das immer noch.

Helmut Lachenmann und Hans Werner Henze: Zwei Komponisten mit extrem gegensätzlichen Vorstellungen von Schönheit, entwickelt in zwei unterschiedlichen Phasen der deutschen Nachkriegsgeschichte, den fünfziger und den siebziger Jahren. Nach dem ideologischen Schaukampf von 1982 hielten sie – trotz eines Annäherungsversuchs bei einer späteren Münchener Biennale – mürrische Distanz zueinander. In ihrer Kritik an der korrumpierten musikalischen Tradition und dem Bedürfnis, ihr eine andere Praxis entgegenzusetzen, sind sie jedoch ungewollt Brüder im Geiste, auch wenn sie selbst das wohl nicht so sehen. Auch hier gilt, was schon im ersten dieser beiden Texte zum Thema Schönheit festgestellt wurde: Die Frage nach der Schönheit versöhnt nicht, sie spaltet.

Christian Wolff: Über den Unterschied von „schön“ und „hübsch“

Die Komposition „Basel“ von Christian Wolff, die, wie der Name suggeriert, für Basel gerschrieben und dort im April 2008 uraufgeführt wurde, beginnt mit einer gezielt gesetzten Unschärfe der rhythmischen Konturen. Die flexible Koordination in der Senkrechten lässt den Musikern Spielraum, womit ein improvisatorisches Element wird in der Komposition verankert wird. Der 1934 geborene Komponist, langjähriger Mitarbeiter von John Cage, ist Autor vieler experimenteller Stücke im Zwischenbereich von Komposition und Improvisation und zugleich Kenner der griechischen Philosophie und Literatur.

Frage [7] an den Deutsch sprechenden Christian Wolff nach einer Probe am neuen Stück: Spielt Schönheit für Sie eine Rolle?

Ja klar, zum Beispiel heute. Wir haben jetzt versucht, einen Teil dieses neuen Stücks durchzuspielen. Es ist mir eigentlich noch zu schön. Die Musiker machen das noch zu raffiniert, zu delikat. Ich wollte auch irgendwie einen scharfen, aber nicht unbedingt hässlichen Klang – irgend etwas, was es durchschneidet. Man könnte auch sagen: In einem absoluten Sinn verstanden ist das, was sie machen, nicht schön. Auf Englisch ist es „pretty“ – hübsch. Das ist ein Unterschied.

Auf die Frage nach dem Unterschied von hübsch und schön antwortet Chrisitan Wolff mit einem ausgefallenen Zitat von Aristoteles:

Man könnte sagen: „pretty“ ist oberflächlich. Es macht einen schönen Eindruck, aber es fehlt... – na ja, ich habe dafür keine Definition. Es fehlt eine gewisse Stärke. Aristoteles zum Beispiel sagt: Ein kleiner Mann kann nicht schön sein. Es braucht eine gewisse Dimension. Zur Schönheit gehört eine Art Stärke oder Substanz. Es hat nicht so sehr mit dem Geist zu tun, es ist auf jeden Fall eine subjektive Sache. Erstens ist es subjektiv, zweitens eine Frage des Kontexts. Ein Beispiel – etwas, das ich zum ersten Mal bei Bach gemerkt habe, dann aber auch bei mir selbst – ist die Oktave. Es ist vielleicht weniger eine Frage von schön und nicht schön als von eher harmonisch und nicht harmonisch. Man denkt, es gäbe keinen besseren, reineren Klang als den der Oktave. Aber in einem gewissen Kontext kann die Oktave als Dissonanz wirken. Der Kontext ist eine radikale Instanz mit relativierender Wirkung: Was abstrakt gesehen als Klang von höchster Reinheit erscheint, wirkt in einem besonderen Kontext als Dissonanz.

Bei der Frage nach der Schönheit spielt der Aspekt der subjektiven Wahl für Wolff eine zentrale Rolle: Warum entscheide ich mich in einem bestimmten Moment, einem bestimmten Kontext, für A oder für B, wenn A schöner und B hässlicher ist?

Also ich wähle zum Beispiel A, weil ich sehe, was vorher passiert ist; ich denke an das Stück als Ganzes. Darin können auch hässliche Sachen vorkommen, aber der Effekt im Ganzen soll doch schön sein. Wenn ein Stück nur schön ist, geht es wieder in das „pretty“, ins Hübsche über, oder es wird einfach zu einer Nachspeise, die zu süß ist. Das ist dann auch nichts. Ich würde sagen, es ist eine Frage des Gleichgewichts. Gleichgewicht besitzt immer ein Element von Spannung. Für mich würde ich sagen, dass Schönheit in der Kunst etwas mit Spannung zu tun hat. Also ist es auch eine Angelegenheit von Prozess, man könnte fast sagen, von Dialektik (lacht). Nicht von einem Objekt; das ist sowieso in der Musik nicht der Fall.

Christian Wolff versteht sich zwar nicht als Platoniker, doch sieht er in Platons Theorie des Schönen einige Elemente, die über die Zeiten hinweg Gültigkeit behalten haben.

Ich glaube, es hat mit einer Art Befriedigung zu tun. Schön ist, was einem irgendwie gut tut. Bei Platon hat das Schöne mit Begehren zu tun, mit Eros. Es ist immer ein Ziel, zu dem man drängt. Ich gebe mehr auf das Drängen als auf das Objekt. Was ein Objekt in der Komposition sein soll, wüßte ich nicht.

Bettina Skrzypczak: Schönheit als Einheit von objektiven und subjektiven Kräften

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch die in Basel lebende Komponistin Bettina Skrzypczak bei ihrer Antwort auf die Frage, ob und wie sich der Aspekt der Schönheit in ihren Kompositionen manifestiere. Ausgangspunkt des Gesprächs [8] war ihr Ensemblestück „Vier Figuren“ (2001), in dem sie sich von den Ideen Alberto Giacomettis inspirieren ließ.

Ich verstehe unter Schönheit nicht eine bestimmte Erscheinung, sondern es ist ein Prozess – genauer gesagt: das Schöne zu entdecken ist ein Prozess. Verschiedene Ansatzpunkte, verschiedene Sichtweisen, verschiedene Wege führen dazu, dass ich etwas anstrebe, das ich bewundere und empfinde. Es ist vielleicht auch etwas, das sich außerhalb von mir befindet, das aber ich nicht definieren kann.

Im Unterschied zu Christian Wolff, der mehr die subjektive Seite betont, sieht sie beim Schönen jedoch ein Zusammenwirken von subjektiven und objektiven Kräften am Werk:

Ich habe nicht den Eindruck, dass es eine subjektive Empfindung ist, sondern dass es so viele Gesichter hat, dass wir nicht imstande sind, es als Ganzes zu definieren. Wir sehen nur immer Ausschnitte davon. Und jede Epoche, jeder Mensch, auch jeder Künstler, versucht auf sehr konzentrierte Weise eines von diesen Gesichtern, von diesen Teilen des Schönen – oder vom eigenen Weg, durch den er oder sie es entdeckt – für sich zu definieren. In dem Sinne bedeutet das für mich kompositorisch: Zuerst wage ich es, mich auf etwas einzulassen, das mich vielleicht überwältigt oder überrascht, und dann versuche ich, mit meinen Mitteln Zugang zu ihm zu finden.

Man könnte vielleicht sagen, das Schöne liegt auch außerhalb von uns und sucht uns manchmal heim. Nicht nur wir suchen das Schöne, sondern das Schöne sucht uns. Und an uns liegt es, dass wir darauf reagieren, auf dieses Etwas, das uns von außen anspricht. Das meine ich, wenn ich vom Prozess der Entdeckung des Schönen spreche. Und deswegen denke ich, dass es etwas sehr Dynamisches an sich hat und das Gegenteil von Statik ist. Noch konkreter: Das Schöne hat etwas mit Konstruktion, mit Konstruieren oder Aufbauen zu tun, im Gegensatz zum Hässlichen, das eher mit Destruktion oder Statischem zu tun hat und auch Zerfall, schließlich sogar Tod bedeutet. Das Schöne wäre in diesem Fall das Leben.

Das Schöne ist für mich etwas, das uns und unsere Aufmerksamkeit auf eine ganz bestimmte Weise anzieht. Es kann eine berauschende Wirkung haben und macht auch hungrig nach mehr. Damit beginnt dieser Entdeckungsprozess, und das Noch-Mehr-Kennenwollen oder Noch-Mehr-Entdeckenwollen des Schönen führt dazu, dass wir uns auf den Weg machen und weiter suchen. Deswegen verstehe ich das als Erkenntnisprozess.

Nach Bettina Skrzypczak fällt der Prozess, in dem sich das Schöne konstituiert, also zunächst einmal mit dem Schaffensvorgang zusammen, doch er findet auch seinen Niederschlag im Inneren des Werks selbst:

Das Dynamische, dieser Weg oder Prozess, durch den ich das Schöne suche, manifestiert sich wahrscheinlich in den kompositorischen Mitteln, mit denen ich komponiere. Ich kann das nicht auf konkrete Strukturen oder Klänge reduzieren. Aber das ganze Konzept der Betrachtung des Klangs oder der musikalischen Materie hängt damit zusammen.

Die 2001 uraufgeführte Komposition „Vier Figuren“ für drei im Raum verteilte Gruppen von Instrumentalisten wurde inspiriert durch eine Skulpturengruppe von Alberto Giacometti. Jede dieser Skulpturen, sagt Bettina Skrzypczak, stellt für sich ein geistiges Kraftzentrum dar, und als Ensemble bilden sie im Raum ein Spannungsfeld von unerhörter Dichte. Mit ihrer Komposition „Vier Figuren“ versuchte sie etwas von der geistigen Präsenz dieser Gruppe im Raum einzufangen.

In diesem Stück bin ich einerseits von etwas Geheimnisvollem, Überwältigendem angesprochen, nämlich den Skulpturen Giacomettis, und andererseits versuche ich das innere Leben dieser Skulpturen zu entdecken. Es gibt also zwei Faktoren – etwas, was mich als Gesamtes anspricht, und das Bedürfnis, es im Detail zu erforschen und zu entdecken. Das Schöne als großer Komplex, und das Schöne, das von innen heraus leuchtet und dieses Gesamtbild sozusagen belebt. Und da zeigt es sich, dass die beiden Seiten eigentlich eine Einheit bilden. Man kann das Detail vom Großen und Ganzen nicht trennen. So spricht darüber auch Giacometti, und da stimme ich mit ihm überein. Seine Gedanken haben mich bewegt, weil sie meinen eigenen entsprechen. Und so entstand eine Art Netz zwischen seinen Skulpturen und meiner kompositorischen Welt.

Liza Lim: Das Schimmern einer anderen Dimension

Zum Schluss eine nicht-europäische Perspektive, um das hier nur skizzierte Panorama der verschiedenen Schönheitskonzepte, wie sie heute zu finden sind, abzurunden. Liza Lim, Australierin chinesischer Herkunft, erzählt auf die Frage, wie sich das Schöne in fernöstlichen Kulturen artikuliert, eine kleine Geschichte, die sie in einem Buch über Architektur und Städteplanung gelesen hat. [9]

Es geht um ein Zen-Kloster auf einem Berg hoch über der Meeresküste. Wenn man durch das Tor eintritt, ist man umgeben von hohen Mauern und sieht das Meer nicht mehr. Aber wenn man drinnen angekommen ist, gibt es einen kleinen Fensterschlitz in der Mauer, und durch ihn kann man einen kleinen Blick auf das Meer werfen. Da man nie das ganze Meer, sondern immer nur Bruchstücke davon sehen kann, bleibt der Eindruck des Gesehenen stets lebendig.

Diese Reduktion des Blicks auf das Meer im Zen-Kloster, sagt Liza Lim, ist das Gegenteil von den Villen im australischen Sidney, die mit riesigen Fenstern zum Meer hin orientiert sind. Dort werde der tägliche Blick im Großformat zu einer Selbstverständlichkeit. Er langweile auf Dauer, und die Schönheit des Blicks auf den Ozean werde zur Banalität. Die Geschichte mit dem Zen-Kloster ist für Liza Lim ein Zeichen, dass Schönheit eine Frage des Maßes, der Beschränkung ist.

Wenn es um die Frage der Erscheinung von Schönheit in der Musik geht, verweist Liza Lim gerne auf Erfahrungen aus dem Bereich der Cross Culture, also der Konfrontation mit anderen Kulturen. Fasziniert ist sie von der Vorstellung des „Schimmerns“, in dem sich etwas außerhalb der Materie Befindliches manifestiert. Anregungen hat sie von der Denkweise alter Kulturen bezogen.

In der Kultur der australischen Ureinwohner spielt die Idee des „Schimmers“ eine zentrale Rolle: Was die Eigenschaft des Glänzens oder Schimmerns besitzt, gilt als wertvoll, als schön, denn in ihm manifestiert sich eine jenseitige Kraft. Und Schönheit ist verbunden mit Wohlergehen, Geisteskraft und Lebensenergie. In der chinesischen Kultur sind diese Qualitäten symbolisiert durch die Farbe Rot.

Aber es gibt in der chinesischen Kultur auch das Phänomen der großen Intensität und der Verdichtung: die Überfülle des Ausdrucks. Das bricht zum Beispiel bei chinesischen Festen hervor, wo es sehr viel von allem gibt. Jede Oberfläche ist dekoriert und in leuchtenden Farben ausgeschmückt. Aus westlicher Sicht mag das vielleicht manchmal als Überladung empfunden werden.

Dieser chinesische Aspekt des Schönheitsempfindens, die Überfülle, kommt in ihren Kompositionen in Verfahren zum Ausdruck, mit denen sie andeutet, dass hinter dem real vorhandenen Klang stets noch andere Schichten vorhanden sind, die nur punktuell wahrnehmbar sind.

Woran ich besonders interessiert bin in meiner Musik, ist das Erzeugen von verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung – wenn etwas sich enthüllt und dann wieder verschwindet. Und man erhascht nur einen Moment. Es kann unterirdisch weitergehen und dann wieder auftauchen. Man sieht es vielleicht nicht direkt, vielleicht nur als ein Flackern auf der Oberfläche. Diese beschreibenden Analogien habe ich benutzt, um die Formprozesse in meiner eigenen Musik zu begreifen.

Die Manifestationen des Schönen mögen in den fernöstlichen Kulturen anders aussehen als in Europa. Doch den Auskünften von Liza Lim kann man entnehmen, dass es hier durchaus Parallelen oder sogar Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West gibt. Und in der Betonung des lebensbejahenden, schöpferisch-konstruktiven Aspekts des Schönen, der von Bettina Skrzypczak explizit angesprochen wird und bei Liza Lim ebenfalls anklingt, zeigt sich vielleicht auch ein spezifisches Merkmal weiblicher Ästhetik.

Die Tatsache, dass Fragen der Schönheit im Komponieren heute wieder ganz oben auf der Tagesordnung stehen, ist für Liza Lim ein Anlass zu grundsätzlichen Fragen: Wie kommt dieses Gefühl von erhöhter Schwingung, von gesteigerter Aufmerksamkeit zustande, eine der Wirkungen von Schönheit? Was ist überhaupt Schönheit? Die Antwort auf ihre selbstgestellten Fragen:        

Es ist eine Art Sinnenfreude. Und in der Oper, die ich gerade [Frühjahr 2008] fertiggestellt habe, „The Navigator“, hat Schönheit diese Funktion der sinnlichen Erhebung. Der Inhalt dreht sich zum Teil um die Suche – die Suche nach Schönheit, nach einer bestimmten Art von transzendenter Erfahrung, von gesteigertem Leben. Es geht um Eros, Begehren, Verlangen, Sehnsucht – ich versuche jene Momente zu finden, in denen sich die Dinge zu einem Raum der Transzendenz, zu einer Art ekstatischer Erfahrung öffnen.

© 2009 Max Nyffeler

Der Text basiert auf der zweiten von zwei Rundfunksendungen zum Thema "Schönheit", ausgestrahlt im SWR 2 am 12.5. und 19.5.2008.
zu Teil (1): Darmstadt und der sterbende Schwan

 

Anmerkungen

[1] Gespräch mit dem Autor, aufgenommen am 5.3.2008 in Köln.
[2] u.a. in: Helmut Lachenmann, Musik als existenzielle Erfahrung, hg. von Josef Häusler, Wiesbaden 1996, S. 331-333 und 407-410.
[3] Zum Problem des musikalisch Schönen heute, in: Lachenmann, Musik als existenzielle Erfahrung, S. 104-110.
[4] Lachenmann, Musik als existenzielle Erfahrung, S. 389.
[5] Hans Werner Henze: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955-1975, München 1976, S. 130.
[6] Gespräch mit dem Autor, aufgenommen am 27.4.2007 in Marino.
[7] Gespräch mit dem Autor, aufgenommen am 6.4.2008 in Boswil.
[8] Gespräch mit dem Autor, aufgenommen am 8.4.2008 in Luzern.
[9] Gespräch mit dem Autor, aufgenommen am 10.3.2008 in Berlin.

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