Darmstadt und der sterbende Schwan

Zum Problem der Schönheit in der neuen Musik (1)

zu Teil (2): Die vielen Gesichter des Schönen

 

Die Frage nach dem Schönen hat Philosophen und Künstler Jahrtausende lang beschäftigt. In jeder Epoche haben sie sie unterschiedlich beantwortet und auch mit unterschiedlicher Intensität diskutiert. Nie aber ist sie ihnen gänzlich aus dem Gesichtfeld geraten. Im frühen 20. Jahrhundert, scheint es, hat sich das erstmals grundlegend geändert, zumindest in der Kultur Mittel-  und Westeuropas. Schönheit, wenn sie überhaupt noch ein Gesprächsgegenstand war, wurde vorwiegend nur noch negativ – in schmerzvoller Verzerrung, ironisch oder als Karikatur – wahrgenommen. Arnold Schönberg spottete 1911 in seiner Harmonielehre: „Schönheit beginn dort, wo die Unproduktiven sie zu vermissen beginnen.“

Die Negation der Schönheit war das deutlichste Symptom für die geistige Krise, die sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs wie ein kulturelles Wetterleuchten am europäischen Horizont bemerkbar machte und sich dann 1914 zur Kriegskatastrophe ausweitete. Als Konsequenz  kündigte die Musik – wie alle andern Künste – den Pakt mit dem Publikum auf und zog sich auf eine Position der radikalen Verweigerung zurück. Die Schönheit hatte abgedankt. An ihre Stelle trat der unverstellte Ausdruck des innerlich zerrütteten Subjekts. Er wurde als wahrhaftiger empfunden als der Versuch, die an die untergehende Gesellschaft gebundenen Schönheitsideale noch einmal zu beleben.

Benjamins Abschied von der Blauen Blume

Für den Wandel des Schönheitsbegriffs in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg steht beispielhaft ein Werk wie Schönbergs Orchesterstücke op. 16. Seine Auffassung, Kunst müsse in erster Linie wahr und nicht schön sein, prägte das musikalische Denken für die folgenden Jahrzehnte nachhaltig, nicht zuletzt unter dem verstärkenden Einfluss Adornos, der Schönheit konsequent negativ begriff. Und Walter Benjamin war 1927 überzeugt, dass der romantische Traum, noch bei Schumann ein Ort der Poesie und Schönheit, nur noch dazu da war, entzaubert zu werden:

„Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut’ als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muss verschlafen haben. Die Geschichte des Traumes bleibt noch zu schreiben, und Einsicht in sie eröffnen, hieße, den Aberglauben der Naturbefangenheit durch die historische Erleuchtung entscheidend schlagen. Das Träumen hat an der Geschichte teil. Die Traumstatistik würde jenseits der Lieblichkeit der anekdotischen Landschaft in die Dürre eines Schlachtfeldes vorstoßen. Träume haben Kriege befohlen und Kriege vor Urzeiten Recht und Unrecht, ja Grenzen der Träume gesetzt. – Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale.“[1]

Die am Horizont erscheinende Banalität erblickt Benjamin im Surrealismus eines Max Ernst und von allem von André Breton, der die Dinge an der abgegriffensten Seite noch einmal anpacke und mit absurden Sinnsprüchen garniere. In den forcierten surrealistischen Träumen entpuppen sich nach Benjamin die Dinge als Kitsch. Der Kitsch als letzte Maske des Banalen habe die Stelle der Kunst, die sich auf den Traum beruft, usurpiert.

„Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei Meter vom Körper entfernt. Nun aber rückt im Kitsch die Dingwelt auf den Menschen zu; sie ergibt sich seinem tastenden Griff und bildet schließlich in seinem Inneren ihre Figuren. Der neue Mensch hat alle Quintessenz der alten Formen in sich, und was in der Auseinandersetzung mit einer Umwelt aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sich bildet, in Träumen wie in Satz und Bild gewisser Künstler, ist ein Wesen, das der ‚möblierte Mensch’ zu nennen wäre.“[2]

Walter Benjamin zelebriert den Abschied von der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts mit einem leisen Unterton der Trauer und im Bewusstsein, dass davon nichts mehr zurückzuholen ist. Warnungen vor  unbefangenem Träumen und einem unreflektierten Traditionsbezug wurden indes damals nicht nur von ihm ausgesprochen.

Adorno schlug in die gleiche Kerbe: „Real verlorene Tradition ist nicht ästhetisch zu surrogieren“, und stellte apodiktisch fest: „Das Verhältnis zur Tradition setzt sich um in einen Kanon des Verbotenen.“[3]

Ein Satz mit langer Nachwirkung. Für die Künstler wurde es nun schwierig, sich überhaupt noch mit Fragen des Schönen zu befassen. Kitschverdacht und Traditionstabu lasteten schwer auf jedem Versuch. Die weitere geschichtliche Entwicklung schien den Skeptikern Recht zu geben. Die Zeit des Nationalsozialismus brach an und damit eine Periode der unverschämtesten Ausplünderung aller kulturellen Werte, die die vergangenen Jahrhunderte geschaffen hatten. Ereignisse wie der alljährliche Auftritt der Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler an Führers Geburtstag mit Beethovens Neunter sorgten dafür, dass nach 1945 die Botschaft von der Freude, dem schönen Götterfunken, zur schrillen Dissonanz verkommen musste.

In Darmstadt wird aufgeräumt

Nach 1945 herrschte in Deutschland auch  musikalisch der Zustand der so genannten „Stunde Null“ – ein Ausdruck, der gewiss so nicht stimmte, aber eine Tendenz im gesellschaftlichen Denken jener Jahre bezeichnete. Man wollte neu anfangen und das Vergangene möglichst schnell und reibungslos ad acta legen. Für die neue Musik wurde Darmstadt der Ort, wo das am konsequentesten eingeübt wurde, mit Auswirkungen auf die internationale musikalische Entwicklung. Ohne Vergangenheitsbezug ging das selbstverständlich auch hier nicht, aber die Anknüpfungspunkte waren, nach den ersten Jahren der Orientierungssuche, sehr überschaubar: Es war vor allem die Zwölftontechnik, erst die Schönbergsche, dann deren Variante bei Webern. Wie es weiterging, ist bekannt.

Schon bei einem flüchtigen Blick auf die Kursthemen, Vortragstitel und Aufsatzüberschriften aus der Darmstädter Blütezeit wird einem klar, welches die dominierenden Interessen in dieser Gruppe von Komponisten und Theoretikern waren, die mehr als Jahrzehnt lang den musikalischen Diskurs international beherrschten. Im Mittelpunkt der Diskussionen standen klar begrenzte Themenkomplexe: Es ging um den musikalischen Fortschritt, das sogenannte Material und die Techniken seiner Verarbeitung, um die offene und geschlossene Form, die Reihenstruktur und die Methoden der Analyse; man betrieb die Kritik der bürgerlichen Ideologie und die Apologie der eigenen.

Grundsätzliche Widerreden gegen die technizistische Weltsicht, wie sie etwa Adorno in seinem Radiovortrag von 1954 „Das Altern der neuen Musik“ vorbrachte – er wird bis heute als Beweis für die selbstkritische Haltung der damaligen Avantgarde gerühmt –, waren in Darmstadt Seltenheit. Es brauchte zwanzig Jahre, bis die verdrängte Frage der Schönheit mit allen historischen Implikationen auf den Tisch gebracht wurde: 1976 von Helmut Lachenmann in seinem Vortrag „Zum Problem des musikalisch Schönen heute“.

Im Darmstadt der 1950er und 60er Jahre spielte das Thema, wenn überhaupt, eine marginale Rolle. Es war für das rational-analytische Denken zu wenig greifbar, erschien als diffuses Konstrukt mit womöglich metaphysischem Einschlag und klang zu sehr nach bürgerlicher Wohlfühlästhetik und sterbendem Schwan. Das symbolträchtige Wort Schönheit und die quasi-wissenschaftliche Begrifflichkeit des eigenen Redens über Musik: Aus Darmstädter Sicht verhielt sich das wie ein Dreißigerjahre-Volksempfänger zum modernen Röhrenradio mit magischem Auge.

Die Verengung des Horizonts auf technische Fragen glich indirekt dem Denken jener Surrealisten, die Benjamin angegriffen hatte. Bei Anton Webern wurde etwa seine Reihentechnik losgelöst von den geistigen Hintergründen seines Werks analysiert. Der ästhetische Kontext des organischen Denkens mit Goethes Urpflanze im Hintergrund, sein geradezu klassisches Symmetriebewusstsein oder, im Fall der zweiten Kantate, die lebensbejahende Lyrik der Textdichterin Hildegard Jone – all das wurde als irrelevant beiseite geschoben. Das wären aber Elemente gewesen, die etwas über die spezifische Schönheit von Weberns Musik ausgesagt hätten.

Auf die selektive Darmstädter Webern-Rezeption passt, was Morton Feldman 1964 über die unbeweglichen Traditionalisten gesagt hat:

„Der Irrtum des Traditionalisten liegt darin, dass er sich aus der Geschichte nur das aneignet, was zu seiner Position passt, ohne zu begreifen, dass Byrd ohne den Katholizismus, Bach ohne den Protestantismus und Beethoven ohne das napoleonische Ideal unbedeutendere Gestalten gewesen wären. Es ist aber gerade dieses ‚propagandistische’ Element – gerade die Widerspiegelung eines Zeitgeistes, die dem Werk dieser Männer seine mythische Größe verliehen hat.“[4]

Nachdem er so die künstlerische Größe in einen historischen Kontext eingebettet und aus dem Bereich der göttlichen Eingebung entfernt hat, fährt Feldman fort:

„Ironischerweise hat für einige Komponisten auch der technische Vorgang, der mit der Arbeit verknüpft ist, die Ausmaße eines göttlichen Rituals angenommen. Daher kommt auch das stürmische, einnehmende, absolute Interesse an der Technik, das heute so beherrschend ist.“

Unterschiedliche Perspektiven des Schönen

Doch was ist eigentlich das Schöne und wie lässt es sich bestimmen? Fragt man die Komponisten, dann erhält man fast so viele unterschiedliche Antworten wie Fragen. Hegel kreierte einst die griffige, aber nicht unproblematische Formel vom Schönen als dem „sinnlichen Scheinen der Idee“. Nachschlagewerke verweisen auf die unterschiedlichen Ausprägungen, die der Begriff der Schönheit im Lauf der Geschichte erfahren hat. Unterscheiden kann man das Naturschöne, die Schönheit des Menschen, der Alltagsgegenstände oder der Ideen. Das Schöne kann sich mit dem Guten und dem Wahren verbinden – eine klassische Dreiheit, die bis in das bürgerliche Zeitalter Gültigkeit beanspruchte und auch heute noch als Inschrift auf manchen Kunsttempeln prangt.

Dass die Kunst das Feld ist, auf dem die Auseinandersetzung mit dem Schönen statt findet, war längst nicht zu allen Zeiten der Fall. Unbestritten ist hingegen, dass es sich beim Schönen um etwas handelt, das beim Wahrnehmenden Wohlgefallen erzeugt, und zwar losgelöst von einem „Habenwollen“. Kant bezeichnete das als „interesseloses Wohlgefallen“. Adorno, in bewährter Paradoxie, stellte fest: So wenig das Schöne zu definieren sei, so wenig könne man auf seinen Begriff verzichten. Heute ist man sich weitgehend einig, dass Schönheit allenfalls im subjektiven Empfinden, aber nicht in den Gegenständen selbst liegt.

Die Varianten des Schönheitsbegriffs füllen das weite Feld zwischen den zwei Polen, die durch das idealistische und das materialistische Weltverständnis definiert sind. Bei Platon, dem Vater der abendländischen Metaphysik, liegt das Schöne in den Ideen begründet. Diese Ideen liegen in der Welt des Seienden und sind jedem Menschen zugänglich, der sich an sie zu erinnern vermag. Das Schöne kann er in jedem Gegenstand erkennen.  Dieser idealistische Schönheitsbegriff ist zeitlos und übersubjektiv. Heute wird dagegen das Schöne häufig soziologisch oder psychologisch definiert, als Sehweise bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, Typen oder Individuen. Eine historische Betrachtungsweise wiederum versteht das Schöne als Ausdruck einer bestimmten Epoche.

Genau diesen Standpunkt nimmt etwa Umberto Eco in seiner „Geschichte der Schönheit“ ein. In diesem Buch, so Eco in der Einleitung, vertrete er das Prinzip,

„dass Schönheit nie etwas Absolutes und Unveränderliches war, sondern je nach der historischen Epoche und dem Land verschiedene Gesichter hatte. Und dies gilt nicht nur für die sinnlich erfahrbare Schönheit (des Mannes, der Frau, der Landschaft), sondern auch für die Schönheit Gottes, des Heiligen, der Ideen.“

Eco erklärt zwar, dass in seiner „Geschichte der Schönheit“ der überzeitliche Aspekt des Schönen nur eine marginale Rolle spiele. Trotzdem grenzt er im angeführten Zitat die „Schönheit Gottes, des Heiligen und der Ideen“ klar von der sinnlich erfahrbaren Schönheit ab, anerkennt also ihre Existenz.

Diese auf einen immateriellen Gegenstand bezogene Schönheit, die die Gelehrten des Mittelalters auch als „Glanz der Wahrheit“ bezeichneten, geriet im 20. Jahrhundert zunehmend aus dem Blickfeld und machte einem realitätsbezogenen Schönheitsbegriff Platz. Die geschichtlichen Katastrophen des Jahrhunderts, der Verlust der Religion und die fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft ließen einem solchen transzendenten Schönheitsbegriff keine Chance.

Die Buhmänner Tavener und Pärt

Seit den achtziger Jahren hat sich jedoch der Blickwinkel wieder etwas erweitert. Davor galt diese Art von Schönheit für die einem materialistischen Weltbild verpflichteten Avantgarde-Strömungen schlicht als reaktionär und wurde von ihnen vehement bekämpft. Zum Buhmann erklärt wurden etwa Komponisten wie Arvo Pärt oder John Tavener, die den Versuch unternahmen, einen nicht-materialistischen Schönheitsbegriff kompositorisch zu realisieren. 

Das Hauptargument seitens der „Fortschrittspartei“ gegenüber solcher Musik lautet, ihr Umgang mit dem musikalischen Material sei  simpel, rückwärtsgewandt oder nicht auf der Höhe der Zeit. Doch der starke Verdacht drängt sich auf, dass es sich hier um eine Stellvertreter-Argumentation handelt: Als provozierend werden nicht die Töne selbst und ihre Machart empfunden; es gibt genügend Beispiele, wo einfache, konsonante musikalische Strukturen goutiert werden, weil man sich mit ihrem gedanklichen Hintergrund, ihrer Ideologie, einig weiß. Als provozierend wird die Ästhetik betrachtet, die hinter den Tönen steht. Das Moment der Schönheit ist hier Ausdruck einer politisch nicht korrekten Idee. Bei John Tavener zum Beispiel wäre das vermutlich sein offenes Bekenntnis zur Ostkirche, was sich auch in seiner Musiksprache äußert.

Schönheit als Machtinstrument

An einer solchen Kontroverse lässt sich sehr genau nachvollziehen, was Umberto Eco meint, wenn er sagt, dass Schönheit je nach Epoche und Land verschieden erscheine. Eine gesellschaftliche Übereinkunft definiert, was schön ist. Und diese Übereinkunft besteht, wenn auch mit Modifikationen, auch in einer überschaubaren Gruppe wie der sogenannten „Neue-Musik-Szene“, deren Angehörige wir sind. Wer den ästhetischen Grundsätzen einer solchen Gruppe zuwiderhandelt, wird ausgestoßen oder gar nicht erst aufgenommen. Und je dominierender die Gruppe den Fachdiskurs zu führen versteht, desto besser vermag sie ihren Begriff von Schönheit, ein Kennzeichen ihres kulturellen Selbstverständnisses, in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Desto mehr schottet sie sich auch ab von Gruppen oder Einzelnen mit einem anderen Schönheitsverständnis.

Die Auffassung vom Schönen hat sich zwar im Lauf der Zeit gewandelt, doch seine gesellschaftliche Funktion unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Funktion, die die Schönheit am Hof der Medici oder Ludwigs XIV. oder im Reiche Stalins und Shdanovs hatte: Schönheit als Machtinstrument und Kennzeichen sozialer Abgrenzung, schlimmstenfalls als Instrument der Repression. 

Zum Fall von John Tavener muss ergänzt werden, dass es sich bei der Frage von Akzeptanz und Ablehnung durchaus um reziproke Vorgänge handelt: Wenn Taveners Musik in Deutschland, einer auf  strukturelles Denken und einen negativen Schönheitsbegriff festgelegten Musikkultur, auf Ablehnung stößt, so findet umgekehrt in England, wo Tavener ein großes Publikum hat, die strukturell ausgerichtete deutsche Musik eher wenig Widerhall. An der Schönheit scheiden sich die Geister und – trotz einem angeblich zusammenwachsenden Europa – noch immer die Nationen.

Beispiel Kurtág

Ein ähnlicher Fall von ästhetischer Fremdheit, wenn auch nicht in dieser zugespitzten Form, betraf früher einmal die Musik von György Kurtág. Während vieler Jahre wurde er hierzulande nur am Rande wahrgenommen, etwa im relativ abgeschlossenen Forum der Wittener Tage für neue Kammermusik. Hängt das damit zusammen, dass sie eine Art von Schönheit thematisierte, die man nicht auf Anhieb verstand? Dass sie überhaupt den Aspekt der Schönheit demonstrativ ins Bewusstsein hob, was damals beinahe ein Tabubruch war? Der ungarische Musikwissenschaftler István Balázs bezeichnete 1985 die spezifische Schönheit von Kurtágs Musik als eine „moderne Schönheit“, in der die Widersprüche und Schattenseiten der Welt mitklingen würden:

„Kurtágs Musik ist eine ‚schöne’ Musik, wie es auch Monteverdis oder Mozarts Musiken trotz der vergegenwärtigten Grausamkeiten des Lebens waren. In ihrer vom Durchleiden geprägten modernen Schönheit wahrt die Kurtágsche Musik das Humane, das menschliche Selbstbewusstsein. Das ist eben der Grund, warum man diesem Typus des Schönen nicht schwelgerisch oder selbstvergessen gegenübersitzen kann. Dieses Schöne zieht uns wie ein Wirbel in seinen Bann und konfrontiert uns mit unserem menschlichen Dasein. (...) Das Grausame, das hinter dem Schönen droht, liegt tiefer und gefährdet den Menschen akuter als die Schrecken einer thermonuklearen Katastrophe, weil es langsam und Tag für Tag zerstört. Kurtágs Musik lässt uns hinter dem Schönen den Weltzustand der Lieblosigkeit erkennen.“[v]

Das passt auf ein Stück wie „Stele“ von György Kurtág, vor allem auf den den Schlussteil. Es erinnert an den Satz von Rainer Maria Rilke aus der ersten Duineser Elegie: „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören."

Kurtágs Musik, schrieb István Balázs  in seinem Portrait von 1985, vier Jahre vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, sei durch ihr bloßes Vorhandensein schon ein Protestruf gegen die Ausplünderung des Menschen, und das hänge nicht vom politischen System ab:

„Die Krise ist allgemeiner und tiefer verwurzelt: Es geht um die innere Verarmung und Orientierungslosigkeit des Menschen in einer durch und durch an materiellem Reichtum und Konsum orientierten Gesellschaft, einer selbstzerstörerischen Zivilisation.“

So gesehen wird Schönheit unversehens zu einem Symbol des geistigen Widerstands. Es ist eine Schönheit vor dem Hintergrund des Leidens an der Wirklichkeit, doch sie passt sich dieser Wirklichkeit nicht zynisch an, sondern setzt etwas Anderes dagegen. In der fast überirdischen Erscheinung der Orchesterakkorde im Schlussteil von „Stele“ wird wie von ferne etwas von Platons unverrückbarer Ideenwelt sichtbar.

Harnoncourts dialektischer Schönheitsbegriff

Schönheit muss nicht immer Wohlklang bedeuten. Auch verunreinigte Klänge können als Wohlklang erscheinen, wenn sich beim Hören das seltsame und schwierig zu beschreibende Gefühl des Schönen einstellt. Dieses Gefühl ist mehr als eine physiologische Gewöhnung an die Dissonanz. Es ist eine Frage der inneren Haltung und des aktiven Mitgehens mit dem, was uns ein Musikstück erzählen will. Und ganz sicher auch eine Frage der positiven Erwartung. Wer Schönheit erfahren will – und wer möchte das nicht? – sucht sie und findet sie auch dort, wo man sie nicht unbedingt erwartet. Ein auf Hässlichkeit geeichter Hörer würde in diesem Fall nichts als Hässlichkeit wahrnehmen.

Wie diese mit den Schlacken der Wirklichkeit behaftete Schönheit aussehen kann, hat ein Interpret, der kaum mit neuer Musik zu tun hat, bildhaft beschrieben: Nikolaus Harnoncourt. Seine Auffassung von instrumentaler Schönheit ist das Resultat von ganz persönlichen Erfahrungen und einem extrem feinen Gehör für die Materialität des Klangs. Über den modernen Flügel sagte er 2007 in einem Interview:

„Da hören Sie heute praktisch überhaupt keine Obertöne mehr. Das ist ein Ton, als ob Sie auf Glas schlagen. Ich weiß jetzt, warum ich mich als Kind geweigert habe, Klavier zu spielen – weil ich den Ton so hässlich fand. Da fand ich bei den alten Tasteninstrumenten plötzlich von obertonreichen, summenden Bassklängen bis zu ganz reinen Klängen Farben, die es längst nicht mehr gab. Und ich habe dann eine Theorie aufgestellt: Wie hässlich ist schön? Was ist eigentlich schön am Klang? Die Stimme eines Sängers oder einer Sängerin wird erst schön durch Schmutz (...),  durch eine größere Beimengung von Nebengeräuschen (...), was die Stimme identifizierbar und ergreifend macht, sie wird persönlich und menschlich. So ist es bei den Instrumenten auch. Nehmen Sie etwa die ‚Symphonie fantastique’ von Berlioz. (...) Wenn sie die mit den Blasinstrumenten hören, für die sie komponiert wurde, dann haben Sie an manchen Stellen wirklich das Gefühl, der Teufel furzt. Aber wenn Sie das mit den modernen Tuben spielen, dann ist der Teufel vorher ins Konservatorium gegangen und hat dort gelernt, wie man vornehm flatuliert.“[6]

Harnoncourts Feststellungen über das Hässliche im Schönen ist, was die Wahrnehmung angeht, nicht weit entfernt von dem, was John Cage zu dieser Frage sagte. Allerdings zog Cage aus seiner Beobachtung andere Schlüsse:

„Ich glaube, die Geschichte der Kunst besteht darin, das Hässliche loszuwerden, indem sie es zu einem Teil von sich macht und es integriert. Schließlich existiert die Vorstellung, dass etwas hässlich ist, nicht außerhalb unserer Person, sondern in uns. Und deshalb wiederhole ich ständig, dass wir an unserer geistigen Einstellung arbeiten müssen, indem wir versuchen, uns so zu öffnen, dass wir die Dinge nicht mehr als hässlich oder schön ansehen, sondern einfach so, wie sie sind.“[7]

John Cage vertritt eine Auffassung von Schönheit, die auch die Hässlichkeit gleichwertig mit einschließt, wodurch Schönheit als solche sich auflöst. Nur die reine Wahrnehmung der Dinge soll übrig bleiben. In diesem vom Buddhismus beeinflussten Konzept sind scheinbar alle Wertungen, die sonst beim Begriff der Schönheit eine wichtige Rolle spielen, verschwunden. Ein Extremfall von Kants „interesselosem Wohlgefallen“, das nicht nur das Schönheitsempfinden betrifft, sondern auf die gesamte menschliche Wahrnehmung bezogen ist.

Nicht übersehen werden darf dabei jedoch, dass Cages Wahl für eine “interesselose“, nicht wertende Wahrnehmung selbst schon eine Wertung darstellt. Sie entsteht dadurch, dass sie andere Arten von Wahrnehmung ausschließt und damit tiefer bewertet. Es ist also eine systemimmanente Toleranz, die Cage hier propagiert. Nach außen funktioniert sie nur bedingt. Das zeigt sich etwa in der Beobachtung, die man gelegentlich machen kann, dass Anhänger von Cages Ästhetik imstande sind, ganz unbuddhistische Abneigungen gegen tonale Musik zu entwickeln. Strawinskys „Feuervogel“ kann ihnen dann als Inbegriff des Hässlichen, Beethovens Fünfte als schlechthin unzumutbar erscheinen. Auch hier wieder: Die Frage der Schönheit vereint die Menschen nicht, wie mancher vielleicht naiverweise erwarten dürfte, sondern sie spaltet.

Das unhintergehbare Schönheitsempfinden

Bei der nie ganz geklärten Frage, was Schönheit denn nun ausmacht, kann man auf die Subjektivität der Schönheitserfahrung hinweisen, womit aber nichts Genaueres ausgesagt wird. Man kann psychologische Untersuchungen anstellen und soziologische Feldforschung betreiben, man kann auch die Gehirnströme und Nervenreize messen. Das beantwortet die Frage nach der Schönheit auch nicht. Wer meint, er könne auf diese Weise zu einer Antwort gelangen, verfällt dem gleichen Irrtum wie einer, der bei Weberns Konzert op. 24 eine Reihenanalyse macht und dann glaubt, er habe das Stück verstanden. 

Das Misstrauen vieler Komponisten und Theoretiker des 20. Jahrhunderts gegen alles, was mit Schönheit zusammenhängt, hat seinen Grund, wie bereits festgestellt, nicht nur in den zeitgeschichtlichen Umständen, sondern auch in dem weitgefassten Begriff und der Komplexität seiner Inhalte.

Das subjektive Schönheitsempfinden, obwohl in seinen Erscheinungsformen detailliert beschreibbar, braucht zwar eine auslösende Ursache; letztlich ist  es jedoch ebenso wenig rational zu begründen wie das Gefühl der Freude oder der Trauer. Es sind Empfindungen, die nicht hintergehbar sind und zur geistigen Grundausstattung des Menschen gehören. Das mag Ähnlichkeiten haben mit den religiösen Gefühlen, die, falls vorhanden, auch einfach nur da sind und keiner Begründung bedürfen.

Wenn man diesen Gedanken weiter verfolgt, gerät man auf ein unsicheres Terrain, und da kann es nicht schaden, sich bei einschlägigen Denkern rückzuversichern. Etwa beim Religionswissenschaftler Rudolf Otto. In seinen Untersuchungen über den Begriff des Numinosen hat er vier Momente des Numinosen unterschieden:

– Das „tremendum“, das Schauervolle oder die schlechthinnige Unnahbarkeit)
– die majestas (das Übermächtige)
– das Energische und
– das Mysterium; dieses nennt er auch das „Ganz Andere“ – ein Begriff, der auch von Adorno zur Bestimmung des Utopischen übernommen wurde.

Man sollte gewiss vorsichtig sein, den Begriff der Schönheit quasi positivistisch am Phänomen des Klangs festzumachen – das wäre zu kurz gedacht, gerade angesichts der Tatsache, dass das Schöne stets eine geistige Komponente besitzt, die über die Dimension des „Materials“ hinausweist. Trotzdem soll hier noch der nicht ganz unriskante Versuch unternommen werden, in der klingenden Erscheinung von Musikstücken nach Analogien dieser vier Momente des Numinosen zu suchen, um daraus etwas über das damit zusammenhängende Schönheitsempfinden zu erfahren, und einige Namen von Komponisten zu nennen.

Für das erste Moment, das Tremendum oder Schauervolle, gibt es naheliegende Beispiele in der textgebundenen Musik – ein Paradebeispiel wäre das „Rex tremendae“ der Totenmesse. Man findet dieses Tremendum aber auch in der Instrumentalmusik. Etwa in den Orchesterpartituren von Klaus Huber – jenen strukturell dicht gearbeiteten, expressiv zugespitzten Momenten, die er als „instrumentale Schreie“ bezeichnet. Man weiß nicht ganz, ob da jemand schreit oder ob „es“ in ihm schreit; es sind Bilder des tief aus dem Inneren heraufsteigenden Entsetzens.

Mit dem zweiten Moment des Numinosen nach Rudolf Otto, der Majestas, ist das subjektive Demutsempfinden verbunden, wie es etwa in Beethovens Neunter bei der Stelle „Ihr stürzt nieder, Millionen“ zum Ausdruck kommt und wie es Otto unter anderem bei Meister Eckehart feststellt. Ihm korrespondiert die Schönheit der Armut und des Einfachen, wie sie – um nur ein Beispiel zu nennen – aus den Partituren des bereits erwähnten Arvo Pärt spricht.

Das dritte Moment des Numinosen ist nach Rudolf Otto das energische Moment: eine Manifestation der Kraft und der Bewegung, die den Menschen in eine innere Spannung zu setzen vermag. Als Äquivalent für diesen Zustand könnte man etwa den letzten Teil des Orchesterstücks „Pfhat“ von Giacinto Scelsi nehmen. Rund sechzig Musiker schütteln hier kleine Glocken, was einen strahlend hellen, ekstatischen Klang erzeugt. Im Innerern vibriert dieser klang wie die Teilchen einer erregten Materie, nach außen aber wirkt er wie ein großer, festgefügter Block. „Ein Lichtblitz und der Himmel öffnet sich“, schrieb Scelsi in die Partitur. 

Schließlich noch das Moment des Mysteriums oder des „Ganz Anderen“ im Sinn des Geheimnisvollen. Nach Rudolf Otto stammt das Wort Mysterium aus dem Sanskrit, wo es „verborgenes, verstecktes, geheimes Treiben“ bedeutet und auch den Sinn von Betrügen annehmen kann. Als ästhetische Entsprechung dazu könnte man vielleicht das Orchesterstück „Lontano“ von György Ligeti betrachten, dessen Klang aus undefinierbarer Ferne zu kommen scheint und eine geheimnisvolle Aura verströmt. Das Gefühl von Schönheit, das es erzeugt, ist in seiner Einzigartigkeit jedenfalls schwer beschreibbar. 

In all diesen vier Beispielen von Schönheit, ließen sich, in Anlehnung an die Überlegungen von Rudolf Otto zum sogenannt Numinosen, religiöse Konnotationen nachweisen.

Um nun aber nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, Schönheit sei unablösbar mit der religiösen Sphäre verbunden, sei zum Schluss noch ein Gegenbeispiel angeführt: die Musik von Iannis Xenakis. Beim Hören vieler seiner Werke mag man sich vielleicht fragen, was denn nun das Schöne an dieser eruptiven Musik mit ihren wilden Chaosstrukturen und ihrem Glissandogestrüpp sei. Doch das Schöne offenbart sich vielleicht gerade in der Konsequenz, mit der ein abstraktes mathematisches Prinzip in klingende Strukturen übertragen wird und eine streng objektive Klangerscheinung generiert. Was sich dahinter verbirgt, ist die Schönheit der reinen Idee.

© 2009 Max Nyffeler

Der Text basiert auf der ersten von zwei Rundfunksendungen zum Thema "Schönheit", ausgestrahlt im SWR 2 am 12.5. und 19.5.2008.
zu Teil (2): Die vielen Gesichter des Schönen

Anmerkungen

[1] Benjamin, Angelus novus,  Frankfurt 1966, S. 158
[i2] Benjamin, a.a.O.
[3] Adorno, Über Tradition, in: Ohne Leitbild, Frankfurt, S. 31 u. 33.
[4] Feldman, Essays, Beginner Press, Köln, S. 43
[5] Friedrich Spangemacher (Hrsg.): György Kurtág, Boosey & Hawkes, Bonn, S. 67.
[6] „Schön durch Schmutz“, Interview mit Nikolaus Harnoncourt in: Der Spiegel Nr. 45/2007, S. 182.
[7] Richard Kostelanetz, Gespräche mit John Cage, Dumont Köln, S. 165

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