Das religiöse Geplauder der gebildeten SchichtenGedanken über die Rolle der Religion in der neuen Musik, samt einigen Boshaftigkeiten von Max WeberAls am Nachmittag des 20. April 2005 die Nachricht von der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst um die Welt ging, vermutete „Spiegel Online“ einen bevorstehenden Kulturkampf; das Pontifikat von Benedikt XVI. werde Auswirkungen auf die deutsche Politik haben: „Der Mann verkörpert das Gegenteil des 68er Zeitgeistes.“ Der Journalist, der eigentlich über eine Berliner Podiumsdiskussion mit Spitzenvertretern aus Kultur und Politik berichten sollte, schilderte nun, wie die von der Nachricht überrumpelten Diskutanten reagierten: Mit eisigem Schweigen. „Einzig ein braver Protestant aus Sachsen, Bürgerrechtler zu DDR-Zeiten, klatschte im Deutschen Theater begeistert in die Hände. Der Sachse empfand die Tatsache, dass ‚wir Deutschen 60 Jahre nach Kriegsende einen Papst bekommen, als Geschenk’. Also klatschte er. Doch die im Zweireiher und Kostüm angetretene Hauptstadt-Elite schloss sich dem Leipziger nicht an. Im Gegenteil, sie straften ihn mit ihren Blicken, als hätte er gerade etwas sehr Unanständiges getan. Peinliche Stille im Theatersaal. Von Weizsäcker versuchte zu retten: Die jüngste Predigt Ratzingers habe ihn persönlich sehr beeindruckt.“ Die Momentaufnahme ist symptomatisch, und dass der erwartete Kulturkampf ausblieb, ist weniger der rasch errichteten medialen Abwehrfront gegen den unbequemen Neuen zuzuschreiben als einem allgemeinen Zustand: der fortgeschrittenen Säkularisierung, die solchen Regungen von institutionalisierter Religiosität gleich von Anfang an das Wasser abgräbt. Eine zeitgenössische Musik, die sich mit religiösen Themen befasst, findet in diesem gesellschaftlichen Klima nicht so leicht ein Publikum. Dies gilt gerade auch für den unmittelbar kirchlichen Bereich. Wo die Glaubensinhalte wackeln, kann auch deren musikalische Überhöhung nicht gedeihen. Dazu kommt das übliche Problem der publikumsfernen neuen Musik. Vor die Wahl zwischen der „Dahlemer Messe“ eines Dieter Schnebel und einem Credo mit Gitarrenbegleitung gestellt, wird sich die Gemeinde in der Regel für letzteres entscheiden. Es ist nicht nur billiger, sondern auch bequemer. Vierzig Jahre ist es her, dass im Dom zu Münster Krzysztof Pendereckis Auferstehungsmesse „Utrenja II“, ein Auftragswerk des Westdeutschen Rundfunks, mit festlichem Gepränge und großer öffentlicher Resonanz uraufgeführt wurde. Ein ähnliches Ereignis ist heute nicht mehr denkbar, und schon damals war man auf einen Import aus Polen angewiesen. Die Bedürfnisse der ökonomischen NichtinteressiertenAbseits der Kirchen hingegen, in den Konzertsälen, sind immer wieder zeitgenössische Werke zu hören, die im weitesten Sinn religiös, wenn auch nicht unbedingt christlich konnotiert sind. Zu ihren Ingredienzien gehören asiatische Klangerfahrung und Sufi-Poesie, hölderlineske Erbauungslyrik, barocke Mystik, utopische Sehnsüchte, Meditationsübungen und apokalyptische Untergangsszenarien Heilslehren ganz allgemein. In Ermangelung eines besseren Begriffs wird das alles gerne unter dem Etikett „Spiritualität“, manchmal sogar „Neue Spiritualität“ verbucht. Aber wie so oft beim „Neuen“ in der Kultur ist auch hier alles schon einmal dagewesen, nicht zuletzt der Einfluss des Buddhismus. In seinen Schriften zur Religionssoziologie stellte Max Weber schon vor hundert Jahren fest, aufklärerisch-religiöse Schichten in Westeuropa hätten seit dem 17. Jahrhundert „unitarische, deistische oder auch synkretistische, atheistische, freikirchliche Gemeinden geschaffen, bei denen zuweilen buddhistische (oder dafür geltende) Konzeptionen mitgespielt haben“. Über deren Publikum schrieb er: „Sie haben in Deutschland auf die Dauer fast in den gleichen Kreisen wie das Freimaurertum Boden gefunden, das heißt bei ökonomischen Nichtinteressierten, besonders bei Universitätsprofessoren, daneben bei deklassierten Ideologen und einzelnen halb oder ganz proletarischen Bildungsschichten.“ Während heute also wieder einmal der religiöse Synkretismus boomt, finden sich in der zeitgenössischen Musik erstaunlich wenige Beispiele explizit christlicher Aussagen, und wenn, dann sind sie oft so stark ästhetisch verschlüsselt, dass sie kaum noch als solche erkennbar sind. Zum Beispiel beim bekennenden Christen Mark Andre, dessen Vorsicht vor einer nicht im Material vermittelten Inhaltlichkeit in die Nähe des jüdischen Bilderverbots gerät oder zumindest Züge jener asketischen Lebensmethodik annimmt, die Max Weber als ein Hauptmerkmal der protestantischen Ethik bezeichnet hat. Ähnlich indirekt, wenn auch viel weniger rigid, geht der Brite Jonathan Harvey mit religiösen Inhalten um; in einem Werk wie „Death of Light/Light of Death“ spielt er gleichsam über die Bande, indem er die religiöse Botschaft vom Kreuzestod als Kommentar zu einem ästhetischen Gegenstand Grünewalds Isenheimer Altar formuliert. Es rumort um UntergrundAngesichts einer tendenziell glaubensfeindlichen Großwetterlage ist die Scheu der Komponisten vor religiösen Bekenntnissen verständlich, und nicht jeder verfügt über den Gleichmut des mönchischen Glaubensvirtuosen Arvo Pärt, um den Spott der atheistischen Musikfreunde zu ertragen, oder über das gesunde Selbstvertrauen eines John Tavener, der alle Einwände, so könne „man“ doch nicht komponieren, in den Wind schlägt und die ostkirchliche Liturgie mit sinnlich strahlenden Chorsätzen bereichert. Im deutschen Kulturraum, wo die dogmatischen Postulate einer materialverliebten Avantgarde der Entfaltung kompositorischer Subjektivität jahrzehntelang im Wege standen, sind religiöse Inhalte in die Randbezirke des Ästhetischen verdrängt worden. Doch wie alles Verdrängte lassen sie sich nicht totkriegen. Sie rumoren im Untergrund weiter. Einer der militantesten Forschrittspropheten der Avantgarde, Karlheinz Stockhausen, schrieb schon als junger Komponist Werke mit religiösen Hintergrund, und sein gigantischer „Licht“-Zyklus kann nachgerade als Hochamt eines synkretistischen Kults um Transzendenz angesehen werden. Auch Dieter Schnebel, protestantisch-nüchterner Antipode zum sinnenfrohen Katholiken Stockhausen, hat sich schon in den 1950er Jahren in seinem Vokalzyklus „Für Stimmen (...missa est)“, einem Modellfall von „Musica negativa“, auf die Suche nach dem Deus abscondicus, dem verborgenen Gott gemacht. Dazwischen steht ein Klaus Huber, der seine religiösen Heilsversprechen gerne in das Gewand kulturell-politischer Prophetien kleidet. Und hinter all diesen zeitgenössischen Erkundungsversuchen auf schwierigem Terrain steht als Zeichen an der Wand die epochale Vision von Schönbergs "Moses und Aron", eine einzigartige Synthese von höchstem Kunstanspruch und religiösem Bekenntnis. Ohne zweifelnde Anfechtungen und metaphysische Kraftakte, auch ohne dialektischen Klimmzüge kamen zwei andere Komponisten aus: Olivier Messiaen, der wie einst Bach seine Musik ganz selbstverständlich „ad maiorem Dei gloriam“ schrieb und gleichzeitig eine ganze Generation junger Avantgardisten in Komposition unterrichtete, und Giacinto Scelsi, der jahrzehntelang unverdrossen seinen asiatisch inspirierten, ekstatischen Exerzitien huldigte. Beide wären in Deutschland nicht möglich gewesen. Auch John Cage wäre zu erwähnen: Er übernahm nicht nur buddhistisches Gedankengut, sondern tauchte auch in die Mystik eines Meister Eckhart ein. Abgefärbt hat das in Deutschland unter anderem auf Walter Zimmermann. Glaubensinbrunst und KaffehausintellektualismusTrotz der Vielfalt der „spirituellen“ Signale in der heutigen Musik sind Zweifel an der Dauerhaftigkeit solcher Aufwallungen angebracht. Von Glaubensinbrunst ist kaum zu reden, weder in der Musik noch beim Publikum. Diese wird heute nur noch im Islam praktiziert einer Religion, die die Gesellschaft auf Dauer vermutlich noch stärker verändern wird, als die auf ihren Säkularismus stolzen Deutschen es sich heute auszumalen wagen. Für die Religiosität in den städtischen kulturaffinen Schichten sie stellen heute das wichtigste Publikumssegment in der zeitgenössischen Musik gilt vorerst, was Max Weber bereits vor einem Jahrhundert geschrieben hat: dass sie nur noch Form und Konvention sei. Ihre kulturellen Manifestationen stufte Weber als Ausdruck des Zeitgeistes ein: „Das Bedürfnis des literarischen, akademisch-vornehmen oder auch Kaffeehausintellektualismus aber, in dem Inventar seiner Sensationsquellen und Diskussionsobjekte die ‚religiösen’ Gefühle nicht zu vermissen, das Bedürfnis von Schriftstellern, Bücher über diese interessanten Problematiken zu schreiben, und das noch weit wirksamere von findigen Verlegern, solche Bücher zu verkaufen, vermögen zwar den Schein eines weit verbreiteten ‚religiösen Interesses’ vorzutäuschen, ändern aber nichts daran, dass aus derartigen Bedürfnissen von Intellektuellen und ihrem Geplauder noch niemals eine neue Religion entstanden ist und dass die Mode diesen Gegenstand der Konversation und Publizistik, den sie aufgebracht hat, auch wieder beseitigen wird.“ Dabei wäre allerdings zwischen bloßem Reden und künstlerischem Tun zu unterscheiden. Auf die heutige sogenannte Debattenkultur treffen Webers Beobachtungen durchaus zu. Über den künstlerischen Wert der Werke, die sich auf religiöse Themen einlassen, ist damit aber noch nichts gesagt. © Max Nyffeler 2011 Leicht erweiterte Version des Essays "Religion und Musik in einer areligiösen Welt", erschienen im Programmheft des Festivals „Mouvement“ in Saarbrücken, Mai 2011, das unter dem Thema "Musik und Glaube" stand. Themen Inhalt
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