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Masken des Fortschritts
Zu einigen aktuellen Tendenzen in der neuen Musik
Beobachtungen von Max Nyffeler [1]
In der jüngsten Musik lassen sich Tendenzen beobachten, die manche Ideen und Haltungen, die für die letzten beiden Jahrzehnte charakteristisch waren, unauffällig zu korrigieren trachten. Dabei geht es nicht um einen Paradigmenwechsel nach dem Muster "Moderne versus Postmoderne" oder gar um Trendwendiges in der Art von "Killt die Väter" oder "Man komponiert wieder strukturell". Es handelt sich vielmehr um subtile Veränderungen, tastende Neubewertungen, unmerkliche Schwerpunktverschiebungen. Sie erscheinen getarnt unter dem Deckmantel des "Weiter wie bisher", ihre neuen Qualitäten werden im ausufernden Pluralismus der Stile, Schreibweisen und persönlichen Ausdrucksformen kaum wahrgenommen. Zu den allgemein gesellschaftlichen Tendenzen verhalten sie sich teils indifferent, teils stehen sie quer.
Festzumachen sind diese subkutanen Veränderungen am Verhältnis des Komponisten zu Werk und Umwelt - am Wechselspiel zwischen Subjekt und Objekt, Innen und Außen. Zum objekthaften Äußeren gehört auch das Material, in der Avantgarde einst ein Begriff mit Fetischcharakter, der in den siebziger Jahren einen Ansehensverlust erlitt, von dem er sich nie ganz erholt hat; unter geänderten Gesichtspunkten wird ihm heute wieder neue Aufmerksamkeit zuteil. Auch schillernde Begriffe wie Authentizität, Identität oder Individualität, mit denen sich noch vor einem Vierteljahrhundert der Widerspruch gegen den Objektivismus des seriellen Denkens artikulierte, erhalten plötzlich eine Neubewertung, die von der platten Ichbezogenheit, wie sie in der spontaneistischen Phase zutage trat, weit entfernt ist und auf neue Problemlagen verweist. Damit verbunden sind auch Aspekte des Inhalts, eine Kategorie, um die die neue Musik meist mißtrauisch einen Bogen gemacht hat.
Changierende Identitäten
Die Frage nach der Authentizität sei keine künstlerische Frage, denn der Künstler brauche sich über seine Arbeit nicht rückzuversichern, sagte Wolfgang Rihm 1990 [2] . Er sah dahinter sogar eine versteckte Interessenlage, nämlich eine Frage nach dem materiellen Wert: "Ist der Preis gerechtfertigt?" Rihm hat schon immer eine konsequent subjektivistische Haltung mit wacher Selbstreflexion verbunden. Insofern erstaunt es nicht, daß er hier eine gleichsam Brechtische Antwort gibt. Erstaunlich ist bestenfalls, wie lange sich ein so diffuser Begriff wie Authentizität, mit dem man Vorstellungen von Echtheit oder Unmittelbarkeit assoziierte und daraus einen Gegensatz zu einem strukturell vermittelten Denken konstruierte, in den Köpfen halten konnte.
Das kompositorische Ich, das auch in der Zeit des blühenden Neosubjektivismus nie so eindimensional war, wie es manche sehen wollten, hat sich in den letzten Jahren bis an die Grenze zum Vexierbild differenziert. Die Identitäten sind komplexer geworden und haben etwas Changierendes angenommen. Dazu haben nicht zuletzt Komponistinnen beigetragen, die sich - mit oder ohne feministische Selbstfindungsprogrammatik - dem Identitätsthema zuwandten, der Gefahr der gruppenspezifischen Nabelschau aber nicht erlegen sind. Sie schreiben heute Werke, die das Problem der Differenz, das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Anderen, in einer verallgemeinerten, aber sehr spezifischen Weise darstellen. Zu nennen wären hier etwa die musikalischen Visionen einer Adriana Hölszky, in denen das Wechselspiel von Selbstbehauptung und Bedrohung ungeahnte Kräfte und Bilderwelten freisetzt, oder die vielfältigen Spiegelungen, Brechungen und Trugbilder in der Musik von Olga Neuwirth. In ihrem Musiktheaterstück "Bählamms Fest" verleiht das irritierende Changieren zwischen Mensch und Tier und zwischen unterschiedlichen fiktionalen Ebenen nicht nur der Fabel, sondern auch der Musik ihre unverwechselbare Farbe.
Die Eindeutigkeit des "Ja ja" und "Nein nein" scheint ihre Überzeugungskraft gerade bei den Jungen seit längerem verloren zu haben. Zu vielfältig sind die Wahlmöglichkeiten, zu komplex die Entscheidungsstrukturen nicht nur im täglichen Leben, sondern auch in der künstlerischen Arbeit, als daß sie sich nicht als Ambivalenzen und Paradoxien in den Resultaten dieser Arbeit niederschlagen würden. Vorbei sind die Gewißheiten, wie schon Nono zu Lebzeiten nicht müde wurde zu betonen. Auch die "Auseinandersetzung mit dem Material", lange als eine Art arbeitsethisches Korrektiv betrachtet, das den Komponisten bei seiner ästhetischen Suche automatisch auf dem richtigen Weg halten sollte, ist nur noch eine leere Floskel. Denn heute ist alles zu "Material" geworden, abrufbar von Papier, Tonband oder Sampler: Klänge, Artikulationsarten, Haltungen, Räume, ganze Stile und Traditionen. Von Experimenten im Grenzbereich zu bildender Kunst und Multimedia ganz zu schweigen.
Auf die ungeheure Vermehrung der Wahlmöglichkeiten und Perspektiven reagierten noch vor einem Jahrzehnt viele mit Ratlosigkeit und angstbesetzer Aggressivität; die "Postmoderne" erhoben sie in den Rang eines universalen Beelzebubs, der den Weltgeist zum Zweck einer Enthumanisierung der Gesellschaft usurpierte. Heute werden in der pluralen Vielfalt der Welt nicht mehr nur die Gefahren, sondern auch Chancen zur Entwicklung und Realisierung zukunftsträchtiger Konzepte gesehen. Das macht jedoch erst einmal eine Neubestimmung der eigenen Position notwendig; das komponierende Subjekt tritt aus seiner Selbstbezüglichkeit heraus und lernt die Außenwelt neu buchstabieren. Auf das "Ich" sagen hat es nicht verzichtet, nur ist dieses Ich heute komplexer strukturiert als zu Zeiten des emphatischen Aufbruchs in den Siebzigern.
Neue Kommunikationsformen - neue ästhetische Modelle?
Ist "rider1" ein Mann oder eine Frau? Die Frage bewegte vor einiger Zeit die Gemüter im Diskussions-Board von Wallstreet Online [3]. Mit detektivischem Spürsinn und Textanalysen von beinahe literaturwissenschaftlicher Qualität versuchte man, der Identität des Teilnehmers oder der Teilnehmerin auf die Schliche zu kommen. Im World Wide Web sind unabsehbar viele solcher Diskussionsforen und Chatrooms zu allen erdenklichen Themen vorhanden, an denen jeder teilnehmen kann. Die Maskierung durch ein Pseudonym ist weiter nichts Ungewöhnliches in diesen virtuellen Begegnungsstätten. Einen besonderen Kick hat sie jedoch bei Wallstreet Online, denn hier geht es nicht um Spiel, Spaß und Blabla, sondern um sehr reale Größen und handfeste Interessen: Um Börsenkurse. Diskutiert werden die Kursbewegungen einzelner Aktien, die Unternehmensstrategien, Chartverläufe und Gewinnerwartungen. Die Anonymität der Teilnehmer wird strikte gewahrt.
Unter den Äußerungen, Namen und Standpunkten findet man vom kompetenten Fachmann über den zielstrebigen Geldraffer bis zum Zockerlehrling so ziemlich alles. "Bandit" versorgt die Aktionärsgemeinde stets mit sauber recherchierten Fakten. "Kinsky, geläutert" sorgt für bizarre Einschätzungen und heizt damit die spekulative Phantasie an. "Breitmaulfrosch" ist eine unangefochtene Autorität in Aktienanalyse, um den sich dutzende von kleinen Glücksspielern drängen in der Hoffnung, für ihr favorisiertes Papier eine Wetterprognose zu erhalten. Drei aus der Menge der Bastler und Strategen, Dummpusher und Börsenjunkies, Miesmacher, Lamentierer und Euphoriker ohne Zahl. Die Szene ist ein Tanz ums goldene Kalb und Sommernachtstraum zugleich - ein Riesenkarneval mit blutig ernstem Hintergrund, einmalig im zugespitzten Nebeneinander von ökonomischer Realität und ästhetischem Spiel.
Man könnte den Eindruck gewinnen, daß hier die Welt der Ökonomie mit ihren kollektiven Handlungsstrukturen der Welt der Musik im Hervorbringen neuer ästhetischer Konstellationen einen Schritt voraus ist. Eine Auseinandersetzung mit den aktuellen zivilisatorischen Phänomenen findet in der Musik tatsächlich nur am Rande statt. Im Zusammenhang mit Ökologiebewegung und alternativen Lebensformen haben sich die Komponisten - besonders in Deutschland - allzu lange daran gewöhnt, ihr Augenmerk mehr nach Innen, auf gesellschaftliche Kleinstrukturen und lebensweltliche Erfahrungsbereiche zu richten. Doch inzwischen haben sich Kommunikationsstrukturen wie die geschilderte weltweit ausgebreitet, und sie färben weit in den Alltag hinein ab. Sie haben die neueste Technologie zur Voraussetzung und sind zugleich chaotisch organisiert, ihre Erscheinungswelt ist durch barocke Überfülle und zugleich durch Ungreifbarkeit gekennzeichnet, Realität und Fiktion lassen sich in ihnen nicht mehr auseinanderhalten. Ihr paradoxes Potential reicht spielend an die Bilder von komplexen Wirklichkeiten heran, die heute in der Musik geschaffen werden.
Das austauschbare Ich
Im 28. Kapitel seiner Balzac-Analyse "S/Z" [4] fragt Roland Barthes nach der Struktur des Ichs im Text und unterscheidet zwei Erscheinungsformen: die Person und die Figur. "In der Erzählung (und in vielen Konversationen) ist Ich kein Pronomen mehr, es ist ein Name, der beste aller Namen. Ich sagen, das ist sich unfehlbar Signifikate zuschreiben; das ist auch sich mit einer biographischen Dauer versehen (...), der Zeit einen Sinn geben. Auf dieser Ebene ist Ich (...) also eine Person." Diese Person konstituiert sich als Produkt einer komplexen Kombinatorik, ihr Name fungiert als magnetischer Pol, der die Seme (Bedeutungselemente) anzieht. Ganz anders die Figur, der die identitätsstiftende Namensgebung, die individuelle Geschichte und die Kombinatorik der Bedeutungen fehlen. Sie ist Spielball der Biographie, der Psychologie, der Zeit - eine unpersönliche Konfiguration symbolischer Beziehungen: "Als Figur kann die Person zwischen zwei Rollen hin- und heroszillieren, ohne daß diese Oszillation einen Sinn hätte, denn sie findet außerhalb der biographischen Zeit statt (...) Die symbolische Struktur ist vollkommen reversibel: man kann sie in allen Richtungen lesen." In dieser Form ist die Person "nur ein Ort des Durchgangs (und der Wiederkehr) der Figur".
Zwar macht Barthes diese Bemerkungen im Hinblick auf einen literarischen Text, doch kann man Analogien zur Musik ziehen. Auf die Komposition übertragen würde das heißen, daß es durchaus zweierlei Arten von musikalischen Produkten gibt. Einerseits im Sinn der "Person" als Produkt einer mehr oder weniger komplexen Kombinatorik, das Signifikanz besitzt und sich auf einen (lebens-)geschichtlichen Prozeß abstützen kann. Andererseits im Sinn der "Figur" als einer symbolische Struktur, die beliebig zwischen mehreren Rollen oszillieren kann und nur Durchgangscharakter hat. Der zweiten Kategorie des Beliebigen, Gesichtlosen, Austauschbaren gehörten schon immer die Mehrzahl aller Hervorbringungen an, von den schockweise produzierten Triosonaten des Barock bis in die Gegenwart.
Fortschritt essen Töne auf
Die Triosonaten der Gegenwart sind die Computerkompositionen. Die Computerindustrie ist neben der Rüstung, mit der sie nicht nur von der Wortwahl her viel zu tun hat, heute der einzige Ort, an dem der in Verruf geratene Fortschrittskrieg noch ungehindert tobt. Das färbt auch auf die Musik ab, die mit diesen Geräten gemacht wird. Die Leichtigkeit, mit der heute die klanggenerierende Software zu bedienen ist, hat zu einer inflationären Vermehrung von Werken geführt. Sie sprechen auf Anhieb durchaus an, weil sie von Klangfarbe und Dramaturgie her "interessant" gemacht sind. Doch die Crux ist die Serienproduktion von Kompositionsmethoden. Wenn ein neues Programm auf den Markt kommt, das in der Lage ist, Lindenmayer-Systeme und Chaosstrukturen höherer Ordnung zu generieren, schreiben Dutzende junger Komponisten nach Lindenmayer-Systemen und Chaosstrukturen höherer Ordnung. Nur wenigen Komponisten gelingt ein Stück, das auch beim dritten Hören noch frisch wirkt. Es sind in der Regel diejenigen, die sich als erste mit der neuen Materie befaßt haben. Der Kampf mit ihr hat sich im Werk als positive Qualität niedergeschlagen.
Die mittels Computer erzeugten Produkte werden vom technischen Fortschritt fortlaufend aufgefressen: Jedes Update einer Software ist dazu angetan, die mit der früheren Version erzeugten Klänge ins Reich der Schatten zu verweisen. Sie werden im Extremfall ausgeknipst wie die Zombies im Computerspiel, deren einprogrammierten Tricks der Spieler auf die Schliche gekommen ist. Schon längst verweigert sich die rasant weiterentwickelte Hardware der Wiedergabe früher entstandener Produkte, und wer nicht rechtzeitig für aufwärtskompatible Kopien sorgt, kann die Datenträger, auf denen seine Steuerprogramme gespeichert sind, zur Entsorgung geben. Die Stücke als ästhetische Produkte überleben die ephemere Lebensdauer der Hardware nicht.
Doch ohne Computer wird es in Zukunft nicht mehr gehen. Nicht nur in der Planung und Realisierung musikalischer Prozesse, sondern auch in der Grenzüberschreitung zu den andern Künsten fällt ihnen eine Schlüsselrolle zu. Sie sorgt für offene Schnittstellen zwischen den medialen Ebenen. Nach dem Vorbild des Cross Media Verfahrens - die Technologie revolutioniert zur Zeit die Entwicklungen in der Druckindustrie - läßt sich das einmal digitalisierte Objekt in beliebiger Gestalt und in allen Medien wiedergeben: als Klang, Bild oder Text, im Saal, Internet oder Programmbuch. Damit läuft Inhalt aber auch Gefahr, zum gesichtslosen "Content" degradiert zu werden; die Dialektik zwischen Inhalt und Form, die die Binnenspannung eines Kunstwerks ausmacht, kann der Glätte der technischen Manipulation zum Opfer fallen.
Aufwertung der Kategorie des Inhalts?
Die Frage der musikalischen Inhalte wird heute viel gelassener angegangen als zu Zeiten der strukturorientierten Avantgarde. Narrative Elemente in einem Werk sind nichts Außergewöhnliches mehr, zumal die Grenzüberschreitungen zu anderen Künsten, die im Medienzeitalter zunehmen (und die gerade an einem Ort wie Donaueschingen thematisiert werden), eine semantische Aufladung der Musik zur Folge haben. Situationen wie in Darmstadt sind Geschichte, als Nono der ästhetischen Häresie bezichtigt wurde, weil in seinem Lorca-Epitaph zu viel Inhalt vorkam. (Oder der falsche Inhalt, falsch aufbereitet? Stockhausens "Gesang der Jünglinge" gehörte jedenfalls zum Darmstädter Schriftenkanon.)
Heute wird mit einem Augenzwinkern, das nicht auf die Haltung des anything goes zurückzuführen ist, in einer Donaueschinger Uraufführung sogar Eislers DDR-Nationalhymne zu einem Inhalt gemacht.[5] Noch vor zehn Jahren hätte das das Publikum so gespalten wie es die Bevölkerung von Gesamtdeutschland damals war. Eislers Stück dient Peter Ablinger als Klangobjekt jenseits aller Ideologie, das er in Analogie zu Abbildungsverfahren in der Malerei strukturell verarbeitet - natürlich nicht ohne politische Konnotationen ganz zu verleugnen. Musik über Musik, bei der das in jeder Hinsicht Andere und Andersgewordene mithilfe "musikfremder" Techniken integriert und dadurch in eine verfremdete Nähe geholt werden soll. Auch Andreas Dohmen bezieht sich in seiner "Musik für Gerhard Richter" auf fotorealistische Verfahren, die dieser in seinen Bildern angewandt hat. So kommt durch die Hintertür synästhetischer Experimente plötzlich wieder die längst totgesagte Frage nach der Abbildfunktion von Musik aufs Tapet.
Daß das Verständnis von Material als klar umrissenes Objekt - vor allen Inhalten - etwas mit der spezifischen Wahrnehmungsweise in der bildenden Kunst zu tun haben könnte, zeigt sich bei einer dritten Uraufführung in Donaueschingen, bei Chris Newmans "The State Painting with Anti-Abstract". Newman ist sowohl Komponist als auch Maler. Material tritt ihm als etwas Fremdes, Abstraktes gegenüber, das er durch Einwirkung des Subjekts - die Konfrontation mit "aufgeschriebener Improvisation", die näher am Ich ist - "auslöschen" und in eine lebendige Beziehung transformieren will. Er strebt eine Art von Vergeistigungsprozeß an, hinter dem der Wunsch nach einer neuen Authentizität der Beziehungen - im Kunstwerk wie im Leben - zum Vorschein kommt. Eine Authentizität jedoch nicht in der von Wolfgang Rihm kritisierten Form als Marketingverhalten, sondern als Ausdruck des Beisichseins in der Beziehung zum Andern.
Solche Versuche sind allerdings weit entfernt von einer offenen Inhaltskonzeption, die auch ethische Überlegungen im weitesten Sinn einbeziehen würde. Immerhin gehörte so etwas bis Schönberg ganz selbstverständlich zur europäischen Musik und ist erst im ausgehenden 20. Jahrhundert fast vollständig verschwunden. Einzelne Elemente haben überwintert in Werken von Komponisten wie Nono oder Klaus Huber, wo sie auf den Tag ihrer Wiederentdeckung warten. Der naht vielleicht dann, wenn der neuen Musik ihre unterschwelligen Affinitäten zur Biotechnologie bewußt werden. Klonen gehört in den elektronischen Studios und auf dem Computer schon längst zum musikalischen Alltag. Doch ist offenbar noch kaum daran gedacht worden, die ästhetische Praxis in einem strukturellen Zusammenhang mit der gesellschaftlichen zu sehen. Dabei stellen die Konsequenzen der Genforschung alles in den Schatten, zu was die menschliche Vernunft bisher imstande war, Hiroshima inklusive.
Das überforderte Individuum
Die letzten zwei Jahrzehnte waren eine Phase der Entfesselung des Individuums. Jedermann und jedefrau konnten sich in der Öffentlichkeit hinstellen und ungehemmte Selbstdarstellung betreiben. Talkshow-Kultur aller Sorten hatte Hochkonjunktur, vom Gestammel Unterprivelegierter über das pikante Outing distinguierter Middleclass-Prominenzen bis zum Literaturgeschrei. Je schriller die Performance, desto irrelevanter der Inhalt. Doch daß der Individualisierungsprozeß nur für diejenigen von persönlichem Nutzen war, die aufgrund ihrer materiellen Lage die Wahlmöglichkeiten real nutzen konnten, daß er für die große Mehrzahl eine verstärkte Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Kontrollinstanzen zur Folge hatte, denen sie nun ungeschützt ausgesetzt waren: das merkten die meisten, die sich an den neuen Freiheiten sorglos delektierten, nicht.
Das überforderte Individuum ist heute der vielleicht am meisten verbreitete soziale Typ. Die Gefahr seiner Entleerung war nie größer als unter den Spielregeln des heutigen Kapitalismus, der den ausufernden Individualisierungsprozeß in Gang gesetzt hat. Die daraus hervorgehenden Individuallagen sind, wie Ulrich Beck konstatiert hat, gekennzeichnet durch "Marktabhängigkeit in allen Dimensionen der Lebensführung" [6]. Das Individuum ist weit entfernt von einer vermeintlichen Autonomie; es muß sich seine Biographie ständig neu zusammenbasteln und "bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen."
Ein neugieriger Blick auf die Kunstsphäre liegt da nahe. Verkörpert doch der Künstler in der bürgerlichen Gesellschaft noch immer das Individuum in seiner höchsten Potenz. Sie erwartet von ihm, daß er diese Lebenshaltung bis in die sublimsten Verästelungen hinein differenziert und leitbildhaft zur Schau stellt. Wörter wie "unverwechselbar", "eigenständig" und "Persönlichkeit" werden auch heute noch mit Vorliebe dazu benutzt, den Rang eines Kunstwerks festzustellen.
Doch hier gilt es wohl zu differenzieren. Während etwa in der bildenden Kunst seit Andy Warhol der Konflikt von Individualisierung und Marktabhängigkeit sich in einer gewinnbringende Symbiose aufgelöst hat und unverhüllt zur Schau gestellt wird, hat sich in der Musik, die von Produktionsvorgang und Erscheinung her wesentlich ungreifbarer ist, der traditionelle Künstlertypus vermutlich viel stärker behauptet. Nach der ersten Emphase des Ich-Sagens Mitte der Siebziger Jahre ist unter den Komponisten ziemlich schnell Skepsis und Ernüchterung eingekehrt. Die starken Individuen schufen sich ihre uneinnehmbaren Trutzburgen des Ichs, die andern suchten unter den vielzitierten Bedingungen der postmodernen Beliebigkeit nach den neuen alten Orientierungspunkten oder fanden durch Kompromisse - vorübergehend - den Anschluß an den Betrieb. Illusionen über eine künstlerische Selbstverwirklichung qua Unmittelbarkeitsästhetik macht sich heute niemand mehr. Die harte Arbeit am wie auch immer definierten "Material" tritt wieder in den Vordergrund.
Der Markt: Kampffeld und Vanity Fair
Die Arbeit des Komponisten ist nicht einfacher geworden, weder nach innen, was die in jedem Moment neu zu treffenden ästhetischen Entscheidungen angeht, noch nach außen in Richtung Markt. Die äußeren Notwendigkeiten nehmen zu. Auch wenn er sich ganz auf seinen kreativen Impuls zu konzentrieren und sich vor äußeren Einflüssen abzuschirmen trachtet, kann sich der Komponist den gesellschaftlichen Mechanismen nicht entziehen. In den Medien muß er heute nicht nur mit seinen Werken, sondern auch mit seiner Person präsent sein, und über seine Tätigkeit des Komponierens hinaus ist er als Kleinstunternehmer (mit Tendenz zur Scheinselbständigkeit) gezwungen, sich immer mehr als "Planungsbüro" zu begreifen und unablässig an seiner Biographie respektive Karriere zu basteln, will er nicht in Vergessenheit geraten. Er muß sich und sein Produkt immer wieder neu "am Markt positionieren", wie es in der Wirtschaftssprache so schön heißt.
Dazu ist Individualität ein notwendiges Unterscheidungsmerkmal. Den Markenführern mit ihrem gefestigten Image helfen die Verlage und andere Vermittlungsinstanzen des Musikbetriebs, denn hier kann man ja nichts falsch machen und langfristig sind es wirtschaftliche Selbstläufer. Die erfahrenen Altavantgardisten, für die das Zuerst-Ankommen schon immer zu den essentials zählte, haben hier die Nase eindeutig vorne vor der jüngeren Generation, der sonst gerne ein postmoderner Hang zu einer Ästhetik der Repräsentation unterstellt wird. Die Bekanntesten von ihnen sind perfekte Verkörperungen ihrer Ideen und zugleich die Gefangenen ihres Images. STOCKHAUSEN etwa, der - in Majuskelschrift und ohne Karlheinz - in breiten Konsumentenschichten zum Markenzeichen für universalistische Bewußtseinserweiterung avancierte, Ligeti, der mit seinen skurril-beredten Konzerteinführungen dem Publikum glaubhaft und mit hohem Unterhaltungswert die Rolle eines kuriosen Genies vorspielt, oder Kagel, dessen tiefenpsychologisches Maskenspiel mit Stilen, Redeweisen und Haltungen die Kategorie des Interessanten schlechthin verkörpert.
Die weniger bekannten Komponisten, und das sind die meisten, sind für die Kulturwirtschaft potentielle Risikofaktoren und deshalb für eine Investition nur beschränkt attraktiv. Ihnen bleibt mithin nur die Eigeninitiative, in der Hoffnung, durch Hartnäckigkeit der Selbstpräsentation eines Tages zur Gruppe der Erfolgreichen vordringen zu können - wenn sich denn die Werke dazu eignen. Wer da über kein widerstandsfähiges, im Sinn von Barthes "personenfähiges" Ich verfügt, läuft Gefahr, in der kollektiven Erzählung von der großen Freiheit der Kunst nicht als Person, sondern als (Rand-) Figur wahrgenommen zu werden. Ein in alle Richtungen lesbare Struktur, oszillierend zwischen mehreren Rollen. Ein Durchgangsort.
Die Mehrfachrollen zu erfüllen, die die Gesellschaft vom künstlerisch tätigen Individuum heute verlangt, wird zur vielleicht größten Herausforderung der nächsten Jahre - die Bewältigung des permanenten Wechsels zwischen kreativem Künstler und Selbstdarsteller, zwischen kritischem Einzelgänger und Marktteilnehmer. Überleben wird nur, wer es schafft, das gesellschaftliche Maskenspiel mitzumachen und gleichzeitig sich selbst zu bleiben.
© 2000 Max Nyffeler
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