Krise!Zur unerwarteten Wiederkehr eines zeitlosen PhänomensKrise, soweit das Auge reicht, und wieder einmal gilt: Das Sichere ist nicht sicher. Grenzüberschreitend ist das Heulen und Zähneklappern jener zu hören, die ihren Glauben an den ewigen Fortschritt verloren haben. Mittlerweile haben wir uns aber schon etwas an den Katzenjammer gewöhnt, und der Übertrumpfungswettbewerb an Schwarzmalerei ist Alltag geworden. Im Dezember 2008 klang es noch schrill in den Ohren. Damals brachte Spiegel Online an einem einzigen Tag drei Schlagzeilen, die sich gegenseitig totschlugen: „Kriselnder US-Autobauer: GM streicht mehr als 30.000 Jobs zusätzlich“ / „Wirtschaftskrise: Automarkt in den USA bricht dramatisch ein“ / „Absatzkrise: Deutscher Kfz-Markt bricht drastisch ein“. In diesem Advent des Weltuntergangs fehlte auch der neue Messias nicht, den die Süddeutsche Zeitung beschwor: „Wie hart wird die Rezession werden? Was kann die deutsche Politik dagegen tun? Und was wird Barack Obama präsentieren?“ Und schließlich griff auch der Philosoph ein. Mit seiner aus der Medizin geborgten Definition: "’Krisis’ meint den Entscheidungskampf eines Organismus, aus dem dieser entweder als überlebender Sieger oder als toter Verlierer hervorgeht“, verlieh Peter Sloterdijk dem K-Wort endgültig Rang und Würde des Furchtbaren. Doch an nichts gewöhnt sich der Mensch schneller als an die Wiederholung. Einige Monate später gingen Politiker und Bewusstseinsstrategien mit dem K-Wort bereits bedeutend geschmeidiger um. Die Krise wurde nun „aktiv bekämpft“: Der Staat schaufelte immer neue Milliarden in die Milliardenlöcher, die Nation der Autofahrer berauschte sich am Fusel der Abwrackprämie und zur Ablenkung blies der Finanzminister zur Jagd auf die Reichen. Ob all das etwas nützt, steht jedoch in den Sternen. Wir sind doch nicht blöd! Wirklich nicht?Der Schock der Finanz- und Wirtschaftskrise war umso größer, als niemand damit rechnen wollte. Zwar haben nüchterne Fachleute teilweise schon vor Jahren die Pleite glasklar und ohne alarmistisches Gestikulieren prognostiziert. Doch niemand wollte es hören. Krise durfte nicht sein, es ging ja immer aufwärts, und da wollte man sich die Stimmung nicht mit unpassenden Warnungen verderben lassen. Für böse Manager, die ihre Boni hamsterten, wie für gute Konsumenten, die ihre Waren auf Kredit hamsterten und sich „ihre“ Songs gratis aus dem Internet beschafften, galt das Motto: „Ich bin doch nicht blöd! Das hol’ ich mir!“ Und nun sitzen wir da mit unserem minderwertigen China-Schrott, den wir uns gegen gutes Geld oder auch gratis andrehen ließen, und wissen nicht, ob das alles morgen noch taugt. Zumal das dicke Ende des ganzen Schlamassels noch bevorsteht. Die jetzige Krise mag ungewöhnliche Ausmaße haben. Doch gab es eigentlich einmal eine Zeit ohne Krise? Vielleicht im beginnenden 16. Jahrhundert, dem goldenen Zeitalter der Seefahrer und der europäischen Renaissance mit Leonardo, Josquin und Michelangelo? Fehlanzeige, wenn man an den deutschen Bauernkrieg und die Plünderung Roms durch die deutschen Söldner denkt. Im 17. Jahrhundert? Damals verwandelte der Dreißigjährige Krieg Teile des Deutschen Reichs in eine Wüste mit nachhaltigen Folgen. Im 18. Jahrhundert endet die Aufklärung auf der Guillotine. Und im 19. Jahrhundert gibt es Revolutionen in schneller Folge und industrielles Massenelend, im zwanzigsten Hitler, Stalin, zwei Weltkriege und die Atombombe. Bisher sind wir also mit unserer Abwrackprämie noch glimpflich davongekommen. Krisenfeste Zeiten, das waren bestenfalls einige kurze Augenblicke in gut überschaubaren Verhältnissen. Etwa die ersten Jahrzehnte im Nachkriegsdeutschland/West, wo dank amerikanischer Dollars das Wirtschaftswunder blühte und in Darmstadt die Musik der Zukunft und der ultimative Fortschritt ausgerufen wurden. Doch sie sind bekanntlich ebenso vorbei wie die angeblich goldenen Jahre der DDR. Krisenlose Zeiten existieren vor allem in der verklärenden Erinnerung, und auch nur auf Kosten dessen, was als ihre Kehrseite verdrängt wird: das Nazierbe im Westen und die Diktatur im Osten. Wirtschaftlicher Aufschwung ist noch kein Beweis für die Krisenfestigkeit einer Gesellschaft; im Gegenteil, er kann über eine tiefer liegende, permanente Krise elegant hinwegtäuschen. Krise als ChanceWäre umgekehrt die gegenwärtige Wirtschaftskrise vielleicht als Stunde der Wahrheit zu begreifen, in der wir mit lange verdrängten Problemen konfrontiert werden? Max Frisch bezeichnete einst die Krise als "produktiven Zustand" man müsse ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen. Wenn dem so ist, wären wir zum Nachdenken aufgefordert: Was ist falsch gelaufen, was können wir besser machen? Das betrifft nicht nur die faulen Kredite und veralteten Autotechnologien. Es betrifft auch die geistige Entwicklung, und dazu gehört unter anderem das Komponieren. Allerdings wäre es vermessen, nach den Maßnahmen zur Gesundung der Wirtschaft nun auch nach solchen für die Kultur zu rufen. Außer in Ländern wie dem Iran oder Kuba ist die Zeit für Kulturkommissare abgelaufen. Und in unseren Breitengraden würden auch hurtig formulierte Festivalmottos nichts bringen. „Die aktuelle Performance zur Krise“ oder „Das dekonstruierte Streichqartett“? Damit würden höchstens noch einige wendige Konjunkturschreiber mehr dazu animiert, einem vorgegebenen Trend nachzulaufen. Welches die Kriterien einer künstlerischen Neuorientierung sind, ob sie überhaupt als notwendig betrachtet wird und in welche Richtung sie gehen kann: Das kann sich nur in den Köpfen der kulturell Tätigen selbst entscheiden und geht nicht von heute auf morgen. In einigen Jahren, wenn die Partituren vorliegen, die jetzt konzipiert und geschrieben werden, wird man sehen, ob und wie sich das Komponieren verändert hat oder ob es nach dem einlullenden Motto „Weiter so!“ gelaufen ist. Innere und äußere KrisenWie es immer Krisen gab, so wurden in Krisenzeiten auch immer große Kunstwerke geschaffen. Ein Lamento, dass jetzt mit schwindenden Finanzen auch gleich die Musik untergeht, ist also nicht angebracht. Dabei gilt es aber zu unterscheiden zwischen den äußeren, gesellschaftlichen Bedingungen der Kunstproduktion, konkret: den Institutionen, und den inneren, individuellen Bedingungen, also der schöpferischen Tätigkeit. Eine Partitur muss auch aufgeführt werden können, um Klang zu werden, und dazu braucht es Institutionen: Orchester, Veranstalter, Ausbildungsinstitute. Für sie gilt es also in Zeiten der Krise zu kämpfen, damit sie nicht verschwinden. Doch mit den schöpferischen Voraussetzungen des Komponierens hat das noch nichts zu tun. Ein neues Werk entsteht zunächst einmal im Kopf des Autors und nimmt dort ohne äußere Beeinflussung Gestalt an es wird nicht im Hinblick auf den Schlussapplaus komponiert. Die gelegentlich zu hörende Behauptung, eine Verknappung der Subventionen hätte direkte Auswirkungen auf die Kreativität, ist somit höchstens halbrichtig. Verhungern muss hierzulande ohnehin kein Komponist oder Schriftsteller mehr. Ein Blick auf die östlichen Nachbarstaaten, wo die künstlerische Intelligenz seit 1989 weitgehend von der Hand in den Mund lebt und oft genug gezwungen ist, den Lebensunterhalt mit kunstfremden Tätigkeiten zu verdienen, könnte manches Jammern relativieren. Gejammert wird in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern noch immer auf hohem Niveau. Gewiss ist es nur billig, dass ein Künstler so viel verdient wie zum Beispiel ein durchschnittlicher Angestellter, und man würde es ihm nicht nachsehen, wenn er seine Forderungen über die Gewerkschaft einklagen würde. Die Qualität seiner Erfindung und seiner Werke würde sich damit aber um kein Jota verbessern. Sie lässt sich, anders als die Lebenshaltungskosten, nicht in Euro messen. Krisenerfahrungen im musikalischen WerkAuch der „Krisengehalt“ eines Werks nach dem Rezept „Je problematischer oder problembewusster, desto besser“ ist kein zuverlässiger Qualitätsmaßstab, und schon gar nicht ließe sich die zum Modewort verkommene Vokabel der „Gebrochenheit“ als Messlatte anlegen; das war schon vor der Krise klar. Wenn dem so wäre: wohin dann mit den Werken etwa eines Joseph Haydn? Trotzdem: Schaut man sich in der Musikgeschichte einmal etwas um, unter welchen Bedingungen die Werke entstanden sind, die uns auch Jahrhunderte nach ihrer Entstehung noch zu bewegen vermögen, so erkennt man, dass viele von ihnen Ausdruck einer persönlichen Krise sind. Das bedeutet aber keineswegs, dass diese inneren Krise immer eine Reaktion auf eine äußere im Extremfall eine politisch-gesellschaftliche darstellt. Sie muss sich auch nicht zwangsläufig in Struktur und Erscheinungsbild der Werke niederschlagen muss. Nicht immer zeigt sich der Widerspruch zwischen innerer und äußerer Befindlichkeit so eklatant wie etwa bei Mahlers Sechster Sinfonie. Sie entstand in einem Moment von häuslichem Glück und äußerem Wohlergehen, ist aber das Katastrophenstück par excellence; ein niederschmetternder Tonfall, der sich nur selten aufhellt, durchzieht das Werk. Doch vielleicht ließe sich dieses rätselhafte Auseinanderklaffen von äußerer und innerer Wirklichkeit bei Mahler dadurch verstehen, dass unterschieden wird zwischen vorübergehendem Wohlbefinden und einem grundsätzlich pessimistischen Weltbild. Eine kausale Zuordnung von krisenhafter Erfahrung und Werk ist stets mit Vorsicht zu genießen, steht doch dahinter eine Ästhetik, die den Sinngehalt der Werke primär aus der Biografie ihres Autors erklären möchte. Zu leugnen sind die Querbeziehungen zwischen Person und Werk nicht, doch sie verlaufen in der Regel unterschwellig und in komplizierten Bahnen. Dafür steht etwa ein Beethoven, den die Katastrophe seiner Ertaubung keineswegs zur musikalischen Schwarzmalerei verleitete, oder ein Heinrich Schütz, der sein Leben in der Zeit von Dreißigjährigem Krieg und Pest eine „nahezu qualvolle Existenz“ nannte, dessen Musik den Ton der Zuversicht aber nie verlor. Erst bei den Komponisten des 20. Jahrhunderts schlagen sich persönliche Krisen und äußere Katastrophenerfahrungen unverstellt in der Werkgestalt nieder. Zu nennen wären hier etwa die Sinfonien von Schostakowitsch und Karl Amadeus Hartmann, und von letzterem als direkte Reaktion auf ein äußeres Ereignis besonders die Klaviersonate 27. April 1945, entstanden unter dem Eindruck eines Elendszugs von Häftlingen aus dem Konzentrationslager Dachau, der an jenem Tag von SS-Leuten an seinem Haus vorbeigetrieben wurde. Komponieren wird hier unmittelbar zum Zeugnisablegen. Wie Kriegserfahrungen zu einer existenziellen Krise führen können, von der die Musik nachhaltig affiziert wird, zeigt sich bei Bernd Alois Zimmermann. Sein krisenhaftes Bewusstsein, in dem sich subjektive und objektive Motive verknäueln, hat sich in keiner anderen Komposition so sinnfällig artikuliert wie in seinem Requiem für einen jungen Dichter. In einem monumentalen Klanggemälde, der spätmittelalterlichen Darstellung des Weltengerichts ähnlich, lässt Zimmermann die Weltanschauungen, politischen Hoffnungen und Verbrechen eines ganzen Jahrhunderts im Medium von Klang und Sprache aufeinanderprallen und in einem Höllensturz des Nihilistismus enden. Ein Jahr nach Abschluss der Komposition nahm er sich das Leben. In der krisenhaften Erscheinung von Zimmermanns Requiem spiegelt sich nicht nur das katastrophische Weltgeschehen, sondern auch seine eigene künstlerische und menschliche Krise und darüber hinaus die der ganzen ästhetischen Gegenwart. Doch steht das Werk in einer langen Tradition; es ist nur eine späte, wenn auch erschreckende Facette der Krise des modernen Subjekts, deren musikalische Spuren sich von Gesualdo und Monteverdi bis in unsere Gegenwart hinein verfolgen lassen. Krise als permanente künstlerische Erfahrung der ModerneIn der Gegenwartsmusik sind solche zeitlosen Sinnbilder für die Krise des modernen Bewusstseins rar geworden. Zu finden sind sie etwa noch in den zerbrechlichen Klangarchitekturen von Luigi Nonos späten Kompositionen oder in den apokalyptischen Visionen von Klaus Huber. Bei beiden sind die Krisenzeichen aufgehoben in einer ästhetischen Gesamtkonzeption, in der ein starker konstruktiver Wille und eine Idee von Schönheit die Werke vor der Selbstzerstörung und dem Abrutschen in die Belanglosigkeit sekundärer politischer Erfahrungswelten bewahrt. Auch in Wolfgang Rihms unruhiger Handschrift ist ein latenter Krisengestus erkennbar, der sich nach dem eruptiven Beginn in den siebziger Jahren zwar etwas abschwächte, den Werken aber nie ganz verloren ging. Die drei Genannten stehen nicht allein. Die Aufzählung wäre lang und ließe sich fortsetzen bis zu jenen Komponisten, die aufgrund ihrer Unempfänglichkeit für mitteleuropäisch-dialektisches Denken gerne als scheinbare Gegenpole angeführt werden, wie etwa Morton Feldman oder Arvo Pärt. Künstlerisches Zeitbewusstsein lässt sich nicht nach einem Katalog von kompositionstechnischen Geboten und Verboten bewerten. Es lässt sich auch nicht reduzieren auf einen Alarmismus, wie er etwa von Schönbergs Orchesterstücken op. 16 ausgeht und aus der damaligen Zeit heraus durchaus verständlich ist. Krise war schon immer da und hat sich im Lauf der Geschichte in den unterschiedlichsten musikalischen Formen artikuliert. Insofern können sich nur diejenigen vor der Krise fürchten, die von der Ahnung getrieben werden, sie könnten ihre Werke nach dem großen Aufräumen als Schrottpapiere in einer Bad Bank wiederfinden. © 2009 Max Nyffeler Themen Inhalt
|