Herausforderung KammermusikÜber die ungebrochene Aktualität einer historischen GattungWas ist heute Kammermusik? Ist es Musik für eine "Besetzung von zwei bis neun Spielern", wie eine verwaltungsfreundliche Definition lautet? Kommt es auf die Instrumentalkombination an? Oder ist, nach dem Vorschlag Adornos, ein satztechnisches Kriterium ausschlaggebend, nämlich das Prinzip der durchbrochenen Arbeit, das eine Verteilung auf mehrere Spieler notwendig macht? Daß ein Streichquartett, ob von Haydn, Webern oder Ferneyhough, als Kammermusik angesehen wird, darüber scheint Einigkeit zu herrschen. Wenn Ligeti ein Bläserquintett schreibt, ist es dasselbe wie bei Franz Danzi und Hindemith: Kammermusik. Ein Madrigal von Marenzio aus dem späten 16. Jahrhundert kann mit gutem Grund als vokale Kammermusik bezeichnet werden. Das mag auch noch für Stockhausens meditative "Stimmung" gelten. Aber was ist mit der Sklavenchronik von Henzes "Cimarrón", mit Schnebels "Atemzügen" für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte, oder mit Cages "Variations", bei denen Zahl der Ausführenden und Art der Klangquellen unbestimmt sind? Oder mit einem Stück für Flöte solo, das mittels Live-Elektronik in einen virtuellen Klangraum projiziert wird? Kommt es auf die Art und die Verwendung der Instrumente an, daß ein Stück noch als Kammermusik betrachtet wird, auf den europäischen Traditionsbezug oder auf den exklusiven Gestus des Musizierens? Und wenn ein Ensemble wie das Klangforum Wien ein kleiner besetztes Werke spielt: Ist das jetzt Kammermusik, oder fällt es unter die heute gerne benutzte Bezeichnung Ensemblemusik? Warum scheut man in so einem Fall vor dem Begriff Kammermusik eher zurück? Wie vieles andere ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch der Begriff der Kammermusik ins Rutschen geraten. Zwar mag die Neubewertung von formalen und musiksprachlichen Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts, die im Zuge der "Postmoderne" geschah, manche dazu verleiten, von einer Restauration der guten alten Ordnungskriterien zu sprechen. Doch auch wenn neue Plausibilitäten herbeigesehnt, neue Evidenzen beschworen werden: Das Rad läßt sich nicht zurückdrehen. Andererseits hat die Rückbesinnung auch ihre fruchtbaren Seiten. Durch den neuen Blick auf die Vergangenheit ist eine Vielschichtigkeit des Denkens entstanden, in der sich Altes und Neues wie Geschiebe überlagern. Einfacher ist die musikalische Welt damit bestimmt nicht geworden, aber das gilt auch für alle andern Lebensbereiche. Das Verhältnis zur Öffentlichkeit ist bei der Kammermusik grundsätzlich ein anderes als bei Orchestermusik oder Musiktheater. Diese mußten aufgrund ihrer ökonomischen und klanglichen Dimensionen notwendigerweise die Öffentlichkeit der großen Säle suchen. Dagegen ist Kammermusik, ursprünglich als "musica da camera" für die fürstliche "Kammer", den bürgerlichen Salon oder den familiären Zirkel geschaffen, im Prinzip bis heute als Musizieren in privatem oder halbprivatem Kreis denkbar. Zu den Gründen, weshalb sie aus diesem geschützten Umfeld der "Kenner und Liebhaber" heraustrat, gehören die zunehmende Arbeitsteilung zwischen Komponist und Interpret, die damit verbundene Professionalisierung des Interpreten, technische Neuerungen sowie ganz allgemein die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit. Diesen Gründen soll hier aber nicht weiter nachgegangen werden. Wohl aber sei hier ein anderer Gedanke aufgegriffen: Daß nämlich der von äußeren Faktoren herbeigeführte Wechsel des sozialen Ortes der Kammermusik ihre Entwurzelung oder, auf Neudeutsch, ihre "Freisetzung" sie sowohl in ihrem Traditionszusammenhang als auch in ihrer ästhetischen Konsistenz grundlegend erschütterte und sie zur Nichtidentität verurteilte. Kammermusik ist seither ein bevorzugtes Experimentierfeld der musikalischen Moderne. Die ersten Ansätze dazu zeigen sich schon bei den späten Quartetten Beethovens. Ein Jahrhundert später, nach dem Ersten Weltkrieg, radikalisiert sich diese Tendenz zum Experiment. Gegen Ende des Jahrhunderts setzt sich diese Tendenz fort und gipfelte in der Suche nicht nur nach neuen Formprinzipien und Artikulationsweisen, sondern auch nach neuen Klangräumen realer und virtueller Art. Was sich jedoch durch die Jahrhunderte gleich geblieben ist, ist die Verantwortung, die der einzelne Spieler fürs Gelingen des Ganzen trägt. Den Rückzug ins anonyme Tutti und das Delegieren der Verantwortung an einen allmächtigen Dirigenten gibt es nicht. Kammermusik ist Musik des entfalteten heute oft auch des narzisstisch verabsolutierten Individuums, das sich mit seinesgleichen messen und das Publikum auf gleicher Höhe sehen möchte. Wie zu Zeiten des Barockfürsten, der im Privileg des exklusiven Konsums vor allem eine Bestätigung seiner eigenen Macht sah, enthält Kammermusik auch heute, im Zeitalter des nivellierenden Massenkonsums, die Aufforderung an den einzelnen Hörer, sich als potentiellen Mitspieler zu verstehen und sich hörend auf dem gleichen Niveau wie Komponist und Interpret zu bewegen. Der Stachel des Elitären, der Kammermusik innewohnt, ist für das Publikum Ansporn und Verpflichtung. Und damals wie heute ist das Gefälle zum Massengeschmack enorm, zumindest bei den ernst zu nehmenden Werken. Eine herausragende Rolle nimmt in dieser Sicht das Streichquartett ein. Für viele ist es der Inbegriff von Kammermusik überhaupt, was wohl mit seiner hermetischen Gattungstradition und der Rigorosität der kompositionstechnischen Ansprüche zusammenhängt, die seit Haydn an es herangetragen werden. Mit dem Streichquartett haben seit dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Komponisten experimentiert und sich zum Teil die Zähne daran ausgebissen, auch wenn ein größeres Interesse an den neuen Erscheinungsformen der Gattung erst mit Nonos Quartett von 1980 richtig einzusetzen scheint. Die Wandlungen des Streichquartetts beginnen bei einem Werk wie Cages präseriellem String Quartet in Four Parts (1950) und erreichen bei der mittels Computer programmierten, stochastischen Komposition "St/4 1,080262" von Xenakis (1962) und in der negatorischen Ästhetik von Lachenmanns "Gran Torso" (1972) einstweilige Höhe- und Extrempunkte. Erste Anstöße für eine neue Sicht auf die alte Gattung gab in den fünfziger bis siebziger Jahren das LaSalle Quartett. Danach war es vor allem das 1974 gegründete Arditti Quartett, das mit unzähligen Auftragswerken das Physiognomie des Streichquartetts entscheidend veränderte und zu einer neuen Aufmerksamkeit für die Gattung beitrug. Andererseits hat von allen Kammermusikgattungen vielleicht gerade das Streichquartett am zähesten an den Traditionsbezügen festgehalten. Das verdeutlicht sich auch in den Werken des letzten Vierteljahrhunderts. So bezieht sich etwa ein Komponist wie Rihm explizit auf die späten Beethoven-Quartette als Vorbilder. Oder im erwähnten Quartett mit dem Titel "Fragmente Stille. An Diotima" greift Nono auf ein Verfahren zurück, das schon Haydn in seiner Quartettkomposition "Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" anwandte. Nono wollte, daß die Hölderlin-Fragmente, die er über die Noten schrieb, den Interpreten "im Herzen klingen" und keinesfalls gesprochen oder auch nur programmatisch gedeutet werden sollen. Haydn schrieb vor zwei Jahrhunderten in einem Brief an seinen Verleger über die "Sieben letzten Worte": "Jedweder Text ist bloß durch die Instrumental Music dergestalten ausgedruckt, daß es den Unerfahrensten den tiefesten Eindruck in Seiner Seel Erwecket." Rückwendung zum reinen Klang also bei Haydn wie bei Nono, der Appell an das "feine Innere" (Nono) des Interpreten. Doch das heißt nicht Weltflucht und Verzicht auf Realitätsbezug. Es impliziert vielmehr die Forderung an den Interpreten, der zugleich auch der erste Rezipient eines Werk ist, sich mit der ganzen Kraft seiner Subjektivität für die Realisierung von Struktur und Gehalt einer Komposition einzusetzen. Normative Vorstellungen schwingen im Begriff "Kammermusik" noch stets mit, wenn auch nicht mehr in der Art von strikten Gattungsnormen oder im historisch und soziologisch restriktiven Sinn Adornos. Kammermusik ist auch nicht einfach "Musik für kleine Besetzung"; sie ist mehr als eine statistische Besetzungsgröße. Ihre Legitimation und Substanz bezieht sie, bei aller Ausweitung der Mittel und Verfahrensweisen, noch immer aus der Tradition. Es ist die Tradition der in "Kammer", Bürgerwohnung und Konzertsaal entstandenen musikalischen Denk- und Verhaltensweisen, die, in ihrer entwickeltsten Form, die Denkweisen des freien, selbstverantwortlichen Individuums sind: Bestandteil und Erbe einer großen europäischen Epoche, die für uns zunehmend in historische Ferne rückt. Die Erinnerung an diese Musiziertradition wurde von der experimentell ausgerichteten Avantgarde gelegentlich belächelt, doch heute, da die Vielfalt kultureller Überlieferungen durch die uniformierenden Tendenzen einer digitalisierten Medienwelt zunehmend bedroht wird, erhält sie neue Aktualität. Wenn sich die Komponisten heute wieder häufiger an die Fragen erinnern, auf die schon die großen Kammermusikmusikwerke der Vergangenheit eine Antwort suchten, so ist das auch ein Zeichen des Einspruchs gegen den drohenden Verlust des historischen Gedächtnisses. © 2006 Max Nyffeler Themen Inhalt
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