Musikfestivals unter dem Zwang zur ErneuerungÜberlegungen zum Auftakt der Festivalsaison 2005Jährlich im Frühsommer beginnt quer durch Europa die Zeit der Festspiele. Bayreuth und Salzburg machen am letzten Juliwochenende den Anfang, und beendet wird der Veranstaltungsreigen um den 20. September mit dem Abschlusskonzert des Lucerne Festivals. Dazwischen zwei Monate Klassik vom Feinsten an attraktiven Orten von Aix bis Glyndebourne, mit internationalen Spitzeninterpreten und nicht selten ebensolchen Eintrittspreisen. Und jährlich fragt man sich, wenn man im Fernsehen den Aufzug der Prominenzen auf dem Grünen Hügel oder vor den Salzburger Festspielhäusern sieht: Was ist eigentlich Sinn und Zweck dieser Veranstaltungen? Die manchmal frivole Verbindung von Kunst und Kommerz lädt zur Skepsis geradezu ein. Einer, der es wissen muss ist Gérard Mortier, von 1992-2001 Intendant der Salzburger Festspiele. 1998 fragte er spitz:"Sind Festspiele touristische Attrappen geworden? Betrachten wir Festspiele als Disneyland der Hochkultur?" Und er antwortete: "Wenn Festspiele nur als Hilfsmittel zur Profitsteigerung gesehen würden, dann wäre der ‚Wurm’ in unserer Kunst und in unserem kulturellen Leben." Die Besorgnisse sind nicht unbegründet, wie ein Blick auf die erzielten Umsätze zeigt. Eine Serie von neun Aufführungen des Rosenkavalier von Strauss in Salzburg bringt den Rechteinhabern Verlag und Erben rund 400.000 Euro ein, Medienrechte nicht inbegriffen. Kein Wunder, dass sich hier alljährlich im Sommer die Plattenmanager, Agenten, Verleger und Medienvertreter die Türklinken in die Hand geben. Salzburg ist eine Bonanza der Kulturindustrie. Zehn Jahre lang hat Mortier hier verbissen für Reformen gekämpft und dem Anspruch des Geldes den Anspruch der Kunst entgegengehalten. Nach dem Glanz und Gloria der Karajan-Ära war das auch nötig geworden. Es war aber keineswegs bahnbrechend. Festspiele und Reform gehörten von Anfang an zusammen. Festivalgründer WagnerDie Mutter aller Festspiele heisst Bayreuth. Mit dem 1876 eröffneten Festspielhaus wollte Richard Wagner eine Alternative zur leeren Repräsentationskultur in den Metropolen schaffen, einen Ort der Einkehr, wo Kunst um ihretwillen gemacht werden sollte. Wagners Bayreuth hatte einen gesellschaftskritischen Stachel. An diese Reformidee knüpften nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs die Salzburger Festspiele an. Mit dem Wunsch nach einer geistigen Wiedergeburt waren nun konservative Heilserwartungen verbunden. Hugo von Hofmannsthal, einer der Gründerväter, schrieb 1919 in seinem Programmentwurf: "Der Glaube an Europa ist das Fundament unseres geistigen Daseins. Die Freuden Mozartscher Reinheit und Schönheit suchen wir, edelsten Genuss wollen wir bieten. Geistigen Frieden wollen wir bringen." Von solch abendländischem Pathos ist man heute weit entfernt. Die Problematik ist aber geblieben. Sie zeigt sich vor allem in der Tendenz, vor lauter Vergangenheitsbeschwörung die Gegenwart aus den Augen zu verlieren. Die Grundfrage jedes Festivals, das mehr sein will als sommerliche Touristenunterhaltung, lautet deshalb: Wie sollen die Werke der Vergangenheit präsentiert werden, damit wir in ihnen etwas über uns selbst und unsere heutige Zeit erfahren? Es ist die Frage nach der zeitlosen Aktualität grosser Kunst. An ihrer Beantwortung zeigt sich die Qualität einer Festspieldramaturgie. Zwang zur permanenten ErneuerungDas Festival als Traditionsmuseum ist der heimliche Schreck jedes Veranstalters, denn er weiss: Wenn ich mich heute nicht bewege, bleibt morgen das Publikum weg. Und darüber wäre vermutlich auch das lokale Verkehrsamt nicht amüsiert. Aus künstlerischen wie aus wirtschaftlichen Gründen ist ein Festival also zur permanenten Reform verurteilt. Unter dem Zwang zur Erneuerung ist in jüngster Zeit zunehmend die Musik der Gegenwart in die Festivalprogramme integriert worden. Nicht immer zur Freude des angestammten Publikums, das über die unbequeme Klängen der Moderne gerne die Nase rümpft. Doch findet heute ein Umdenken statt, und die Veranstalter fühlen sich durch die Neugier neuer, jüngerer Publikumsschichten unterstützt. Ein brauchbares Modell entstand in Salzburg unter Mortier mit der von Markus Hinterhäuser geleiteten Veranstaltungsreihe "Zeitfluss", einem Festival im Festival, das kompromisslos der Gegenwartsmusik gewidmet war. Wer erinnert sich nicht an die die spektakuläre Retrospektive auf das Werk von Luigi Nono. Über mehrere Jahre verteilt erklangen grosse Teile seines Œuvres, darunter das gesamte Spätwerk mit Live-Elektronik inklusive Prometeo. Einen etwas anderen Weg geht zur Zeit das Lucerne Festival unter Intendant Michael Haefliger. Einerseits baut man Zeitgenössisches wohldosiert ins Gesamtprogramm ein in diesem Jahr sogar die als schwierig geltenden Werke von Helmut Lachenmann. Andererseits wurde mit der von Pierre Boulez geleiteten Lucerne Festival Academy ein Instrument geschaffen, das die Aufführung neuer Musik mit Nachwuchsförderung und neuen Formen der Vermittlung kombiniert. Ein kulturelles Laboratorium, in dem nicht nur die Musik und ihre Wiedergabe, sondern auch die Wahrnehmung durch das Publikum einer erneuernden Dynamik unterliegen. Vielleicht könnte so einmal das Festival der Zukunft aussehen. @ 2005 Max Nyffeler Themen Inhalt
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