Experiment – Schlagwort und Metapher

Zur problematischen Übertragung des Begriffs aus der exakten Wissenschaft in die Kunst

Experimentalphysik, experimentelle Literatur und Rockmusik, Bühnenexperimente, medizinische und politische Experimente, Experimentierlabor, Experimentierfreude – der Sprachgebrauch des Wortes „Experiment“ und der daraus abgeleiteten Formen ist vieldeutig und erstreckt sich auf alle möglichen Lebensbereiche. Dabei ist es in der deutschen Sprache noch gar nicht so lange heimisch. Im Band 3, Buchstabe E, des Deutschen Wörterbuchs von  Jacob und Wilhelm Grimm von 1862 kommt es als Stichwort nicht vor. Den Autoren galt es offensichtlich noch als pures Fremdwort, das der Fachsprache der Naturwissenschaften vorbehalten war und im Alltag keine Rolle spielte.

In der französischen oder englischen Sprache war das entsprechende Morphem dagegen schon immer präsent, und zwar in der Form von expérience bzw. experience, was wie experiment vom lateinischen experiri (versuchen, erproben) herkommt. Ins Deutsche übersetzt bedeutet experience jedoch so viel wie Erfahrung (in Sinn von erworbenen Kenntnissen), Praxis – aber auch Erlebnis, sozusagen die innere Erfahrung. Und in diesem Zusammenhang wird man denn auch bei Grimm fündig. Bei den Substantiven „Erfahren“, „Erfahrenheit“ und „Erfahrnis“ ist als Synonym der lateinisches Begriff experientia aufgeführt.

Während expérience im Französischen und experience im Englischen mit der Vorstellung des Versuchs – experientia – also unmittelbar verwandt sind, womit gemeinhin eine konzentrierte Handlung oder Wahrnehmung assoziiert wird, ist das deutsche „Erfahren“ das Resultat einer raumgreifenden, gleichsam mäandernden, nicht unmittelbar zielgerichteten Bewegung: Man verschafft sich einen Überblick, indem man etwas er-fährt. Das Wort kommt vom althochdeutschen faran bzw. arfaran, das aber noch nichts mit dem heuten „fahren“ zu tun hat, sondern dem lateinischen ire, gehen, entspricht. Grimm: „faran ist ire, meare, arfaran eundo assequi, im gehen erreichen, erlangen, endlich überhaupt erlangen.“

Experimentelle Methoden

Während also experience und „Erfahrung“ ganz verschiedene Bedeutungsfelder haben, meint das vom lateinischen experimentum (Probe, Versuch) abgeleitete „Experiment“ als Fachbegriff in jeder Sprache dasselbe: eine methodisch angelegte Versuchsanordnung, die den Zweck hat, zuverlässige Kausalaussagen zu ermöglichen.

Eine solche Versuchsanordnung besteht aus einem Beobachtungsobjekt, einem Beobachter sowie den angemessenen Instrumenten und Methoden. Experimente kommen in allen empirischen Wissenschaften zur Anwendung, doch können sie ganz unterschiedlich aussehen. Bei einem Laborexperiment zum Beispiel kann man die einzelnen Elemente zum voraus festlegen und Störfaktoren weitgehend ausschalten; es findet also unter künstlich geschaffenen Bedingungen statt. In einem Feldexperiment hingegen finden die Beobachtungen unter „natürlichen“ Bedingungen statt, die nur begrenzt beeinflussbar sind.

Weiterhin ist zu unterscheiden nach der logischen Struktur: Kausal orientierte Experimente untersuchen die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung und gehören in den Bereich der Natur-, heute auch der Biowissenschaften. Ein solches Experiment befasst sich zum Beispiel mit der Frage, warum die männlichen Glühwürmchen mit ihrem Leuchten eher sparsam umgehen, obwohl das stärkere Leuchten mehr Weibchen anzieht. Das Resultat lautet: Zu helles Licht zieht auch feindliche Insekten an, die sich auf sie stürzen und sie töten können.

Final orientierte Experimente hingegen untersuchen die Beziehung zwischen Zweck und Mittel und gehören in den Bereich der Technik. Das wäre zum Beispiel der Fall bei Versuchen im Windkanal, bei denen es darum geht, den Luftwiderstand einer Autokarosserie möglichst gering zu halten. Es gibt aber auch das sogenannte Gedankenexperiment, in dem die Hypothesen und die möglichen Schlüsse aus ihnen nur theoretisch durchgespielt werden. Konsequent zu Ende gedacht, kann es zu erhellenden Einsichten führen. So stellte sich Albert Einstein etwa vor, in einem Aufzug zu sein, der sich im freien Fall befindet – der Ausgangspunkt für seine Formulierung der allgemeinen Relativitätstheorie.

Damit ein Experiment seine Aufgabe erfüllt und den gewünschten Erkenntnisgewinn verschafft, muss es messbare Ergebnisse liefern, nachvollziehbar, wiederholbar und objektiv sein; mit anderen Worten, es muss stets zum selben Ergebnis führen, unabhängig von Ort, Zeit und Personen. Es liefert jedoch keine absoluten Wahrheiten. Sie sind nur so lange gültig, bis sie von einem neuen, mit präziseren Instrumenten und höherem Wissensstand durchgeführten Experiment falsifiziert werden.

Eine weitere Voraussetzung für einen hohen Effizienzgrad des Experiments ist die Genauigkeit der vom Beobachter zu leistenden Vorgaben – der Hypothesen und Methoden. Wenn die Fragestellung ungenau ist, wird das Ergebnis beliebig ausfallen, wenn die unpassende Methode gewählt wird, ist das Experiment unfruchtbar. Das Vorhandensein einer Hypothese, die bewiesen werden soll, unterscheidet das Experiment von einer bloßen Naturbeobachtung. Diese verläuft nicht zielgerichtet und entspricht mehr dem, was das deutsche Wort „Erfahren“ ursprünglich meinte: sich in freischweifender Bewegung Kenntnisse über etwas verschaffen.

Geschichte

Das Experiment hat seine Wurzel in den Naturbeobachtungen der alten Griechen. Doch ihre Auffassung von Physik war anders als unsere. Der Gedanke der Naturbeherrschung war ihnen fremd. Ihre Experimente waren eher eine Art Grundlagenforschung, betrieben aus einer Haltung des Staunens heraus. Wenn Empedokles an den Berghängen Siziliens angeblich den Scirocco mit aufgespannten Eselsfellen zu regulieren versuchte oder Archimedes seine Untersuchungen der Hebelwirkung für militärische Zwecke nutzte, so war das eher Ausdruck einer genialischen Naivität als ein zweckgerichtetes Forschen.

Das Experiment im modernen Sinn entstand zu Beginn der Neuzeit, als die exakten Naturwissenschaften aufkamen, die durch Messungen und rationale Erklärungen die „Entzauberung der Welt“ vorantrieben. Philosophische, künstlerische und naturwissenschaftliche Aspekte ließen sich dabei noch nicht voneinander trennen. Bahnbrechende Experimente betrieben etwa Leonardo da Vinci, der in praktisch allen Bereichen aktiv war und damit die Erfahrungswissenschaften wesentlich begründen half, Galileo Galilei, der die Gesetze des freien Falls erforschte, oder der Deutsche Otto von Guericke (1602-1686), der Erfinder der Vakuumpumpe.

An Guerickes Experimenten zeigt sich noch etwas anderes: Wenn sie in aller Öffentlichkeit geschehen, entfalten sie eine besondere Wirkungskraft. Sein Versuch mit den „Magdeburger Halbkugeln“ glich einer theatralischen Inszenierung. Er fügte zwei metallene, mit einer Dichtung versehene Halbkugeln zu einer Kugel zusammen, saugte daraus die Luft ab und ließ dann vor jede der Halbkugeln acht Pferde spannen. Sie konnten sie nicht auseinanderreißen.

Selbstversuch als öffentliche "Performance"

Einen ebenso spektakulären Performance-Effekt besaß der Flugversuch von Albrecht Ludwig Berblinger alias „Der Schneider von Ulm“, der 1811 mit seinem Hängegleiter die Donau überqueren wollte und ins Wasser fiel. (Bert Brecht ließ ihn in seiner Ballade vom Turm des Münsters stürzen.) Es ist ein früher Fall von Selbstversuch.

Solche Experimente am eigenen Leib und Leben machten mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Medizin Schule. Bereits um 1800 hatte der Physiker Johann Wilhelm Ritter galvanische Versuche an sich selbst unternommen, die ihn körperlich ruinierten. Sigmund Freud machte Selbstversuche mit Kokain. 1929 schob sich der Mediziner Werner Forßmann über eine Armvene einen Katheter ins Herz, wofür er später den Nobelpreis erhielt. 1943 praktizierte Albert Hofmann, Chemiker in der Basler Firma Sandoz, einen Selbstversuch mit dem von ihm entdeckten LSD.

In solchen abenteuerlichen, manchmal bis zur Selbstzerstörung gehenden Selbstversuchen an Körper und Psyche zeigt sich eine gewisse Nähe zu dem, was heutige Performance-Künstler leisten. Sie stellen bei ihren Aktionen ebenfalls ihre eigene Person zur Disposition; das kann im Extremfall zu Exhibitionismus und masochistischer, aber öffentlichkeitswirksamer Selbstverstümmelung führen. Das Experiment verändert hier seinen Charakter und erhält eine symbolische Bedeutung. Abgelöst von der Zielsetzung einer wissenschaftlichen Erkenntnis, wird es zum freien Spiel der subjektiven Fantasie, und der Begriff verliert seine klare Bestimmung.

Auch Zirkusartisten betreiben eine solche Performance-Kunst, wenn auch zwangläufig ohne autodestruktiven Einschlag. Die experimentelle Anordnung besteht bei ihnen darin, dass sie Grenzsituationen aufsuchen, die für sie eine extreme Herausforderung bedeuten. Stürzen sie nicht ab, so ist dies der Beweis für die Richtigkeit ihrer Hypothese, sie könnten ihre Körperbeherrschung auf dem Hochseil bewahren. Die Richtigkeit gilt aber nur bis zum Beweis des Gegenteils.

Problematische Analogien

Das Wort „experimentell“ wird in der Gegenwartskunst viel benutzt; es bezeichnet in der Regel Hervorbringungen, die in Material und Form unbestimmt sind und beliebig viele Realisierungen ermöglichen. Als Prototyp dieser Unbestimmtheitsästhetik können die „Variations I“ (1958) von John Cage betrachtet werden. Sie bestehen nur aus Materialien allgemeinsten Charakters – Linien und Punkten auf transparenten Folien – und lassen jede denkbare Realisierung zu. Cages Dispositiv zeichnet sich durch die Präzision der Fragestellung aus und ist insofern ein überzeugendes ästhetisches Äquivalent zur wissenschaftlichen Form des Experiments.

Von den zahllosen Nachahmungsprodukten, die bis heute von dieser Ursprungsidee leben, lässt sich das nur bedingt sagen. Geboren eher aus der Abwesenheit von formalem Denken als aus der Fähigkeit, konzeptionelle Offenheit positiv zu definieren, stehen die meisten der Improvisation näher als dem Experiment. Sie funktionieren nach dem Prinzip des arfaran, oder neudeutsch, des „Schau’n mer mal.“

Doch wo es nicht um objektive Beweise und Kausalbeziehungen, sondern um subjektive Setzungen geht, gelten ohnehin andere Gesetze und Methoden. Eine Übertragung experimenteller Verfahren aus der Wissenschaft in die Kunst kann daher nie ganz aufgehen. Sie gelingt nur durch Preisgabe dessen, was das Experiment im Kern ausmacht: der exakten Erkenntnis.

© Max Nyffeler 2007
(Printveröffentlichung im Programmbuch zum "Musica Viva"-Festival, Januar 2008, München)

siehe auch Beckmesser-Kolumne März 2008
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