Ein Tribut an die Schönheit mit rebellischem UntertonZum 200. Geburtstag von Frédéric Chopin bzw. Fryderyk Szopen
Frédéric Chopin oder Fryderyk Szopen, wie er in Polen genannt wird ist der seltene Fall eines Musikers, der von seinen ersten Auftritten als pianistisches Wunderkind in Warschau bis zu seinem Tod 1849 im Pariser Exil vom Publikum vorbehaltlos bewundert und geliebt wurde. Die Zuneigung zu seiner Musik hält bis heute ungebrochen an. Chopin-Rezitals eines Maurizio Pollini oder Krystian Zimerman füllen wie früher bei Arthur Rubinstein die Säle, weltweit existieren Chopin-Gesellschaften, und der alle zwei Jahre in Warschau stattfindende Chopin-Wettbewerb gilt als internationale Pianisten-Olympiade ersten Ranges. Was die kompositorische Rezeption angeht, so listet ein 1990 in Krakau veröffentlichtes Werkverzeichnis die Namen von rund 1500 Komponisten auf, die seine Werke transkribiert haben. Die Spuren seiner Musik sind von seinen Zeitgenossen Liszt und Schumann über Brahms, Grieg, Ljadow, Skrjabin, Debussy, Mahler und Busoni bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu verfolgen. Viele von ihnen haben die musikalischen Gattungen, die er als autonome Konzertgattungen zu höchster Vollkommenheit brachte und zum Teil auch begründete, übernommen und weiter entwickelt: Ballade, Prélude, Nocturne, Etüde, Scherzo. Schönberg hat im „Pierrot luinaire“ den Chopinschen Walzer als schwindsüchtige Erscheinung parodiert, was aber mehr über das Wien seiner Zeit als über Chopin aussagt. Musik für den Salon, aber keine „Salonmusik“Der Wert von Musik wird oft am ominösen „revolutionären Materialverständnis“ eines Komponisten festgemacht. Das funktioniert vielleicht bei Beethoven, Schönberg oder einigen Avantgardisten der vergangenen Jahrzehnte, aber kaum bei Chopin. Seine Revolution war anders gelagert. Weder artikulierte sich in seiner Musik das Bewusstsein aufsteigender Klassen, noch gab sie sich traditionskritisch, und trotzdem eröffnete sie ganz neue Perspektiven. Der soziale Ort seiner Musik war der Salon der Pariser Aristokratie zur Zeit des Bürgerkönigs Louis-Philippe. Hier, im überschaubaren, persönlichen Rahmen, fühlte er sich als Interpret seiner Musik besser zu Hause als in den großen Konzertsälen vor anonymem, zahlendem Publikum. Chopin, einer der größten Pianisten der Musikgeschichte, hat in seinem ganzen Leben nur rund dreißig öffentliche Konzerte gegeben. Das mag paradox erscheinen, erklärt sich aber aus dem intimen Grundzug seiner Musik. Die Salons waren die geistigen Zentren des damaligen Paris, in ihnen verkehrte alles, was Rang und Namen hatte: Der europäische Blut- und Geldadel, aber auch die kulturelle Elite von Heine, Liszt und Berlioz bis Delacroix und Balzac. Das war Chopins Publikum. Es war hingerissen von der schlackenlosen Schönheit seiner Musik und sah darin die Verkörperung von etwas faszinierend Neuem. Dieses Neue war in einer Auffassung von Romantik begründet, die, anders als die literarisch basierte deutsche, zur absoluten Musik tendierte; zu ihren äußeren Merkmalen gehörten geschlossene Formen, eine vollendete Melodik und ein von raffiniertesten Obertonwirkungen getragener Klang. Dazu kam eine Harmonik, die auf die damaligen Ohren tatsächlich revolutionär wirkte und mit ihrer gewagten Chromatik manche späteren Kühnheiten Wagners vorausnahm. Das alles fügte sich zu einer Musiksprache, die von programmatischen Elementen so gut wie frei war, aber gerade in dieser Reinheit eine solche Suggestivkraft entwickelte, dass sie an das Innerste der Zuhörer zu rühren vermochte und das auch heute noch tut. „Chopin deutet an, vermutet, schmeichelt, verführt, überredet; fast niemals behauptet er“, schrieb der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger André Gide in seinen „Aufzeichnungen über Chopin“ und verglich Chopins exquisiten Tonfall mit demjenigen Baudelaires. Und der englische Chopin-Biograph Arthur Hedley konstatierte ein Paradox: „Werke, die vom zurückhaltendsten und exklusivsten aller Komponisten geschrieben wurden, sind ununterbrochen attraktiv für das Publikum beider Geschlechter, aller Nationen und aller Mentalitätstypen.“ Das Phänomen Chopin lässt sich nicht zuletzt aus diesem kunstvollen Schwebezustand zwischen nobler Zurücknahme und beispiellosem emotionalem Höhenflug erklären. Chopin meidet jede Theatralik, romantischer Überschwang ist bei ihm stets formal gebändigt. Das unterscheidet ihn vom extrovertierteren Franz Liszt, seinem Freund und Bewunderer. Und das gilt selbst da noch, wo er seine ohnmächtige Wut über die Niederschlagung des polnischen Aufstands von 1831 durch die Russen in Töne verwandelte: in der „Revolutionsetüde“ op. 10 Nr. 12, in der aufwühlenden Ballade in g-Moll oder im schreckensstarren ersten Scherzo in h-Moll, dessen gläserne Klangkaskaden mit dem polnischen Weihnachtslied im Mittelteil einen bis zum Zerreißen gespannten Kontrast bilden. Auch das Finale der Sonate b-Moll mit dem Trauermarsch gehört in diese Kategorie. Doch ist das nicht pure Grenzüberschreitung? Robert Schumann, der 1831 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung seinen Eusebius angesichts der Partitur von Chopins Variationen über „La ci darem la mano“ noch den viel zitierten Ausruf „Hut ab, ihr Herren, ein Genie!“ machen ließ, war ob dieses Finales verstört und meinte, das sei keine Musik mehr. Aber was hier mit den rasenden Oktavfiguren in der Bassregion wie wirres Action Painting erscheint, ist in Wahrheit ein genau konstruierter und kontrollierter Energieausbruch im Grenzbereich der Tonalität. Polnisches Wunderkind im russisch besetzten WarschauGeboren wurde Frédéric Chopin am 1. März 1810 einige Quellen nennen den 22. Februar in Żelazowa Wola nahe Warschau als Sohn eines aus Lothringen eingewanderten Franzosen und einer polnischen Adligen. Er wuchs in eine politisch unruhige Zeit hinein. Ende des 18. Jahrhunderts war Polen unter Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt worden und existierte als Staat nicht mehr. Der polnische Adel sympathisierte mit Napoleon und erhoffte sich von ihm Unterstützung im Kampf gegen die Besatzer. Tatsächlich existierte für einige Jahre ein unter der Schutzmacht Frankreich stehendes Herzogtum Warschau. Doch nach Napoleons Untergang wurde beim Wiener Kongress 1815 aus der politischen Schiebemasse Polen das sogenannte „Kongresspolen“ mit der Hauptstadt Warschau gegründet. Dieses stand nun unter der Herrschaft Russlands, das auf die Napoleon-Sympathien der Polen mit politischer Unterdrückung reagierte. Ein Exodus unter den verfolgten Patrioten setzte ein, dem 1831, nach der Niederschlagung des nationalen Aufstands gegen die Russen, eine zweite Emigrationswelle folgte. Viele der Emigranten gingen nach Paris. Die Kultur war nun das einzige Band, das die politisch inexistente polnische Nation noch zusammenhielt eine unterschwellig politische Kraft, die bis ins 20. Jahrhundert hinein wirksam blieb und auch noch bei der Befreiung vom Sowjetkommunismus eine wichtige Rolle spielte. Als Chopin, bereits international gefeiert, 1831 von seiner Wiener Konzertreise nicht mehr in das umkämpfte Warschau zurückkehren konnte, wählte auch er das Pariser Exil. Bis zu seinem Tod 1849 blieb Paris seine zweite Heimat, und die polnische Kultur war das Erbe, das ihn hier lebenslang begleitete. Chopin war ein Wunderkind, darin Mozart ähnlich. Mit sieben Jahren begann er zu komponieren, mit neun in den Salons des Warschauer Adels zu konzertieren. Zugleich lernte er im Unterricht beim Schlesier Joseph Elsner die Musik von Bach, Mozart und die zeitgenössischen Opern kennen und spielte das Wohltemperierte Klavier; die Einflüsse zeigen sich, ähnlich wie bei Schumann, unter anderem in den vielen Nebenstimmen, die sich im komplex aufgelösten Klaviersatz verstecken. Schon in seiner Jugend war Chopin ein begeisterter Operngänger. In Warschau hörte er viele zeitgenössische Opern, vor allem das italienische Belcanto-Repertoire. Es sollte für seine Melodiebildung von großer Bedeutung werden. Von Vincenzo Bellini führt zum Beispiel eine gerade Linie zu manchen seiner Nocturnes; in der langgezogenen Melodie in der Etüde cis-Moll op. 25/7 klingt die Arie der Norma aus dem Beginn des 2. Aktes nach. Diesen Querverbindungen ist der Filmemacher Jan Schmidt-Garre in seinem Film „Chopin in der Oper“ nachgegangen, der am 20. Februar in 3Sat lief und im Mai bei Arthaus als DVD herauskommen soll. Der politische ChopinIn den Warschauer Salons hörte der jugendliche Chopin die politisch-patriotischen Gesänge der städtischen Oberschichten und improvisierte darüber am Klavier; bei seinen sommerlichen Aufenthalten auf dem Land lernte er die Lieder und Tänze der Bauernbevölkerung kennen und ließ die Reize der Landschaft auf sich wirken. Das sind die Wurzeln seines unverwechselbaren Tonfalls, aus dem schon seine Zeitgenossen eine unterschwellig rebellische Note heraushörten. „Chopins Werke sind unter Blumen eingesenkte Kanonen“, schrieb Robert Schumann 1836 in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, und er meinte damit nicht etwa die grandiosen Polonaisen, sondern die Mazurken, Kleinformen voller poetischer Melancholie. Doch diese Poesie hatte einen doppelten Boden; darunter keimte die Saat der patriotischen Gefühle, die zum Widerstand anstachelten. Klar erkennbar sind die politische Referenzen in der f-Moll-Fantasie op. 49, wo Chopin unter anderem ein Lied der Aufständischen von 1830 von Karol Kurpiński verarbeitet hat. Man müsse sich schon die Ohren zustopfen, wenn man dieses Werk nicht als eine Art tragisch-dekorative Triumphmusik vernehmen wolle, dass Polen nicht verloren sei, schrieb Adorno in seiner „Einleitung in die Musiksoziologie“ über dieses Werk. (Was er mit „dekorativ“ meinte, lässt sich wohl nur aus seiner Gefolgschaft mit der Wiener Schule erklären.) Schon Schumann hörte diesen Tonfall aus Chopins Musik heraus. Er war seinerzeit überzeugt: Wenn der russische Zar um die Wirkung von Chopins wüsste, würde er sie verbieten. Ein Jahrhundert später war es dann tatsächlich so weit während der deutschen Okkupation Polens war sie verboten. Als Arthur Rubinstein, einer der überragenden Chopin-interpreten des 20. Jahrhunderts, nach dem Krieg erstmals wieder in Warschau, Krakau und seiner Heimatsadt Łódź auftrat, war das ein Ereignis von nationaler Tragweite. Tausende jubelten ihm zu. Die Art, wie Chopin die politischen Inhalte in der Musik verkapselte, ist den Verfahren des späten Nono vergleichbar. Doch anders als dieser war Chopin nie offen politisch engagiert. Der Dichter Adam Mickiewicz, einer seiner Emigrantenfreunde in Paris, machte ihm Vorwürfe, dass er seine Musik nicht direkt in den Dienst des politischen Widerstands stellte. Und von den Anschauungen der George Sand, mit der er in Paris neun Jahre lang eine merkwürdige Lebenspartnerschaft führte, trennten ihn Welten. Als Vorkämpferin der Frauenemanzipation sympathisierte sie mit den sozialen Bewegungen des Vormärz, während er sich ganz auf die Musik zurückzog und alle seine Gedanken nur am Klavier ausdrückte. Trotzdem ist diese „absolute Musik“ angereichert mit Inhalten, die zu entschlüsseln in der Lage ist, wer ein Ohr dafür hat. Die Verwicklungen der Zeitgeschichte, die politischen und persönlichen Katastrophen bilden in Chopins Musik einen Subtext, der von ihr nicht abzulösen ist. Die Momente strahlender Schönheit, die am eingedüsterten Klanghorizont immer wieder hervorbrechen, treten dadurch nur umso deutlicher in Erscheinung.
© Max Nyffeler, März 2010
Einige Termine und Neuerscheinungen im Chopin-Jahr 2010Das Chopin-Jahr 2010 schlägt sich bei Veranstaltern und in den Medien in zahlreichen Aktivitäten nieder. Weltweit sind dem Komponisten ganze Konzertreihen und Festivals gewidmet. In Warschau stand Ende Februar ein internationaler Chopin-Kongress und am 1. März die Eröffnung des neuen Chopin-Museums auf der Agenda, gefolgt im August von einem einmonatigen Musikfestival und im September vom 16. Internationalen Chopin-Wettbewerb. Beim Midem Classical Award, der alljährlich im Januar in Cannes verliehen wird, wurde die Preisliste um den "Chopin Special Award" erweitert, mit dem künftig die beste Chopin-Interpretation prämiert werden soll. Diesmal ging er an den Russen Nikolai Demidenko für seine Aufnahme der "Préludes" und der Dritten Sonate beim Label Onyx. Als „Best Ever“-Produktion wurden zusätzlich die Walzer mit Dinu Lipatti (EMI) ausgezeichnet. Auf dem Buchmarkt ist rechtzeitig zum Geburtstag eine neue Biografie erschienen: „Chopin. Der Poet am Piano“ von Adam Zamoyski, erschienen in der Edition Elke Heidenreich bei Bertelsmann. Anders bei den früher beliebten Künstlerromanen über Chopin handelt es sich hier um eine genau recherchierte, mit Fußnoten gespickte Arbeit. Sie bildet eine vorzügliche Ergänzung zum bereits 1999 bei Laaber erschienenen Band „Frédéric Chopin und seine Zeit“ von Mieczis?aw Tomaszewski, der mehr die ästhetischen Hintergründe ausleuchtet.
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