Restrisiko

Nikolaus Brass antwortet auf Peter Niklas Wilsons Polemik in der Zeitschrift "MusikTexte"

Eine Kontroverse hat sich entzündet, die mit Polemik nicht geizt und offenbar gleich mehrere wunde Punkte berührt.

Max Nyffeler hat in seiner Beckmesser-Kolumne vom Mai 2003 ("Wir Verlierer") auf ein geistiges Vakuum hingewiesen, das sich u. a. durch die Auflösung des tradierten Werkbegriffs in der zeitgenössischen Kunst freisetzte und gekennzeichnet ist durch Negation der Transzendenz und Verlust des Kanons.

Wo aber Gefahr für unser Selbverständnis als "Fortschrittliche" droht, da wächst offenbar auch die rettende kritische Theorie: Peter Niklas Wilson sieht in seiner Entgegnung in der Nummer 97/2003 der Zeitschrift MusikTexte ("Radical Chic, revisited") wenn nicht gleich den Faschismusgestank, so doch den "kulturkonservativen Muff von mehr als tausend Jahren" bei Nyffeler aus der Mottenkiste steigen, und fragt empört: "Wenn Nyffeler schon so die Negation der Transzendenz in der Kunst und den Verlust des Kanons bejammert – wollen wir denn beides wirklich zurückhaben?"

Fortschrittsrhetorik

Ich möchte im folgenden nur auf das Rhetorische dieser Frage eingehen, weil dieser Tonfall mir das Charakteristischste an der ganzen Debatte scheint. Denn das Rhetorische an der Frage impliziert, dass offenbar alle halbwegs Vernünftigen Transzendenz und Kanon nicht zurückhaben wollen, schon gar nicht in der Kunst, und dass die Frage doch schon "erledigt" sei. Für mich weist das Rhetorische an der Frage aber auf eine uneingestandene Unsicherheit hin, ob denn wirklich alles "erledigt" ist, ob Nyffeler durch sein Stöbern in der vermeintlichen Mottenkiste nicht doch auf eine unliebsame Wahrheit gestoßen sein könnte: ist die Feier des Ephemeren, der Karneval der Stunde, das sich selbst erfüllende Konzept, die Überantwortung der künstlerischen Entscheidung an Computer, Zufall, I Ging und die Würfel, sind alle diese "kritischen" Verfahren und aller intelligenter Konzeptualismus nicht doch nur Zeichen einer grandiosen Impotenz und stellen zunehmender technischer Aufwand und wuchernder intellektueller Überbau lediglich die letztlich wirkungslosen Erektionshilfen dar? Ist die Moderne nackt und sieht man, wagt man hinzusehen, unter des Kaisers neuen Kleidern – nichts?

Die Gereiztheit, die sich breit macht, wenn – horribile dictu – "Leute aus dem eigenen Lager" "kritische" Positionen kritisieren, und der Reflex: "Was ist denn mit dem los?" weisen auf eine erstaunliche Schwäche hin, sich mit der Kritik der Kritik auseinander zu setzen. Die Heftigkeit, mit der reagiert wird, stellt man die "Entsorgung" der alten Probleme wie Transzendenz und Geschichtlichkeit alles Gewordenen in Frage, erinnert verblüffend an die Heftigkeit, mit der sonst andere "Entsorgungsunternehmen" reagieren, wenn unbotmäßig auf ein kleines Restrisiko ihrer Entsorgungsaktivitäten hingewiesen wird.

Entwertung des schöpferischen Prozesses

Die Frage ist: Wessen hat man sich entledigt, wenn man sich des "Werkes" entledigt hat? Welches "Risiko" geht man dabei ein? Und warum ist die Frage danach offenbar schon ein Sakrileg?

Ich behaupte: weil wir uns wohlfeil eingerichtet haben im Sekundären. Weil wir in der Kritik nur noch "Dienstleistungen des Durchschauens und Mißtrauens" (Botho Strauß) erwarten, weil wir so wunderbar politisch korrekt sein wollen. Weil von uns erwartet wird, Begriffe wie "Schöpfung", "Schöpfer", "Werk", "Autor" nur mit dem Ziel der Auflösung zu hinterfragen und unter einen sehr viel stärkeren Rechtfertigungsdruck zu stellen als beispielsweise Begriffe wie "Erfindung", "Konzept". Warum muss "Machen" sich sehr viel seltener in Frage stellen lassen als "Hervorbringen"? Warum wird die Frage nach der schöpferischen Erfahrung gar nicht mehr zugelassen? Und warum wird über dieses Nicht-mehr-Zulassen so wenig nachgedacht? Offenbar geht es hier um eine stillschweigende "Sprachregelung", um eine sublime Be- bzw. Entwertung spezifischer individueller Erfahrung durch "neue", schon weit verinnerlichte gesellschaftliche Normen. Lehrmeinung ist, dass das Verschwinden der Schöpferpersönlichkeit einen unumkehrbaren Prozess der auf Egalität zielenden gesellschaftlichen Emanzipation reflektiert und dass die Funktion der Kunst durchschaut ist und ihr lediglich im Spiel der Entfunktionalisierung noch ein Platz zusteht.

Einlaß in die ästhetische Debatte, so scheint es, erhält nur der, der vorher eine Erklärbarkeitsverpflichtung unterzeichnet hat: Im ästhetischen Diskurs gibt es keine dunklen Punkte mehr, was Dunkel scheint, ist zu entsorgen! Hierarchie, vertikale Ausrichtung des Kunstwerks, a-rationale Logik lebendiger Strukturen, undurchdringlicher Nimbus des Schöpferischen: alles kompatibel mit nicht-aufgeklärten, absolutistischen bzw. gar faschistischen Systemen, also weg damit! Für die Kritik darf es nichts Unverfügbares mehr geben!

Natürlich gibt es die Mystifikation des Erhabenen, den Mißbrauch der Autorität, das Anbiedern an die Macht, die Lachfigur des meist selbst ernannten "Großkomponisten" etc. Aber was ist im Zuge des großen dekonstruktivistischen Reinemachens unter der Hand geschehen? Was passiert, wenn wir der Kunst alles Unverfügbare absprechen und entziehen?

Totalitäre Tendenzen des heutigen Erfahrungskapitalismus

Mir ist bewußt, dass man schnell in schlechte Gesellschaft geraten kann, stellt man diese Fragen. Aber für mich steht die Entleerung der Kunst von aller "vertikalen Ausrichtung" (Steiner) im Zusammenhang mit totalitären Tendenzen des sich jetzt voll entfaltenden Erfahrungs-Kapitalismus, der die individuelle Psyche nicht mehr durch die Sucht nach Waren besetzt, sondern durch die Erfindung und Vermarktung von industriell hergestellten Erfahrungswelten. Dazu bedurfte es zuerst der medialen Entkernung des Individuums von aller eigenen Erfahrung, dazu gehört auch die Um- und Abwertung bestimmter Erfahrungsweisen durch den intellektuellen Diskurs. Das Totalitäre herrscht und manifestiert sich heute (bei uns) nicht mehr (so sehr) durch autoritäre Strukturen, sondern es etabliert sich wie von selbst als das medial hergestellte und kontrollierte unbewußte Einverständnis der Individuen, sich nur noch bestimmten, durch die allgemeine Meinung kodifizierten Erfahrungen auszusetzen, bestimmte Erfahrungen zuzulassen, und diese als die eigenen auszugeben und andere zu entwerten und zu verwerfen.

Menschliche Stanzformen

Unversehens hat der Prozess, der das Individuum von den "Schlacken seiner Unmündigkeit" befreien sollte, d. h. es von seinen familiären, sozialen, ethnischen und religiösen Bindungen löste, den neuen Typ des Schicksallosen hervorgebracht. Geboren ist ein seines Schicksals entledigtes Subjekt, geschaffen die geschichts- und erfahrungslose menschliche Stanzform, die jetzt mit fremder Erfahrung und mit fremden Geschichten der Erfahrungsindustie angefüllt wird. Kunst war wohl immer ein Medium, sich seines Schicksals bewußt zu werden. Insofern ist "schicksallose" Kunst heute der wahrhaftige Spiegel unserer Verhältnisse. Aber wollen wir nur den Spiegel in der Kunst oder nicht doch auch den Wegweiser? (Rhetorische Frage!)

© Nikolaus Brass, Juni 2003

Dieser Text ist in leicht veränderter Form auch in der NMZ 10/2003, S. 12, erschienen.

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