Betroffenheit als öffentliche Tugend

Engagierte Kunst zwischen Humanitätsappell und Unglückskonsum

In seiner wegweisenden Studie Verfall und Ende des öffentlichen Lebens (deutsch 1983 bei S. Fischer, Frankfurt) stellt der amerikanische Autor Richard Sennett fest, dass in unserer Gesellschaft objektive Sachverhalte erst dann Leidenschaft erwecken, wenn die Menschen fälschlicherweise so mit ihnen umgingen, als handle es sich um etwas Persönliches.

Die heutige Medienpraxis liefert dafür hervorragendes Anschauungsmaterial. Politische Themen müssen in Talkshows, die nach der "Persönlichkeit" des Moderators oder der Moderatorin benannt sind, von weiteren "Persönlichkeiten" mit möglichst heftigem "Engagement" diskutiert werden; eine nüchterne Parlamentsdebatte über die gleiche Thematik würde keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Oder ein Beispiel aus dem Musikbetrieb: Die ästhetische Krise der Bayreuther Festspiele wird reduziert auf die Machtkämpfe des Wagner-Clans und die damit verbundene Walhall-Metaphorik.

Diese Personalisierung gesellschaftlicher Vorgänge geht heute bis zur öffentlichen Selbstentblößung der medialen Protagonisten. Das Muster liefert die Container-Sendung Big Brother. In zugespitzter Form trifft es auf die Prolo-Shows zu, wo Beziehungskonflikte vor laufender Kamera ausgetragen und Angehörige der Unterklassen wie Kampfhähne aufeinander losgelassen werden. "Die Welt intimer Empfindungen", so die Diagnose von Richard Sennett, "verliert alle Grenzen; sie wird nicht mehr von einer öffentlichen Welt begrenzt, die eine Art Gegengewicht zur Intimität darstellen würde. Der Zerfall des öffentlichen Lebens deformiert also auch die intimen Beziehungen, die nun sämtliche Interessen des Menschen mit Beschlag belegen." (S. 19)

Was sich vor einem Vierteljahrundert ankündigte und heute bis zur Pornographisierung des Privaten fortgeschritten ist, der Exhibitionismus der Gefühle, findet auf der Ebene der politischen Korrektheit sein Gegenbild in den medialen Betroffenheitsritualen. Sie werden immer dann in aller Öffentlichkeit durchexerziert, wenn irgendwo ein Unrecht oder Unglück geschehen ist, das alle durchschnittlichen und deshalb medial uninteressanten Unrechte oder Unglücke in seinem Ausmaß übertrifft. Das reale Ereignis wird erst zum medialen Ereignis, wenn es auf der emotionalen Ebene angekommen und damit kommunikabel geworden ist. Dem Kommentator fällt dabei die Rolle zu, entweder seine persönliche Betroffenheit zu artikulieren oder sie auf subtile Weise bei den Unglückskonsumenten zu wecken.

Der Mechanismus, nach dem solche Betroffenheitsrituale ablaufen, lässt sich auf die Formel bringen: A widerfährt ein Unglück und B ist betroffen. Es lohnt sich, dieses perfekt eingeschliffene Kommunikationsmodell ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Mehrere ineinander verknäuelte Aspekte lassen sich daran unterscheiden: sprachliche, moralische, kommunikationstechnische, politische, ästhetische.

Betroffen ist immer der andere

Zunächst der sprachliche Aspekt. Da ist eine interessante Bedeutungsverschiebung zu beobachten. Früher hieß es: „Die von der Katastrophe betroffene Bevölkerung“ oder „die von der Bankpleite betroffenen Sparer“. Das Opfer selbst war der Betroffene. Heute ist es anders: Der Betroffene ist immer der andere. Und aus unerfindlichen Gründen glaubt dieser andere, er könne etwas bewirken, wenn er seine Zuschauerbetroffenheit Dritten und Vierten kundtut. Also macht er seine Reaktion öffentlich, und je größer die Öffentlichkeit, desto größer ist die Wirkung seiner Betroffenheit, denn sie macht andere auch betroffen. 

Die Betroffenheit ist auf Multiplikation angewiesen. Damit wird sie zur Angelegenheit von öffentlichkeitsgewandten Rednern, die stellvertretend für ihre Adressaten - die Masse der Unglückskonsumenten und potenziell Gleichgesinnten – „ihren Gefühlen Ausdruck verleihen“, indem sie die Wirkung des Unglücks auf ihre eigene Psyche in gewählte Worten fassen: die Fürsprecher, Verbandsbeauftragten und Volksvertreter, die Repräsentanten aller Rassen und Klassen, die Meinungsbildner, professionellen Kämpfer für das Gute und routinierten Mitleidserreger. Sie kennen das Unglück im seltensten Fall als direkte Beteiligte oder Zeugen, sondern meist nur vom Hörensagen und Fern-Sehen. Ihre Betroffenheit ist daher repräsentativ, das heißt darstellerisch, in doppelter Hinsicht: indem sie sich zum Anwalt der Opfer aufspielen und indem sie ihre Gefühle öffentlich machen mit dem Ziel, sie auf die anonyme Masse des Publikums zu projizieren. Von dort schlägt es im Recyclingverfahren auf sie zurück: Die Betroffenheitsdarsteller reiten auf der Woge des Mitgefühls, die sie selbst losgetreten haben. So entsteht ein geschlossener Kreislauf medialer Erregung, bei dem die Opfer außen vor bleiben oder bestenfalls als Beleg und Legitimitätsnachweis für die allgemeine Betroffenheit kurz eingeblendet werden. Im Zentrum hingegen steht ihr selbsternannter Stellvertreter.

Der massenhafte Konsens ist bei solchen Betroffenheitsritualen vorprogrammiert, denn wer könnte schon etwas dagegen haben, dass man sich für die Schwachen und Unglücklichen einsetzt? Nirgends lässt sich leichter Zustimmung finden, und nichts lässt sich leichter für andere Zwecke instrumentalisieren als Betroffenheit. Ein dankbares Feld für die Vertreter des gemeinen Volks, die Politiker. Wenn die Abgeordnete R. oder der Parteifunktionär G. augenrollend ihr Betroffenheits-Mantra vor der Kamera aufsagen, kann man ihnen fast Glauben schenken, weil die Performance so gut eingeübt ist. Immerhin gibt es Fälle, in denen die dargestellte Betroffenheit durchaus nützlich und sinnvoll sein kann. Etwa bei großen Naturkatastrophen: Wenn hier die medialen Hauptdarsteller öffentlich ihre Gefühle zeigen, hat das den konkreten Effekt, dass sich die Spendenkonten schneller füllen.

Es ist charakteristisch für jede Art von repräsentativer oder dargestellter Betroffenheit, dass der Aspekt der Performanz in den Vordergrund tritt und sich an die Stelle der authentischen Emotion setzt. Diese ist unmittelbar an das auslösende Ereignis gebunden; sie ist real, unwiederholbar und nicht multiplizierbar. Repräsentative Betroffenheit hingegen ist ein mediales Phänomen. Schon die Substantivierung „Betroffenheit“ ist verräterisch. Sie hebt einen individuellen Affekt, der letztlich etwas mit spontanem Mitgefühl und mit Mitleid zu tun hat, in die Sphäre der begrifflichen Abstraktion und macht ihn damit zur handhabbaren und handelbaren Größe.

Wovon ist der Künstler betroffen?

Doch was ist mit der sogenannten Betroffenheit in der Kunst? Da muss zunächst auf eine Binsenweisheit verwiesen werden: Jedes Kunstwerk, das mehr ist als ein Routineprodukt zur Belieferung des Markts oder ein hurtig formuliertes Statement zu einem gerade angesagten Diskurs, ist Ausdruck einer individuellen Betroffenheit. Der Künstler arbeitet sich an der Idee ab, die ihn zum Werk inspiriert hat, und er mobilisiert sein ganzes intellektuelles und emotionales Vermögen, um diese Idee im Werk zu realisieren. Komponieren wird, um eine Devise von Helmut Lachenmann aufzugreifen, zur „existenziellen Erfahrung“, ein Vorgang, der an die Fundamente des Bewusstseins zu rühren vermag.

Die Phase der Aufklärung, in der wir leben, hat die rationale Seite des künstlerischen Schaffensprozesses, den Aspekt des Produzierens, verabsolutiert. Darüber lässt sich auch besser sprechen als über den rational wenig greifbaren Aspekt der Inspiration und alles, was damit zusammenhängt. Doch wenn man etwas weiter zurückblickt in der Geschichte, so erkennt man schnell die Bedeutung, die diesen vorrationalen Aspekten der Inspiration und damit der „Betroffenheit“ des Künstlers durch die Macht der Ideen früher zukam.

Das verweist auf den Ursprung der Kunst, die Magie und den Kult. In manchen mythologischen Erzählungen und in der Praxis der Naturvölker ist der Akt der Abbildung, also das, was Kunst bis heute ausmacht, mit Lebensgefahr verbunden – die Beschwörung überirdischer Kräfte war nicht ohne hohes Risiko. Es wäre verniedlichend, für die Wirkung der archaischen Rituale das heutige Allerweltswort „Betroffenheit“ zu benutzen. Die Empfindungen, die sie hervorriefen, glichen vermutlich vielmehr dem Erschrecken, der Erschütterung oder Überwältigung.

Solche Begriffe sind in gleichem Maße aus unserem Vokabular verschwunden, wie die kultischen Wurzeln der Kunst verschwunden sind. Doch im Unterbewusstsein leben die damit verbundenen Vorstellungen fort. Sie tauchen gelegentlich in zivilisatorisch geläuterter, ästhetisierter Form wieder auf, womit Rilkes Satz, das Schöne sei nur des Schrecklichen Anfang, seine Bestätigung erfährt: etwa im ätherischen Gesang bei Hölderlins Schicksalslied im Prometeo von Luigi Nono, im Gestus des kollektiven instrumentalen Schreis in Klaus Hubers Die Seele muss vom Reittier steigen..., in den konstruktiv gebändigten archaischen Klangeruptionen der Orchesterwerke von Iannis Xenakis. Auch ohne Selbstkommentar und verdeutlichende Rhetorik macht die Musik in solchen Momenten betroffen, und der Hörer weiß nicht recht, woran das liegt.

Die dargestellte Betroffenheit: Authentische Emotion oder Pose?

Doch es gibt auch die explizite, auf Wirkung gerichtete Betroffenheit in der Musik, und da ist die Grenzlinie zwischen Betroffenheit und Betroffenheitsdarstellung nicht immer klar erkennbar. Es ist die Problematik der sogenannt engagierten oder politischen Musik, die mit der Absicht geschrieben wird, eine Botschaft zu übermitteln, nach dem Motto: „Verbessere die Welt, sie braucht es.“ Die in Tönen und oft auch mit Worten ausgedrückte persönliche Betroffenheit des Komponisten gilt in solchen Fällen als sein Glaubwürdigkeitsausweis – wahrscheinlich weit mehr als die gemeinhin eingeforderte, auf technisch-ästhetischen Kategorien beruhende „musikalische Stimmigkeit“. Wo alle drei Aspekte zusammenkommen, wo also politische Botschaft, ästhetische Reflexion und persönliche Betroffenheit sich auf gleich hohem Niveau begegnen, lässt sich schwerlich etwas dagegen einwenden.

Von allen dreien bleibt der emotionale Aspekt der Betroffenheit aber immer der prekärste, denn sie kann jederzeit zur entfremdeten Pose erstarren. Im Zusammenhang mit seinem 1983 in Donaueschingen uraufgeführten politischen Oratorium Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet..., das in Wort und Ton Partei ergreift für die Unterdrückten und Entrechteten vor allem in Lateinamerika, hat Klaus Huber diese Gratwanderung in einem Kommentar beschrieben: „Ich bin mir der Absurdität meiner Situation als Komponist inmitten des satten, übersatten, immer wahnsinniger nuklear aufgerüsteten Europa wohl bewusst. Diesen Grundwiderspruch mit seiner ganzen Neurose, die uns alle befällt, wenn wir uns einem solchen Thema nähern, habe ich versucht, mitzukomponieren.“

Huber steht damit in einer Kunsttradition, die für das 20. Jahrhundert, einer Zeit der mörderischen Kriege und Ideologien, charakteristisch ist, und in der sich subjektiver Protest und Anklage mit politisch präzisen Aussagen verbinden. Prototypen für diese Tradition sind Werke wie Picassos Guernica, die Ode an Napoleon und Ein Überlebender aus Warschau von Schönberg oder die Klaviersonate mit dem Titel 27. April 1945 von Karl Amadeus Hartmann, komponiert unter dem Eindruck eines Elendszugs von KZ-Häftlingen in den letzten Kriegstagen. In allen Fällen ist die subjektive Anteilnahme, aus dem die Betroffenheit erwächst, unüberhörbar. Bei Hartmann ist sie sogar das Resultat unmittelbarer Anschauung – der seltene Fall einer spontanen künstlerischen Reaktion auf gesehenes Unrecht.

Mitleidsbonus als Rezeptionsverstärker

Der direkte Realitätsbezug hat in Hartmanns Werk indes seine Spuren hinterlassen: Es ist letztlich ein Torso geblieben, denn die starke emotionale Bewegung stand einer differenzierten Ausarbeitung im Weg. Doch in einem solchen Fall erscheint das unverstellte Zeugnisablegen wichtiger und wahrhaftiger als die ästhetische Stimmigkeit. Derselbe Grundkonflikt zwischen Betroffenheit als Ausdruck erlebter Schrecken und ästhetischem Gelingen zeigt sich auch in vielen Kompositionen, die in den Gefängnissen und Internierungslagern in Nazideutschland und anderswo entstanden sind. Dass sie heute plötzlich hoch im Kurs stehen, ist vor allem ihrem Wert als Zeitzeugnis und dem tragischen Schicksal ihrer Urheber zuzuschreiben. Vertreter hoher künstlerischer Ansprüche würden jedoch von einem Betroffenheitsbonus sprechen, der die Rezeption der Werke begünstige.

Wo bei sogenannt engagierter Musik sowohl der Hintergrund des eigenen Erlebens und Erleidens als auch die kritische Selbstreflexion fehlen, rückt die gefühlte Betroffenheit des Komponisten auf unangenehme Weise ins Zentrum. Die Mechanismen der Betroffenheitsdarstellung werden durchsichtig, und die emotional aufgeplusterte Musik verkommt zu einem Mittel politischer Stimmungsmache, bestens dazu geeignet, eine Atmosphäre von undifferenziertem Gutmenschentum zu erzeugen: Der Gleichgesinnte spürt die Absicht und ist hochgestimmt. Gegen Kritik sind derartige künstlerische Verlautbarungen in der Regel immun, denn was ist dagegen einzuwenden, wenn jemand gegen Krieg und Unterdrückung, für Völkerverständigung und Gleichberechtigung der Geschlechter eintritt? Doch auch auf solche pseudoprogressiven Betroffenheitsrituale trifft zu, was Gottfried Benn einst mit Blick auf das künstlerische Dilettantentum und all die routinierten Nettigkeiten und Korrektheiten, die den Kulturbetrieb am Laufen halten, feststellte: „Kunst ist das Gegenteil von gut gemeint.“

© 2008 Max Nyffeler
Eine gekürzte Version dieses Textes ist erschienen in Neue Zeitschrift für Musik Nr. 4/2008

Themen Inhalt

 

Home