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Rettungsring Crossover
Das harte Brot der Werbung für Klassik-CDs
Hurra! Die letzten Winkel unseres Daseins sind nun endlich dank der
milden Gaben der Werbewirtschaft mit Leben erfüllt, schreibt der Kolumnist
Alexander Nev in Notes, einem Promotionblatt der CD-Firma Indigo
und trägt damit gleich sein Teil zum kritisierten Zustand bei. Aber
vielleicht will er ja gar nicht kritisieren, sondern nur konstatieren.
Das handliche hochformatige Heft ist ohnehin nicht genau einzuordnen, es
ist irgendwo zwischen CD-Reklame und Popkultur-Szenenreport angesiedelt,
mit flott geschriebenen Beiträgen in der Ichform, der neuesten Befindlichkeit
nachspürend und voll mit der Nase im Wind. Das Themenspektrum ist
bunt und weit. Die spinnen, die Finnen, Radikale Grenzerfahrungen, Latin
Music in New York City sind einige der Titel, und auf Seite 32 fixiert
einen Samuel Beckett mit Echsenblick; dazu die Lead-Zeile: "Was fällt
dir als erstes zum Stichwort Samuel Beckett ein? Sicherlich das gleiche
wie mir: Warten auf Godot." Produktewerbung mit Pfiff und ganz im
Trend des aktuellen Kulturmix. Die ultimative Versöhnung von U und
E. Das war einmal ein revolutionärer Traum der Postachtundsechziger.
Heute läßt sich sowas gut verkaufen.
Doch wie schwer haben es die Klassikverkäufer!
Da ist einmal die vielzitierte Würde des Gegenstands, der, wie es
heißt, allzu saloppe Werbemethoden verbiete. Doch dann gibt es die
selbstgemachten Probleme: Das Repertoire, in freiwilliger Selbstkontrolle
von anrüchiger Moderne weitgehend freigehalten, ist fest wie Zement,
seine Highlights sind allgemein bekannt. Das Publikum ist zum geduldigen
Wiederkäuer dressiert, der Begriff "Klassik" zum Anreiz für sozialen
Prestigegewinn degeneriert. Was kann da überhaupt noch verkauft werden?
Die Komponisten, die Interpreten, oder gar die Werke? Oder nur noch Imagetransfer?
Schon die richtigen Bilder für Déjà-vus zu finden ?
denn Werbung läuft heute vor allem über das Auge ? macht Mühe.
Der grimmige Ludwig, der bärtige Johannes und das kleine Wolferl senden
in unseren visuell überreizten Zeiten nur mäßig verkaufsfördende
Signale aus.
Und die vielen schönen Interpreten resp.
-innen? Jahrzehntelang ernährte sich die Klassik-Promotion optisch
von den immergleichen Frackträgern mit Smokingfliege, die mit Vorliebe
vor barocken Fassaden oder schwarzpolierten Konzertflügeln posierten
oder mit großer Geste vor dem Orchester herumfuchtelten. Dieses Langweilerimage
versucht sie zwar nun mit aller Kraft abzuschütteln. Doch das ewige
schulterfreie Abendkleid der Mutter hilft der müden Branche so wenig
auf wie die spröde Erotik von drei, vier Geigengirlies. Eine Firma
wie DGG hat das gemerkt und aus ihrem früheren, mit Edelmusikkritikerprosa
à la Joachim Kaiser ausstaffierten Promoblättchen ein Prominentenmagazin
gemacht, in dem die Beautiful People des Klassik-Betriebs wie Tennisstars
und Fernsehmoderatoren präsentiert werden. So weit wie Notes,
die ein Remix des 80erjahre-Klassikers Kaltes klares Wasser mit
einem schönen nackten Unterleib in der Badewanne bewerben (Achtung
Lesetip: Seite 7!), kann DGG mit Rücksicht auf das große E im
Produktenamen natürlich nicht gehen. Andernorts wird verbissen neue
Lockerheit eingeübt. Die Bläservereinigung X präsentiert
sich im biederen Freizeitlook, das Streichquartett Y stellt sich perspektivisch
gestaffelt auf irgendeine Treppe im Freien und blickt bedeutungsvoll in
die Ferne. Das wirkt das so animierend, wie wenn Stoiber als Dressman für
Magentabletten Reklame machen würde. Muttis Liebling Luciano Pavarotti
ist dagegen ein Kraftwerk an Erotik.
Die Schwierigkeiten der Präsentation
hängen mit den historischen Inhalten zusammen, die eben nur bedingt
zeitgeistkompatibel sind. Auf der Inhaltsebene probiert deshalb die E-Musik-Tonträgerbranche
seit einiger Zeit neue Schleichwege aus, um ihrem betulichen Image zu entkommen
und neue Käuferschichten anzusprechen. Sie hat sich bei den Pop-Kollegen
umgeschaut, und deswegen ist zur Zeit Crossover ist angesagt. Dieses Rezept
haben seinerzeit die drei Tenöre auf dem weiten Feld der canzona zu
einem Riesenerfolg gebracht. Doch inzwischen will das anspruchsvolle urbane
Publikum mehr als kleinbürgerliche Urlauberromantik mit O sole
mio und hohem C. Der heutige kommerzielle Crossover ist ein Mix für
Globetrotter in äußere und innere Welten und enthält Ingredienzien
von Mittelalter über W orld und Jazz bis zu Filmmusik, Soft-Elektronik
und Religion.
Da hat dann sogar die neue Musik oder das,
was dafür gehalten wird, ihren Platz. Zuvorderst ist es Musik von
Komponisten, die in unseren rohen Zeitläuften die metaphysischen Kuschelbedürfnisse
rasch und zuverlässig bedienen. Dazu gehören Arvo Pärt,
der mit seinen Mittelalter-Fakes der religiöse Topseller unter den
E-Musikkomponisten ist, sein Antipode John Tavener, ein englischer Ivan
Rebroff der Kirchenmusik, oder Gija Kancheli, dessen Kaukasus-Nostalgie
auch harte Männer das Weinen lehrt. Aber auch interpretatorisch wird
Mix offeriert, so etwa auf der CD Good Medicine des englischen Smith
Quartets mit Werken von Riley, Newman, Webern, Nancarrow, Pärt und
anderen. Laut Firmenwerbung "hochspannende Klassiker der Moderne, des Minimalismus
und der Avantgarde: Schräge Klänge, heiße Rhythmen, meditative
Versenkung". Inhalte sind wurscht, die Hauptsache ist, daß die Werbung
fetzt.
Unter dem Titel Crossover mischen die CD-Firmen
ihrer Klassikwerbung die entlegensten musikalischen Phänomene bei:
portugiesischen Fado mit Misia, die Imitation von Haustieren mit Karen
Mantler (EMI: "In ihren Stücken finden sich Anklänge an Neoklassik,
an Rock, Pop, Jazz und Ethno"), moderne Schnulzen mit James Galway (BMG-Gattungsetikett:
"Crossover"), Musik von Troubadours und Flagellanten mit der Gruppe Estampie
(Warner Classics: "Estampie sucht die Begegnung und Überschneidung
mit anderen Stilarten, denn dieser 'Crossover' verstärkt die einzigartige
Schönheit und Wucht, die in der Musik des Mittelalters liegt."). Und
immer wieder Filmmusik. Sie wird gegenwärtig mit allen Mitteln gepusht;
offenbar ist die "CD zum Film" auch im Klassiksektor ein Verkaufsargument
geworden. Während der Film-Berlinale lud Warner Classics im Februar
zur Präsentation der neuen CD des chinesischen Filmkomponisten Zhao
Jiping in den Französischen Dom am Gendarmenmarkt ein: "Freuen Sie
sich auf eine spektakuläre Licht-Klang-Präsentation in Anwesenheit
von Zhao Jiping."
Die PR-Materialien der CD-Firmen gleichen
gegenwärtig ohnehin mehr der Werbung von Konzertagenturen. Die Tourneedaten
der Stars nehmen darin oft mehr Platz ein als die eigenen CD-Veröffentlichungen.
Der publicityfördernde Synergieeffekt entsteht dann mit Pressekonferenzen
und "persönlichen Begegnungen", die im Verlauf der Tournee organisiert
werden. Klar, daß solche Roadshows mit Künstlern gemacht werden,
die sich auch von der personality her vermarkten lassen. Das Motto lautet:
Bekannt aus Film, Funk und Fernsehen. Der grummelig-introvertierte Klassikinterpret
alten Stils hat ausgedient.
Die Strategie von Crossover und Event-Marketing
scheint momentan eine reale Marktperspektive zu sein. Was verkauft wird,
ist dabei ziemlich egal, die Hauptsache, es wird in den Bilanzen unter
"Klassik" verbucht. Für die notleidenden Klassikabteilungen in den
Konzernen mag das kurzfristig ein Rettungsanker sein, der sie vor weiterem
Downsizing bewahrt. Eine langfristige Perspektive ist es nicht, nicht unter
wirtschaftlichen und schon gar nicht unter kulturellen Gesichtspunkten.
Im wirtschaftlich-kulturellen Umbruch, den wir gegenwärtig erleben,
sind grundsätzliche Überlegungen gefragt. Doch dafür hat
die Tonträgerindustrie kein Gehör, und diejenigen aus dem kulturellen
Sektor, die dazu fähig wären, kommen in der Regel über kulturkritisches
Lamentieren alten Stils nicht hinaus.
Also wird weitergewurstelt, und es bleibt
bestenfalls die Hoffnung auf die kleinen Labels, deren wirtschaftliche
Stabilität sich leider reziprok zu ihrem Engagement verhält.
Doch wir freuen uns über jeden Ansatz zu kultureller Kompetenz in
den PR-Büros der Konzerne, sei er noch so bescheiden. Zum Beispiel
über die bemühten Superlative, mit denen beim Multi Warner die
grandiose Aufnahme von Messiaens Vingt regards durch Pierre-Laurent
Aimard angezeigt wird: "Er gehört zu den berufenen künstlerischen
Erben des großen Komponisten Olivier Messiaen und zu den bedeutendsten
Interpreten zeitgenössischer Klaviermusik" etc. Soll man hoffen, daß
diese Sprache jemanden bei Warner Classics dazu animiert, sich die CD einmal
anzuhören?
© 2000 by Max Nyffeler
Eine leicht gekürzte Fassung dieses Textes ist erschienen in der
Neuen Musikzeitung (NMZ), Ausgabe 4/2000.
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