Farbklänge und Klangbilder

Die Wittener Tage für neue Kammermusik 2005

Es ist die Farbe, durch die der musikalische Raum ausgemessen und Bewegung suggeriert wird, sagt Hugues Dufourt und liefert mit seiner Komposition „L’Afrique d’après Tiepolo“ den klingenden Beweis: Der komplexe Basisakkord, den das Klavier zu Beginn im mächtigen Forte anschlägt, wird durch die permanent wechselnde Instrumentation zum Träger einer weit ausgreifenden Metamorphose der Farben und Formen, vergleichbar der barocken Illusion in Tiepolos Gemälde aus der Würzburger Residenz. Ein raffiniertes Spiel mit Klanggewichten, Farbqualitäten und Helligkeitswerten, das den analytischen Ansatz der Spektralisten weiterführt, zu denen der Komponist einst gehörte und Erinnerungen an die Techniken des späten Debussy und an Schönbergs Klangfarbenstück aus op. 16 weckt.

Dufourt war bei den diesjährigen Wittener Tagen für neue Kammermusik nicht der einzige, der Anregungen aus der bildenden Kunst  verarbeitet hat. Der Italiener Ivan Fedele griff – im gleichen Konzert mit dem hoch konzentriert musizierenden Ensemble Recherche – auf die geometrischen Trugbilder von Maurits Escher zurück, Jonathan Harvey in dem vom Ensemble Intercontemporain gespielten „Death of Light/Light of Death“ gar auf die Kreuzigungsszene aus Grünewalds Isenheimer Altar.

Neue Themenfelder

Fünf zentrale Gestalten auf dem Altarbild inspirierten den 66-jährigen Briten zu einer Folge instrumentaler Charakterstücke von subtiler und zugleich äußerst prägnanter Faktur. Hier und bei der Uraufführung seines energiegeladenen Streichtrios, das auf waghalsige Weise profane Elemente mit der Thematik der österlichen Auferstehung konfrontiert, begegnete man einem Komponisten, dessen Werk in seiner Perspektivenvielfalt auf dem Kontinent noch zu entdecken ist.

Das vom Westdeutschen Rundfunk Köln programmierte Wittener Festival, seit über drei Jahrzehnten ein Ort der Information über aktuelle Tendenzen im Bereich der Kammer- und Ensemblemusik, hat sich diesmal in einer Weise neuen inhaltlichen Bezügen geöffnet, die noch vor wenigen Jahren  undenkbar gewesen wäre. Zu beobachten war das auch bei der jungen Generation, etwa beim französischen Lachenmann-Schüler Mark André: Er verbindet in „durch“, einem mit harter Präzision gezeichneten Stück  für Sax, Schlagzeug und Klavier, seine in den leisen Registern schmerzhaft zugespitzten Geräuschklänge mit einer biblischen Glaubensmetapher.

Anklänge an Transzendenz auch bei Younghi Pagh-Paan: Ihr Ensemblestück „Wundgeträumt“, Teil ihrer im Entstehen begriffenen Ödipus-Oper, ist eine Musik von vitaler Kraft und dunkel leuchtender Expressivität, die im buddhistischen Sinn die Einheit von Tod und Leben beschwört. Im Programmheft verweist sie auf George Steiners Gedanken von der materiell-geistigen Doppelexistenz des Menschen.

Sind das Symptome einer unmerklichen Umorientierung der Avantgarde, hin zu einem Komponieren, das sich wieder vermehrt der Voraussetzungen des eigenen Tuns vergewissert? Das pure Materialexperiment scheint sich gegenwärtig etwas erschöpft zu haben; Anstösse gingen von solchen Werken, die in Witten nach wie vor  programmiert werden, jedenfalls kaum aus. Eher noch von den diskreten, zwischen Installation, Performance und Konzertform angesiedelten Miniaturen eines Manos Tsangaris. Sie nisteten sich in der Dramaturgie des Gesamtprogramms gleichsam inkognito ein und präsentierten sich als reizvolle, manchmal auch eher private Produkte einer gekonnten Nischenästhetik.

Dagegen stand in Witten die Tendenz zur grossen, raumgreifenden Geste, oft inspiriert durch visuelle oder literarische Eindrücke. Das zeigte sich auch in Stücken, die sich auf Materialprozesse im engeren Sinn beschränken, wie in „Haiku“ für Bariton und Ensemble von Georg Friedrich Haas, in dem ein japanischer Zweizeiler alle Aggregatszustände vom Flüstern bis zum schreckhaft-expressiven Gesang durchläuft, oder im „Ouroboros“-Zyklus des jungen Litauers Vykintas Baltakas mit seinen unruhig flackernden Klangbändern.

Klangmagier Sciarrino

Von aktuellen Auseinandersetzungen wie eh und je unbeeindruckt zeigte sich Salvatore Sciarrino in „Quaderno di strada“. Der mittlerweile 58-jährige Komponist hat seine schon immer extrem verfeinerte Handschrift in den letzten Jahren weiter ausdifferenziert. In dem fast einstündigen Vokalzyklus, von Otto Katzamaier und dem Klangforum Wien unter Johannes Kalitzke suggestiv zum Erklingen gebracht, verschränkt sich konzentrierte Arbeit am Detail mit der Expansion im Raum. Das Resultat ist eine faszinierende Equilibristik zwischen Musik und Sprache, Fragment und Grossform, Immanenz des Klangs und seinem Verschwinden. In der Wahrnehmung graben sich die ephemeren Klangzeichen tief ein. Der Text wird zum musikalischer Laut und bleibt zugleich Inspirationsquelle, die weite Dimensionen aufreisst. Von L’art pour l’art ist derlei Nervenkunst weit entfernt.

© 2005 Max Nyffeler

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(Datum/2001)

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