Warschauer Herbst auf Expansionskurs

Ein Jahr vor seinem 50-jährigen Jubiläum hat das Festival an Profil gewonnen

Offenheit war immer das Markenzeichen des 1956 gegründeten Warschauer Herbsts. Bis 1990 war das Festival das einzige Schaufenster der internationalen neuen Musik im gesamten Ostblock. Danach kam es in die Krise, doch heute, ein Jahr vor seinem 50-jährigen Jubiläum, steht es besser da als je. Die ästhetische Flaute der neunziger Jahre ist überwunden, und trotz knapper Subventionen gelingt es dem Programmkomitee unter der Leitung von Tadeusz Wielecki immer wieder auf wundersame Weise, die nötigen Mittel auch für Großprojekte aufzutreiben. Neben vielen kleinen Veranstaltungen gingen nun in neun Tagen sechs große Sinfoniekonzerte über die Bühne. Amériques von Edgard Varèse wurde in der seltenen Urfassung mit weit über hundert Musikern und einem Fernorchester gespielt, zum Achtzigsten von Pierre Boulez erklangen die groß besetzten Notations nebst den technisch aufwendigen Répons, und im Nationaltheater gastierte das Ensemble Modern mit Heiner Goebbels' opulenter Oper Landschaft mit entfernten  Verwandten.

Ästhetische Toleranz und Internationalität werden groß geschrieben. Bei den Gastspielen von Ensembles und Solisten aus aller Welt kommt es zu überraschenden Kooperationen. So trat etwa eine Formation aus Seattle mit russischer Musik auf, ein koreanisches Ensemble mit Stücken aus Polen, Aserbaidschan und Vietnam; das Berliner Kairos Quartett präsentierte u.a. chinesische und malaysische Komponisten, die Warschauer Philharmonie und Mayumi Miyata (Shô) widmeten sich der japanischen Klangpoesie von Toshio Hosokawas Utsurohi-Nagi. Die Warschauer Programmdramaturgie will in der weltweiten Entwicklung der neuen Musik Gemeinsamkeiten und Querverbindungen aufspüren, ohne in das Fahrwasser einer gesichtslosen Globalisierungs-Moderne zu geraten.

Die Säle sind meist voll, das Durchschnittalter der Besucher ist erstaunlich niedrig. Das Festival erschließt sich die Off-Szene, indem es ehemalige Fabriken in den Außenquartieren aufsucht, die zu modernen Kulturzentren umgebaut worden sind. Spektakulärer Veranstaltungsort eines Orchesterkonzerts war die riesige Halle eines Labors für Hochspannungsexperimente im Industriegürtel am Stadtrand. Musiker und Publikum saßen zwischen haushohen Elektroinstallationen, das live übertragende Fernsehen produzierte dazu eine Lightshow.

Schwerpunkte in diesem Jahr galten der Musik aus Fernost und Russland, aber auch aus Weißrussland und der Ukraine. Diese Länder, mit denen wir gemeinhin nur Begriffe wie Visa-Affäre und korrupte Diktatur, nicht aber Vorstellungen von neuer Musik assoziieren, sind Polens unmittelbare Nachbarn; ein Blick über den Grenzzaun ist aus Warschauer Sicht somit selbstverständlich. International bekannt ist der Ukrainer Valentin Silvestrov, dessen abendfüllendes Requiem für Larissa durch polnische Solisten, Chor und Orchester unter Marek Mos eine beeindruckende Aufführung erlebte. Demgegenüber stieß man im Konzert des Ensembles "Klassik-Avantgarde" aus Minsk auf weitgehend unbekannte Namen. Ein eigenwilliger Beitrag stammte hier von Larissa Simakovitch. Terrestrial – Celestial heißt ihr performance-ähnliches Stück, in dem zwei junge Sängerinnen zur Instrumentalbegleitung folkloristisch-minimalistische Arabesken produzieren. Was auf Außenstehende bestenfalls "interessant" wirkt, besitzt in Weißrussland, wo nationale kulturelle Traditionen vom Lukaschenko-Regime aus politischen Gründen ins Getto abgedrängt werden, vermutlich einen leichten Stich ins Subversive.

Nachbarschaftspflege betreibt der Warschauer Herbst auch nach Westen: Seit einigen Jahren treffen sich während des Festivals Vertreter des Deutschen Musikrats und der Landesmusikräte mit Repräsentanten des polnischen Musiklebens und beraten über eine verstärkte musikalische Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Dieses polnisch-deutsche Forum bildet einen positiven Kontrapunkt zu Störmanövern wie dem geplanten Vertriebenenzentrum in Berlin, und man kann nur hoffen, dass es nicht zu einer Reparaturwerkstatt für die gegenseitigen Beziehungen verkommt. Mit Erfolg auf den Weg gebracht worden sind bereits halbjährige Volontariate junger polnischer Musikjournalisten in deutschen Redaktionen sowie ein deutsch-polnisches Nachwuchsensemble für neue Musik unter der Leitung von Rüdiger Bohn. Es hatte seine vielbeachtete Premiere vor zwei Jahren beim Warschauer Herbst. Inzwischen gehören seine Konzerte nicht nur in Warschau fest zum Programm, sondern auch beim Ultraschall-Festival in Berlin.

Die Ensemble-Werkstatt ist ein Schritt zur angestrebten Gründung eines polnischen Ensembles für neue Musik, das in Zukunft beim Warschauer Herbst wohl eine wichtige Funktion übernehmen könnte. 2005 wurde in diesem Bereich nun auch eine Kooperation mit dem Collegium Novum Zürich ins Leben gerufen, das unter der Leitung von Peter Hirsch zwei Konzerte in Warschau gab. Zusammen mit jungen polnischen Musikern studierte es Teile aus Heinz Holligers Jahreszeiten-Zyklus ein und widmete außerdem Klaus Huber einen Schwerpunkt.

Zur polnischen Erstaufführung brachte das Ensemble auch die Komposition Vier Figuren von Bettina Skrzypczak für drei im Raum verteilte Instrumentalgruppen. Die in der Schweiz lebende polnische Komponistin wird im nächsten Jahr, wenn das Festival sein 50-jähriges Jubiläum feiert, an prominenter Stelle wieder mit von der Partie sein; sie wurde mit einem Orchesterwerk für das Schlusskonzert in der Warschauer Philharmonie beauftragt.

© Max Nyffeler

News: Übersicht

(November 2005)

Home