"Das Beben" von Awet Terterjan in München uraufgeführtMit leisen, mystischen Glockenschlägen vom Tonband, die langsam in ruhige, kaum bewegte Streicherflächen übergehen, hebt das Stück an, und mit einem etwa zehnminütigen Decrescendo des Orchesters, das wieder in Glockenklänge und schließlich in ein leises, wasserähnliches Rauschen mündet, verebbt es nach zweieinhalb Stunden. Das Bühnenwerk "Das Beben" des Armeniers Awet Terterjan ist ein Werk der langen Dauern und breit dahin fliessenden Zeit. Aus ihr entfaltet sich ein subtiler Raumklang, in dem Nähe und Ferne magisch verschmelzen und der Darsteller, Musiker und Publikum zu einer Art kultischer Gemeinschaft vereint. Das Bühnenwerk des 1994 im Alter von fünfundsechzig Jahren verstorbenen Komponisten wurde nun posthum am Staatstheater am Gärtnerplatz in München uraufgeführt auf den Tag zeitgleich mit der Aufführung seiner fünften Sinfonie in Berlin. Das vom Komponisten und Gerta Stecher in deutscher Sprache verfasste Libretto fusst auf Kleists Novelle "Das Erdbeben in Chili" und komprimiert das Geschehen auf die drei entscheidenden Handlungsmomente: Die vom Erdbeben unterbrochene Hinrichtung der Sünderin, den Moment utopischer Menschlichkeit und Liebe am Tag danach und die Wiederherstellung gesellschaftlicher Gewaltstrukturen mit der Ermordung des Liebespaars durch die fanatisierte Menge. Der elementaren, extrem verknappten Sprache des Librettos entspricht die vokale Gestik. Bei den Solisten ist sie eine auf formelhafte, syllabische Melodik reduziert, in deren kunstvoller Einfachheit Einflüsse der armenischen Musiktradition anklingen. In den gross besetzten, von Hans-Joachim Willrich und Christian Jeub hervorragend einstudierten Chören erstarrt diese Gestik immer wieder zur rituellen Wiederholung von reinen Vokalisen. Die organische Einheit von Sprache und Gesangsduktus hat für sich schon eine suggestive Wirkung, zumal sie in einen Orchesterklang eingebettet ist, dessen zeitlupenhafte Prozessualität eine ungeheure Spannung zu schaffen vermag. Doch die eigentliche Sensation dieser Aufführung ist der Raumklang. Der Zuschauer fühlt sich in ihn regelrecht hineingesogen. Terterjans Idee, Chöre und Musiker im Zuschauerraum zu verteilen, wurde vom Regisseur Claus Guth und seinem Bühnenbildner Christian Schmidt konsequent umgesetzt. Die Bühne ist zur Zuschauertribüne umgebaut, das Parkett wird zur Spielfläche, wo sich auf vier kreuzweise angeordneten Podien die Handlung abspielt. Darum herum sind Orchester und Chor aufgebaut, einzelne Chorgruppen sind auf den Rängen unter das Publikum gemischt. Das schafft auch magische Fernwirkungen wie das Solo des Hirten (Barbara Schmidt-Gaden) aus der Höhe der Hinterbühne ein Brangäne-Gesang der besonderen Art, der das Liebesduett der beiden Hauptfiguren (Ruth Ingeborg Ohlmann und Wolfgang Schwaninger) subtil kommentiert. Diese Szene und die darauf folgende des kollektiven Mords sind von der Inszenierung her am besten gelungen. Ansonsten machte sich über weite Strecken eine störende Inkongruenz in der Zeitvorstellung von Komponist und Regisseur bemerkbar. Dieser verfiel angesichts der langen Klangstrecken und der zeitlupenhaften Handlung offenbar einem horror vacui, sonst hätte er wohl nicht eine pantomimische Maskengestalt erfunden, die mit allerlei Tänzchen und narrativem Krimskrams aufwartete, um die Handlung zu kommentieren. Die gleiche Idee hatte Guth schon bei Klaus Hubers Mandelstam-Oper "Schwarzerde" in Basel - hier war es eine tanzende Stalinmaske -, und schon hier funktionierte sie nicht. Mehr Verständnis für das orientalische Zeitempfinden Terterjans zeigte der Dirigent Ekkehard Klemm, der die riesigen Bögen mit unerschütterlicher Ruhe durchhielt und massgeblich zum Erfolg der Uraufführung beitrug. Langanhaltender Applaus für alle Ausführenden und für den toten Komponisten, dessen Partitur Klemm demonstrativ mit einem Blumenstrauss aufs Bühnenpodest legte. © Max Nyffeler, 2003 Eine leicht veränderte Version diesesw Artikels ist am 18.3.2003 in der NZZ erschienen.
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